Am 29.9.2012 war der 100. Geburtstag von Michelangelo Antonioni, einem Filmregisseur, der zu den Schlüsselfiguren des modernen Kinos gehört. Dabei hat Antonioni erst recht spät den Entschluss gefasst, “sein Leben dem Film zu widmen”: Dem Sohn eines Gutsbesitzers war ein klassisch bürgerlicher Lebensweg zugedacht, so studierte er auch zunächst Volkswirtschaft an der Universität Bologna und nahm nach dem Diplom in seiner Heimatstadt Ferrara eine Beschäftigung in der Finanzwirtschaft auf.
Aber schon in seiner Kindheit fühlte sich Antonioni in seiner gutbürgerlichen Umgebung alleine, er fertigte Architekturzeichnungen teils durchaus absurder Gebäude, baute und dekorierte ganze Miniaturstädte aus Bausteinen, Pappe und Holz, für deren Bewohner er komplette Lebensgeschichten erdachte, und spähte mit Vorliebe in die Fenster fremder Wohnungen.
Schon während seiner Arbeit in einer Bank schrieb er Filmkritiken für Ferraras Lokalzeitung, als ihm die traditionelle gesellschaftliche Karriere auch gegen Ende des dritten Lebensjahrzehnts noch nicht verlockend erschien, war es nur folgerichtig, wenn er 1939 nach Rom ging, um sich dem aktuellsten Medium der Zeit zu verschreiben.
Antonioni verfasste nun erste Entwürfe für Drehbücher, schrieb aber auch für die Zeitschrift L’Italia libera, die illegale Parteizeitschrift der Aktionspartei, einer liberal-sozialen Opposition gegen den Faschismus in Italien. Bald konnte er ein Studium der Filmtechnik am “Centro Sperimentale di Cinematografia” beginnen.
Diese Filmschule war eigentlich vom „Direzione Generale della Cinematografia“, einer vom faschistischen Regime nur zur politischen Koordinierung der Filmpolitik geschaffenen Institution, zweckgerichtet eröffnet worden: Ebenso wie die Cinecittà sollte diese Schule nach dem Vorbild der Moskauer Filmschule dem Ziel dienen, innerhalb von direkt kontrollierten Strukturen politisches Kino zu machen.
Zum Direktor der neuen Institution wurde jedoch Luigi Chiarini eingesetzt, der philosophisch gebildete Filmkünstler machte mit seiner Weitsicht und Intelligenz aus dem Centro eine ideologisch ungebundene und professionelle Filmschule von hohem Niveau.Am Centro wurde nicht dem Regime gedient, sondern mit viel Offenheit und Experimentierfreudigkeit neue Entwicklungen gefördert, ganz im Gegensatz zu den Intentionen der faschistischen Machthaber. Der Centro formte keine “faschistischen Intellektuellen”, sondern förderte den freien Austausch von Ideen und Gedanken, es entstand eine “Schule des Antifaschismus”, bis hin zum aktiven Widerstand gegen das Regime.
An diesem Ort machte nun Antonioni erste Bekanntschaft mit dem Filmschaffen, hier lernte er Zeitgenossen kennen, mit denen er später arbeitete. Wie Roberto Rossellini, für den er 1942 an einem Filmscript arbeitete, anschließend konnte er Marcel Carné bei seinem Film “Visiteur du soir“, “Die Nacht mit dem Teufel” assistieren. Sicher eine lehrreiche Erfahrung, Carnés nächster Film war “Kinder des Olymp”, der bis in die Gegenwart als einer der besten Filme überhaupt eingestuft wird.
Dem faschistischen Italien konnte Antonioni dennoch nicht gänzlich entkommen, er hat in dieser Zeit auch für die Zeitschrift Cinema geschrieben, einer offiziellen Filmzeitschrift, die von Mussolinis Sohn Vittorio herausgegeben wurde.
Hier erschienen deshalb wohlwollende Kritiken verabscheuenswürdiger Propagandafilme wie “Jud Süß” oder “Hitlerjunge Quex”, für die Tätigkeit bei dieser Zeitschrift musste sich Antonioni später vielfach rechtfertigen. Antonioni war jedoch dieser politischen Meinung keineswegs zugeneigt, weshalb er auch wegen politischer Differenzen bald entlassen wurde.
Er begann jetzt, selbst Filme zu drehen, von denen die Ersten oft dem italienischen Neorealismus zugerechnet werden. Aber schon in diesen ersten, in der ärmlichen Landschaft der Po-Ebene angesiedelten Filmen (“Gente del Po” = “Menschen am Po”, 1943-47, “Chronica di un amore” = “Chronik einer Liebe”, 1950, “Il Grido” = “Der Schrei”, 1957), war diese dürre Po-Ebene für ihn nur die Metapher, um den existenziellen Fragen einen Rahmen zu geben, die seine Filme behandeln.
Antonionis Filme befragen das Leben, es geht um die Nachkriegsgesellschaft, um den Bruch mit Konventionen und um isolierte Menschen, die in dieser Gesellschaft verloren sind. Antonioni geht es nicht wie dem Neorealismus um die äußere Entfremdung des traditionell verhafteten Menschen von seiner Umwelt, sondern ganz im Gegenteil um die Innensicht des Menschen und die Einflüsse der Umgebung auf diese innere Befindlichkeit.
In den frühen 1960ern schuf er drei Filme, die sich mit dem Sinnverlust und der Gespaltenheit von Mitgliedern der oberen Schichten einer neu entstehenden Gesellschaft beschäftigen, “Die mit der Liebe spielen” (1960), “Die Nacht” (1961) und “Liebe 1962” (1962). Diese provokativen Werke und deren Darstellung von Nacktheit konnten jeweils etliche Preise bei den wichtigsten internationalen Filmfestspielen gewinnen.
1966 entsteht mit Antonionis “Blow Up” einer der wichtigsten Filme der 1960er Jahre, der beim Filmfestival in Cannes den Hauptpreis bekam und bis heute als Kultfilm verehrt wird. Damals verursachte der Film einen Skandal, allerdings eher wegen der ersten filmischen Abbildung weiblicher Schamhaare als wegen der erschreckenden Thematik.
Antonioni bezieht sich hier, wie viele andere Künstler seiner Zeit, auf die den kritischen Geistern der Zeit gerade erst bewusst werdende Fähigkeit der Medien, in ihrer Arbeit Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern auch zu hinterfragen, und eben auch zu manipulieren.
1975 hat Antonioni das Thema in seinem Psychodrama “Beruf: Reporter” mit durchaus misanthropischen Untertönen wieder aufgenommen, in dem er die Korrution eines Reporters nachzeichnet.
Noch mehr Wirbel als “Blow Up” verursachte aber zunächst der 1970 entstandene Film “Zabriskie Point”, eine Hommage an die 1968er-Bewegung, in der ein Neuspiritueller und eine gewöhnliche Angestellte durch die Studentenunruhen zum Ausbruch aus der Konsumgesellschaft motiviert werden, aber ebenso scheitern wie das Aufbegehren der Studenten. Obwohl er kommerziell nicht erfolgreich war, gab es in den USA mehrere Prozesse gegen ihn, weil er “linksradikale und antiamerikanische Aussagen” kolportiere.
Mehrere Projekte waren nun finanziell gescheitert, Antonioni Neugier auf den Menschen aber ungebrochen, mit “Chung Kuo Cina” = “Antonionis China” drehte er 1972 nach 20 Jahren erstmals wieder einen Dokumentarfilm, mit einem klaren Blick, der ihm später wiederum Ärger einbringen sollte.
In dem Film EIl mistero di Oberwald” = “Das Geheimnis von Oberwald”, 1980, eine Adaption eines Theaterstücks von Jean Cocteaus, zeigt er eine ungewohnte Konzentration auf experimentelle Ästhetik, weil sich eben kein Erzählstoff finden lasse, wenn Technik als Fortschritt gefeiert wird.
So kehrt er im Film “Identificazione di una donna” = “Identifikation einer Frau”, 1983, wieder zu den Menschen zurück und beschreibt die Unfähigkeit der Männer, Frauen zu verstehen. Das war der letzte Film, den Antonioni allein fertigstellte, 1985 hatte er einen Schlaganfall, dessen Folgen ihn in Sprache und Bewegung stark einschränkten.
Dennoch übernahm er die Episode über Rom im Film ““12 registi per 12 città”, in dem 12 berühmte italienische Regisseure den Besuchern der Fußball-Weltmeisterschaft von 1990 12 italienische Städte präsentieren und drehte noch 1995 mit Unterstützung von Wim Wenders den Episodenfilm “Al di là delle nuvole” = “Jenseits der Wolken“, in dem es wiederum um die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Liebe und deren Endlichkeit geht.
Seine letzte Arbeit lieferte er noch 2004, die Episode “Il filo pericoloso delle cose” (was so viel heißt wie “Gefährliche Verkettung”) im Episodenfilm Eros, nach Meinung vieler Kritiker eine Arbeit von außerordentlicher Brillanz und Leichtigkeit. Antonioni starb 2007 in Rom, im Alter von 94 Jahren.
Neben Federico Fellini und Luchino Visconti gehört Michelangelo Antonioni zu den Großen, die den italienischen Film in den Nachkriegsjahren geprägt haben. In seiner visionären Ästhetik, der analytischen Genauigkeit und seiner Heftigkeit beim Überschreiten von Grenzen wird Antonioni jedoch eher in die Nähe des französischen Ausnahmeregisseurs Jean-Luc Godard gerückt.
Antonionis Thema war jedoch nur und immer der Mensch, deshalb haben die Arbeiten des “marxistischen Intellektuellen” (Antonioni über sich), der sich mit seiner pessimistischen Sichtweise als Chronist des Lebens begriff, auch heute noch nichts von ihrer Aktualität und Eindringlichkeit verloren.
Im folgenden Video sehen Sie den Original-Trailer (in Englisch) seines Meisterwerks „Blow Up“:
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse