Wie im Artikel „Harun Farocki: Der letztlich triumphale Aufstieg des scharfen Blicks“ gezeigt wird, gehört Harun Farocki schon seit langem zu unseren bekannteren Filmemachern.
Allerdings zu unseren bekannteren kritischen Filmemachern, niemals Mainstream, was neugierig nach dem Grund fragen lässt, warum Harun Farocki seit 2005 auf der Weltrangliste der Kunst um über 300 Plätze bis (Januar 2016) auf Platz 23 vorgeschnellt ist. Das hat seinen Grund, denn:
Harun Farocki lehrt uns unsere Welt
Harun Farocki wird gerne als Essayfilmer bezeichnet, womit die Bewunderer seiner dokumentarischen Abhandlungen des aktuellen Lebens, unserer Wissenschaft und unserer Kultur, unserer Regierung und unserer Gesellschaft, auch unbedingt recht haben.
Und doch ist das ein bisschen wenig: Sicher sind Farockis Filme geistreich, aber ob es wirklich Essays sind (geistreiche Abhandlungen, in denen wissenschaftliche, kulturelle und/oder gesellschaftliche Phänomene thematisiert und analysiert werden); bzw. ob es nur Essays sind, darf bezweifelt werden.
Farockis Filme beleuchten unmittelbar unser heutiges Leben, seine Themen betreffen uns alle, und er schafft es ganz nebenbei, in scheinbar ruhigem Tempo so manchen Wahnsinn bloßzustellen, der dieses heutige Leben auszeichnet.
Standen am Anfang, 1969, noch „Die Worte des Vorsitzenden“ (Mao Tse Tung), war er 1970 mit „Die Teilung aller Tage“ bereits beim fremdbestimmten Arbeitstier angekommen, 1971 widmet er sich in „Einer Sache, die sich versteht“ dem kapitalistischen Gebrauchswert von Ware und Arbeitskraft.
Mit „Etwas wird sichtbar“ blitzt 1981 das erste Kriegsthema auf, 1987 wird uns in der „Schulung“ bereits beigebracht, wie der leitende Angestellte im Seminar in „Unsinn faseln“ geschult wird; und 1990, in „Leben: BRD“ zeigt uns Farocki im vollen Überblick die absurde Welt der Risiko- (No-Risiko-) Gesellschaft.
1994 nimmt Farocki in der „Umschulung“ wiederum die Erfolgsrezepte einer „Verkaufsgesellschaft“ aufs Korn, mit direkten Hinweisen auf die enthaltene Schulung in Trägheit des Gehirns: „Wenn sie hier weggehen, wird sich ihr Wortschatz entschieden verkleinert haben.“
1996 zeigt Farocki das gleiche öde Spielchen, nur geht es in der „Bewerbung“ um die Abgehängten, um die Bewerbungsschulung Langzeitarbeitsloser, deren Sprachabsurditäten die gleiche Hoffnungslosigkeit vermitteln wie „Der Auftritt“ (1996) der Protagonisten aus der Werbebranche.
1998 führt uns Farocki in „Worte und Spiele“ in die Produktionsanlagen der gerade anlaufenden täglichen Talk- und Game-Shows, Verdummungsmaschinen, die irgendwo am Rand einer Großstadt liegen und ihr Geld damit verdienen, dass irgendein Alltagsmensch in „seinen 15 Minuten Berühmtheit“ von einem keinem Menschen bekannten Promi gedemütigt wird.
2012 kommt die Konsum-Sprache noch ein wenig absurder, in „Ein neues Produkt“ wedelt sich der Kreateur mit Austern und Perlen in die sprachliche Diaspora, eher Schüler an der Tafel als gewiefter Produktmanager.
Im Artikel „Harun Farocki: Leiser, triumphaler Aufstieg des scharfen Blicks“ werden viele und viel ernstere Filme Farockis vorgestellt, er hat auch Krieg und Waffen, Staat und Militär und tausende andere Dinge gesehen und behandelt. Sein Spätwerk, das Museen, Kunsthäusern und Galerien füllt, füllt auch lange theoretische Betrachtungen, unten wird Ihnen der direkte Zugang gewiesen.
Aber gerade Harun Farockis Filme über den Alltag, die Arbeit, die kapitalistischen Verhältnisse sind für uns alle wichtig. Vor allem die, die den Veränderungen in den Spielregeln unserer Gesellschaft aktuell eher entsetzt zusehen, sollten sich ein paar Harun-Farocki-Filme reinziehen – es ist immer wieder beeindruckend, wie Farocki „den ganzen Mist“ schon im Film festgehalten hat, während heute als psychotisch und größenwahnsinnig eingeschätzte Manager sich noch in uneingeschränkter Bewunderung der Gesellschaft sonnten und der Durchschnittsbürger noch keine blasse Ahnung davon hatte, wie die Mechanismen funktionieren, mit denen sich unsere Gesellschaft in nur etwa einem Jahrzehnt selbst zurichten und selbst hinrichten sollte.
Zur Zeit merken das sehr viele von uns, und die Widerstände werden in alle fehlentwickelten Richtungen größer. Es ist unbedingt ein Grund zur Trauer, dass Harun Farocki nicht mehr da ist, um uns den wachen Blick zu lehren.
Harun Farocki als öffentliche Person: Preise und Auszeichnungen, Lehrtätigkeiten, Nachwirkungen
Harun Farocki hat mehrfach den „Preis der deutschen Filmkritik“ erhalten, eine vom Verband der deutschen Filmkritik verliehene Auszeichnung für die besten deutschen Filme, die von Filmkritikern vergeben wird:
- 1969 für „Nicht löschbares Feuer“
- 1989 für „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“
- 1991 für „Leben – BRD“
- 2010 für „Zum Vergleich“
- 2003 wurde Farockis Film „Erkennen und verfolgen“ auf dem Internationales Filmfestival von Locarno auszeichnet
Persönliche Auszeichnungen:
- 1995 Adolf-Grimme-Preis für Die Umschulung
- 2002 Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum
- 2006 Herbert-Quandt-Medien-Preis für den Dokumentarfilm „Nicht ohne Risiko“
- 2009 ARTE-Dokumentarfilmpreis für seinen Film „Zum Vergleich“
- 2009 Wilhelm-Loth-Preis 2009
- 2012 Sonderpreis zum Roswitha Haftmann-Preis
- 2015 Special mention bei der Biennale di Venezia 2015
Lehrtätigkeiten:
- In den Jahren 1993 bis 1999 war Farocki Dozent an der University of California, Berkeley (Kalifornien),
- Ab dem Jahr 2000 war er als Dozent an der dffb und der Universität der Künste Berlin tätig
- Seit 2004 unterrichtete er an der Akademie der bildenden Künste Wien
Farockis Arbeit ist im Kreis der Filmschaffenden unmittelbar präsent. Von 2011 bis zu seinem Tod im Juli 2014 hat er mit Antje Ehmann am Projekt „Eine Einstellung zur Arbeit“ gearbeitet, vom 26.02.2015 bis 06.04.2015 fand im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Veranstaltung „Eine Einstellung zur Arbeit | Anleitungen zum Leben: Harun Farocki über Arbeit und Spiel“ statt, mit Ausstellung, Konferenz, Workshops.
Beiträge über die Präsentationen auf der Konferenz vom Freitag, dem 27.02.2015:
#1
- „Film, Architecture, Movement“, Alexander Alberro, Kunstkritiker und -historiker, Columbia University, New York;
- „Two or Three Things I know about Harun Farocki“, Nora M. Alter, Film- und Medienwissenschaftlerin, Temple University, Philadelphia;
- „Pourquoi Harun“, Raymond Bellour, Film- und Literaturwissenschaftler, Centre national de la recherche scientifique, Paris;
- „Rhetorik eines unwissenden Lehrmeisters“, Christa Blümlinger, Filmwissenschaftlerin, Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis
#2
- „The Trouble with Palms“, Filipa César, Künstlerin, Filmemacherin, Berlin;
- „1978 – 1972 – 1969“, Diedrich Diederichsen, Kulturwissenschaftler, Journalist, Berlin;
- „Krieg der Welten“, Klaus Wyborny, Filmemacher, Schauspieler, Hamburg;
- „Map – Matching“, Anselm Franke, Kurator, Autor, Haus der Kulturen der Welt, Berlin
#3
- „Ein Schiff mit Zähnen, das ist zum Gähnen.“, Harun Farockis Kurzdokumentarfilme für Kinder, Detlef Gericke-Schönhagen, Leiter Goethe Institut, Boston / Vilnius;
- „Mein Einzelarbeitsplatz“, Zu Harun Farockis Theorie der Produktion, Tom Holert, Kunsthistoriker, Publizist, Künstler, Berlin;
- „Explode Explosion Eye“, Hito Steyerl, Autorin, Künstlerin, Berlin
#4
- „Arbeit an der Natur: Der Wald als Dunkelkammer, die Lichtung als Bühne“, Christine Lang, Filmemacherin, Kulturwissenschaftlerin, Berlin und Constanze Ruhm, Filmemacherin, Kuratorin, Akademie der bildenden Künste Wien;
- „Embarking on Farocki’s Infinite Flights of Words in Images“, Doreen Mende, Kuratorin, Theoretikerin, Berlin;
- Kodwo Eshun und Anjalika Sagar, The Otolith Group, London
Harun Farocki wird als Essayfilmer und Dokumentarfilmer eingeordnet, der über seine Filme und seine Lehrtätigkeit viele der nachfolgenden Filmschaffenden beeinflusste. Zum Beispiel Regisseur Christian Petzold, den Farocki gelehrt hat, mit dem er aber auch zusammengearbeitet hat. Beide haben die Drehbücher für „Die innere Sicherheit“, Gespenster“ und „Yella“ (Petzolds berühmte „Gespenster-Trilogie“) gemeinsam verfasst, ebenso das Drehbuch für ihr letztes gemeinsames Werk „Phoenix“ aus dem Jahre 2014.
„Die innere Sicherheit“ erhielt 2001 als Bester Spielfilm den Preis der deutschen Filmkritik, „Phoenix“ 2014.
Harun Farocki privat
Harun Farocki wurde am 9. Januar 1944 in Neutitschein, damals Reichsgau Sudetenland (heute tschechisch: Nový Jicín), geboren.
Der Sohn des in den 1920er Jahren nach Deutschland eingewanderten indischen Arztes Abdul Qudus Faroqui und seiner Frau Lili hieß bei seiner Geburt Harun El Usman Faroqhi und hat den Namen später pragmatisch vereinfacht.
Die Familie war in Neutitschein nicht ansässig, Farocki Mutter war gerade aus Berlin evakuiert worden, um den Bomben der Allierten zu entgehen, in der Nachkriegszeit folgten mehrfache Umzüge auch nach Indien und Indonesien, bis sich die Familie schließlich 1958 in Hamburg niederließ.
Der Vater eröffnete in Hamburg eine chirurgische Praxis, die der Familie ein gutes Leben einbracht, aber der junge Farocki rebellierte früh gegen den alten und ging 1962 (damals noch nicht mit 18 volljährig) nach West-Berlin. Dort schlug er sich als Beatnik durch, holte auf dem Abendgymnasium sein Abitur nach – und drehte 1966 seinen ersten Dreiminüter für den SFB (Sender Freies Berlin, Vorgänger des rbb).
Von 1966 bis 1968 studierte Harun Farocki, im ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
1966 heiratete er auch Ursula Lefkes, mit der er 1968 Zwillingsmädchen bekam.
Ursula Lefkes starb 1996, 2001 heiratete Farocki seine zweite Frau Antje Ehmann, mit der er viele gemeinsame Projekte ausführte. Farocki starb unerwartet, am 30. Juli 2014 im Alter von 70 Jahren in der Nähe von Berlin.
Aktueller Zugang zu Harun Farocki
Unter www.harunfarocki.de finden Sie viel zur Arbeit Harun Farocki, unter den Menupunkten „Filme“, „Installationen“, „Texte“, „Zusammenarbeit“, „Ausstellungen“ und „Biografie“.
Auf folgenden aktuellen oder demnächst anlaufenden Ausstellungen finden Sie Werke von Harun Farocki:
Einzelausstellungen:
- noch bis 18.03.2018: „Empathie – Harun Farocki“, Friche la Belle de Mai, Marseille | Frankreich
Gruppenausstellungen:
- bis 05.08. 2018: „Open Codes. Living in Digital Worlds“, ZKM. Zentrum für Medienkunst, Karlsruhe | Deutschland
- bis 17.03. 2018: „Newwar. It’s Just a Game?“, Bandjoun Station Art Center | Kamerun
- bis 08.04. 2018: „Schöne Neue Welten. Virtuelle Realitäten in der Zeitgenössischen Kunst“, Zeppelin Museum, Friedrichshafen | Deutschland
- bis 08.04. 2018: „Please Come Back. The World as a prison?“, IVAM. Institut Valencia d’Art Modern, Valencia | Spanien
- bis 13.05. 2018: „Faithless Pictures“, National Gallery Oslo | Norwegen
- 23.03. – 19.08. 2018: „Hello World. Revision einer Sammlung“, Hamburger Bahnhof | Berlin | Deutschland
- 08.03. – 05.05. 2018: „Kunst der Revolte / Revolte der Kunst“, Studierendenhaus Frankfurt | Deutschland
- 10.10. 2018 – 03.03. 2019: „Die Konstruktion der Welt (Kunst und Ökonomie)“, Kunsthalle Mannheim | Deutschland
- 17.03. 2018 – 06.01. 2019: „Post Institutional Stress Disorder (PISD)“, Kunsthal Aarhus | Dänemark
- 16.05. – 22.07. 2018: „A Study in Scarlett“, Frac, Ile-de-France | Frankreich
- 13.04. – 15.07. 2018: „Eastern Sugar“, Kunsthalle Bratislava | Slowakei
- 13.04. – 26.08. 2018: „Glaube, Liebe, Hoffnung“, Kunsthaus Graz | Österreich
Harun Farocki wird weltweit durch 5 Galerien vertreten:
- Deutschland: Galerie Barbara Weiss, Berlin, galeriebarbaraweiss.de
- Frankreich: Galerie Thaddaeus Ropac – Paris, ropac.net
- Österreich: Galerie Thaddaeus Ropac – Salzburg, ropac.net
- Spanien: Angels Barcelona, Barcelona, angelsbarcelona.com
- USA: Greene Naftali, New York City, NY, www.greenenaftaligallery.com
Werke von Harun Farocki sind in den öffentlichen Sammlungen einiger Länder zu besichtigen:
- Deutschland: Neue Nationalgalerie Berlin; Mathildenhöhe Darmstadt; ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
- Frankreich: Centre Pompidou Musée National d’Art Moderne, Paris; LaM Lille Métropole musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut, Villeneuve d’Ascq
- Österreich: Museum der Moderne Salzburg; MUMOK Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
- Spanien: Museu d’Art Contemporani de Barcelona; Museo de Arte Contemporáneo de Castilla y León; Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía Madrid
Je zynischer die Welt, desto gefragter der genaue Blick
Es ist (leider) zu vermuten, dass die jüngste, steile Karriere Harun Farockis auf der Weltbestenliste von Artfacts.net
- 2005 um Platz 330
- 2006 um Platz 290
- 2007 um Platz 210
- 2008 um Platz 190
- 2009 um Platz 150
- 2010 um Platz 110
- 2011 um Platz 75
- 2012 um Platz 75
- 2013 um Platz 50
- 2014 um Platz 30
- 2015 um Platz 24
- 2016 um Platz 23
damit zu tun hat, dass all das, was er in seinen Filmen zu Kriegs-Wahnsinn, Rassismus-Wahnsinn, Konsum-Wahnsinn, Wirtschafts-Wahnsinn, Banken-Wahnsinn und mehr Wahnsinn so früh gesehen und eindringlich behandelt hat, gerade wahr wird.
Sehen Sie sich Farockis Filme an, er kann uns leider nicht mehr zum genauen Hinsehen auffordern. Aber es war sein Lebensziel, für uns die Macht der Bilder zu analysieren, und viele seiner Filme können nicht nur unseren Blick schärfen, sondern sind auch heute noch erstaunlich aktuell.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse