Seit dem 9. Juni ist das sonst eher ruhige Kassel wieder das vibrierende
Zentrum der internationalen zeitgenössischen Kunst. Die 13. Documenta
versammelt Kunstschaffende aus 55 Ländern, die den künstlerischen
Weltmaßstab unserer Zeit neu justieren werden.
“Zusammenbruch und Wiederaufbau” ist das Motto der Documenta
13, hinter der Präsentation tatsächlicher künstlerischer Zeugnisse von
Zusammenbruch und Wiederaufbau geht es aber um viel mehr.
Denn
wenn die künstlerische Leiterin Christov-Bakargiev erklärt, dass es “Kunst
sein mag oder nicht”, was die Teilnehmer ausstellen, will sie damit sagen,
dass die Grenze zwischen dem, was Kunst ist und was nicht, in unseren
Tagen immer unwichtiger wird.
Damit geht es wieder einmal um das Verhältnis zwischen Kunst und
Gesellschaft und um den Aufruf, sich über dieses Verhältnis Gedanken zu
machen, der seit 1955 alle 5 Jahre aus Kassel zu hören ist.
Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der Documenta,
verfolgt nach eigener Aussage auf der Documenta 13 ein Kein-Konzept-
Konzept, das Raum und Zeit schafft. Denn Zeit und Raum werden
in unserer globalisierten Welt anders wahrgenommen als bisher,
gewohnte Betrachtungsweisen werden z. B. durch Nutzung des Internets
aufgebrochen und neu gestaltet.
Auch die zeitgenössischen Künstler nehmen die Welt anders war, deshalb widmet sich die Documenta der künstlerischen Forschung und allen Formen von Kraft und Einbildungskraft, die künstlerisches Schaffen begleiten.
Die Documenta und die Welt
Dieses weit offene Konzept drückt sich in den Orten aus, an denen die
13. Documenta stattfindet: Ebenso wenig, wie die Documenta 13 in den
Gedanken beschränkt ist, ist der Raum des Geschehens beschränkt. So
werden in Kassel die traditionellen Hauptorte genutzt, das Fridericianum,
die documenta-Halle und die Neue Galerie, aber bereits hier pflanzt sich
die Documenta 13 in die Stadt.
An ganz ungewohnten Plätzen findet
Kunst statt: An solchen, die der Natur- und Technikgeschichte dienen, wie
Ottoneum und Orangerie, oder mitten in der Grünfläche der Karlsaue, in
Industriebauten hinter dem früheren Hauptbahnhof und in vielen anderen
zivilen Räumen.
Die Documenta 13 findet aber auch in Kabul (Afghanistan), Cairo,
Alexandria (Ägypten) und Banff (Kanada) statt, sie will “einen Polylog
mit anderen Orten” herstellen. Mit dem gegebenen Motto wurde neben
Kassel Kabul als spektakulärster Spielort ausgewählt, hier wurde die
Kunstszene durch das Kriegsgeschehen so gut wie ausgelöscht.
In Kabul findet eine Ausstellung statt, begleitet durch eine Reihe von Workshops,
Seminaren und Vorträgen in Kabul und der afghanischen Provinz Bamiyan.
Thema und Ziel sind größtenteils in Afghanistan produzierte Werke rund
um Zusammenbruch und Wiederaufbau und die Förderung des Dialoges
zwischen Künstlern und Publikum.
In Ägypten findet im Rahmen der Documenta ein Seminar statt, als
zweiteilige Veranstaltungsreihe und Austauschprogramm zwischen Kassel,
Kairo und Alexandria. Der entlegenste Ort der Documenta 13 liegt in
Kanada: In der Stadt Banff treffen Teilnehmer der Documenta von 2. bis
15. August Kulturschaffende aus aller Welt, um gemeinsam zu forschen
und sich auszutauschen.
Kunst und mehr
Die Teilnehmerliste einer solch unbeschränkten Documenta führt nicht nur
Künstler auf: Unter den fast 300 Namen sind sich Agrarwissenschaftler
und Aktivisten, Computeringenieure und Erfinder, Genetiker und Musiker,
Nicht-Kunst-Künstler und Pfarrer, Unterbewusstseins-Analytiker und
Wissenschaftler (und 77 weitere Berufsgruppen, die sich mit Kunst
beschäftigen).
Gut die Hälfte dieser Liste besteht jedoch aus Künstlern,
und nur 8 der rund 175 Künstler sind auf der aktuellen Liste der
bedeutendsten Künstler der Welt zu finden, die nach Häufigkeit der
öffentlichen Präsenz gebildet wird. Hier ist also wirklich die künstlerische
Avantgarde versammelt.
Das Konzept macht neugierig, wie die ersten Besucheranstürme
zeigen. Wer sich nach mehreren Besuchen an seinen Lieblingsstücken
sattgesehen hat, kann die Betrachtung des aktuellen Zustands der
zeitgenössischen Kunst anhand der Schriften der ausstellungsbegleitenden
Publikationsreihe “100 Notizen – 100 Gedanken” noch lange fortsetzen.
Wie Carolyn Christov-Bakargiev in ihrem “Brief an einen Freund” (Nr.
3 der 100 Publikationen) das Konzept der Ausstellung bereits umrissen
hat: “Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend,
verdreht und dauerte eine lange Zeit”, durchaus auch mehr als die 100
Tage, in denen die Documenta 13 stattfindet.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse