Am Samstag, dem 9. Juni 2012 startete die documenta 13, das war einen Tag nach dem Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft. Bei diesem Eröffnungsspiel waren auf der Fanmeile einer einzigen deutschen Stadt 400.000 Besucher, in ganz Deutschland werden zweistellige Millionenzahlen zum Public Viewing unterwegs gewesen sein.
Sicher keine zwingende Gegenüberstellung, aber ein Vergleich mit den Besucherzahlen der weltweit bedeutendsten Kunstinstitution neben der Biennale von Venedig ist dennoch nicht uninteressant.
Bei der Eröffnung der documenta waren “Tausende von Besuchern” aus der ganzen Welt in Kassel, das klingt eher nach einer vierstelligen als nach einer sechsstelligen Zahl. Und genau so ist es auch: Insgesamt werden nach Schätzungen der Statistiker etwa 750.000 Menschen die documenta besuchen, davon knapp 550.000 aus Deutschland, die documenta läuft 100 Tage, das sind pro Tag also rund 7.500 Besucher, davon rund 5.500 aus dem Veranstalterland.
5.500 Besucher? So viele, wie in das Schützenfestzelt auf dem Münchner Oktoberfest passen (das Wochen vorher ausgebucht ist)? Wenn man dann noch weiß, dass fast 60 Prozent der Besucher Stammbesucher sind, reduzieren sich die kunstinteressierten Neulinge unter den Besuchern auf gerade so viele Menschen, wie in eine ziemlich kleine Disco oder in eine ziemlich große Kneipe passen. Sehr viel Interesse scheinen die deutschen Bürger diesem “Zentrum der Kunstwelt” also nicht entgegenzubringen.
Woran liegt das?
Zu hohe Eintrittspreise? Wohl eher nicht, für 20,- € kann der ganz normale Besucher sich 10 Stunden auf der documenta aufhalten, Schüler, Studenten und andere Personenkreise mit Anspruch auf ermäßigten Eintritt zahlen 14,- €, Familien mit bis zu drei Kindern 50,- € (was passiert mit dem vierten Kind?). Dafür gibt es aber immerhin einen ganzen Tag Kunst, jedes Popkonzert ist viel kürzer und um ein Vielfaches teurer.
Zu wenig Künstler?
Sicher auch nicht, rund 175 Künstler aus 55 verschiedenen Staaten stellen auf der documenta 13 aus. Nur 8 davon sind auf der aktuellen “Weltrangliste der Kunst” zu finden (von denen zwei allerdings nicht mehr unter uns weilen), die documenta wird also ihrem Postulat gerecht, dem Besucher einen repräsentativen Überblick über das zu verschaffen, was die globale Kunst und die Künstler der Zeit bewegt. Wenn diverse Kritiker der documenta das ganz anders sehen, sollte dieser Umstand einem Besuch der documenta sicher nicht entgegenstehen, sondern die Diskussion und das Interesse eher noch anfachen.
Doch wem will die documenta diese Künstler eigentlich vorstellen? Bekommt der Kunstfreund, der nicht zu den Insidern des Kunstbetriebs gehört, im Vorfeld Informationen über diese avantgardistischen Künstler, die ihn neugierig machen würden? Das eher nicht: Wenn sich der künstlerische Laie auf der Website der documenta einen Überblick über die rund 175 teilnehmenden Künstler verschaffen möchte, wird ihm dies nicht gerade leicht gemacht.
Erst muss er die Künstler finden, wozu er wahrscheinlich auf der Startseite der Website den Button “Teilnehmer” betätigen wird (“Künstler” gibt es nicht). Es erscheint eine Liste von 87 Begriffen, meist Berufe, die fortlaufend geschrieben und durch Kommata verbunden sind, irgendwo in der Mitte sind die Künstler, sogar zweimal, einmal als “Künstler”, einmal als “Künstler/Künstlerin”. Unter “Künstler” tauchen rund 20 Namen auf, niemand weiß, warum. Unter ““Künstler/Künstlerin” finden sich dann die restlichen Künstler (die unter Künstler genannten sind hier teilweise dabei, teilweise nicht), in einer alphabetischen Liste.
Klickt der künstlerische Laie dann auf einen der Namen, z. B. auf den von Anna Boghiguian, erfährt er Folgendes:
“Anna Boghiguian
Künstler/Künstlerin
venue: Fridericianum
Anna Boghiguian, geboren 1946 in Kairo, hat in Montreal und Toronto gelebt und ist zurzeit zwischen Kairo, Indien und Europa zu Hause. Sie hat Kunst und Musik an der Concordia University, Montreal, und Politikwissenschaften und Wirtschaft an der American University in Kairo studiert. Sie hat an der Sharjah Biennial (2011) und der Istanbul Biennial (2009) teilgenommen. Ihre Künstlerbücher wurden bei Fata Morgana und der American University Press, Kairo, verlegt.”
Über das künstlerische Schaffen von Anna Boghiguian weiß er damit leider immer noch nichts, und diese Art der Informationsvermittlung hat noch einen ganz anderen Haken: Es gibt keine fortlaufende Darstellung, jeder Künstler müsste einzeln angeklickt werden. 175 Mal hin und zurück klicken, und hinterher hat der künstlerische Laie keine blasse Ahnung, was für eine Art von Kunst all diese Künstler eigentlich machen.
Eine Vorstellung der Künstler ist zuviel verlangt von einer Website über eine Kunstausstellung, dafür gibt es doch einen Katalog? Ja, sicher, es gibt sogar 3 Kataloge.
Der Katalog 1 von 3 nennt sich “Das Buch der Bücher”. Er hat um 750 Seiten und kostet etwa 68,- €, hier “werden Aufsätze, künstlerische Projekte und die Kernthemen der dOCUMENTA (13) zusammengeführt, die gesamte Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken wird reproduziert und ergänzt durch Essays von der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev sowie von Chus Martínez, der Leiterin der Abteilung und Mitglied der Kerngruppe.”
Katalog 2 von 3 ist “Das Logbuch”, mit etwa 450 Seiten für etwa 30 €, hier hat Carolyn Christov-Bakargiev vor allem ihre Arbeit im Vorfeld der documenta seit 2010 dokumentiert.
Katalog 3 von 3 nennt sich “Das Begleitbuch”, und hier geht es in etwa 350 Seiten mit ca. 250 Abbildungen für ca. 24,- € endlich um die Künstler: “Der Kurzführer ist ganz den Künstlern gewidmet und stellt alle Beteiligten in einem illustrierten Beitrag vor, der jeweils von einem der Agenten der dOCUMENTA (13) in engem Austausch mit den Künstlern selbst verfasst wurde. … Ausgestattet mit einem Ausstellungsplan und kurzen Beschreibungen zu allen Ausstellungsorten und Projekten, ist der Kurzführer ein unverzichtbares Werkzeug für alle Besucher der dOCUMENTA (13) sowie für all diejenigen, die die Ausstellung nicht selbst sehen können.”
Sicher kein übertriebener Preis für ein Werk dieses Umfangs, aber leider als einzige Information über den “künstlerischen Inhalt” dieser documenta durchaus für viele Menschen ein Grund, ihr Kunstinteresse eher woanders auszuleben. Zumal es einem Teil der Menschen in Lebenssituationen, die die “stille Kraft der Kunst, die uns verwandeln möge” gut gebrauchen könnten, leider nicht möglich gemacht wird, die documenta zu besuchen: Die documenta 13 ist nicht barrierefrei gestaltet.
Außerdem ist es nicht unbedingt zu viel verlangt, wenn eine Website, die eine Kunstausstellung vorstellt, den neugierigen künftigen Besucher kurz mit den Künstlern und ihren Werken bekannt macht. Andere Ausstellungsmacher schaffen das durchaus, siehe z. B. die Website der “Großen Kunstausstellung NRW Düsseldorf 2012”, auf der eine Seite alle Künstler mit jeweils einem Werk vorstellt, das auch noch vergrößert werden kann: www.diegrosse.de/teilnehmende-kuenstler.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse