Christopher Williams ist ein US-amerikanischer Konzeptkünstler, der sich als Fotograf unseres „schönen modernen Lebens“ einen Namen gemacht hat.
Mit den Abbildern unserer vermeintlich so schönen Wirklichkeit belegt Christopher Williams momentan Platz 201 in der Weltbestenliste der Kunst. Um es noch einmal ganz deutlich herauszustellen: Zwei, drei Reisebusse voll, und Sie haben alle Künstler dieser Welt zusammen, deren Werk in der Öffentlichkeit noch ein wenig bekannter ist als das Oeuvre des spöttischen Beauty-Fotografen – das ist schon ne‘ Marke, wer als Kunstkenner gelten will, sollte mit Williams und seinem Werk wohl besser etwas anzufangen wissen.
Auch deswegen, weil Williams seit Jahren dabei ist, die Rangliste höher und höher zu erklimmen. In den letzten 10 Jahren ist er von Rang 450+ bis zum aktuellen Rang 201 geklettert, eine Verbesserung von 55 %. In Interesse/Bewunderung ausgedrückt bedeutet das, dass sich die Williams-Fans in rund einem Jahrzehnt mehr als verdoppelt haben. Wenn er im gleichen Tempo weitermacht, hat Williams in absehbarer Zeit Spitzenreiter Andy Warhol überflügelt.
Und das ausgerechnet als Fotograf, mancher unterbezahlte Fotograf gäbe mehrere Spitzen-Motive für das Geheimnis, das hinter dem stetigen Aufstieg steckt.
Ein Hype um Williams 60. Geburtstag könnte eine Erklärung sein, weil der gerade im Jahr 2016 gefeiert wurde und die Wertschätzung von Kunst in geheimnisvoller Verbindung mit dem Altern und Ableben von Künstlern steht. Hier nicht, 60 ist noch zu jung und Williams stellt sowieso dauernd aus, es gab keinen Hype:
Williams zeigte seine Kunst 2004, 2005, 2006 in 8 Solo-Ausstellungen, 2014, 2015, 2016 waren es 7; um 2006 waren es 31 Gruppenausstellungen, um 2016 34.
Hat der Aufstieg mit einem allgemein gestiegenen Interesse für Kunst zu tun? Interesse für Kunst generell oder für die Art von Kunst, die Williams anfertigt?
Das allgemeine Interesse für Kunst ist seit etwa der Jahrtausendwende tatsächlich spürbar gestiegen, weil in dieser Zeit die Vernetzung der Welt ihren Anfang nahm. Auch wenn wir es uns nicht täglich bewusst machen: Im letzten Jahrtausend, auch dem letzten Jahrhundert davon, war die Welt des Individuums streng regional, begrenzt auf die ihn umgebende Gruppe von Menschen.
Ob mittelalterliche Dorf-Stadt-Gemeinschaft oder moderne, nicht mehr ganz so national beschränkte Staatengemeinschaft – (auch) in Sachen Kunst blieb man weitgehend unter sich; der bewunderte Künstler war ein deutscher, italienischer, amerikanischer und wenn’s hoch kam (… ach, so etwas exotisches aber auch!) vielleicht gerade noch so ein afrikanischer Künstler.
Heute sind es immer noch deutsche, italienische, amerikanische und afrikanische Künstler – aber Vernetzung im kulturellen Bereich war gewinnmotivierten Handelsbeziehungen schon immer dicht auf den Fersen; der durch Internet erleichterte Informationsaustausch brachte einer ganzen Reihe von Nationen und Milliarden von Menschen erstmals Kunst nahe, ob als Gegenstand regelmäßiger Ausstellungen oder als Handelsware.
Während Kunstpräsentation und Kunsthandel noch rund eine Generation vor uns fast ausschließlich in ein paar großen Kunstzentren stattfand, gab es nun unzählige neue Kunst-Interessenten; und es wäre sicher rasend interessant zu analysieren, ob diese neuen Interessenten in einem auffälligen Maße für eine steigende Popularität von Künstlern verantwortlich sind, die klein- bis normalformatige Wohnzimmer-Kunstwerke statt tonnenschwerer Installationen (für die documenta, die Biennale von Venedig, die Art Cologne …) vorstellen.
Vielleicht gehört Williams zu den Künstlern, die durch das neue Kunst-Klientel aus anderen Gründen überproportional an Bekanntheit gewonnen haben, z. B. weil ein großer Teil des neuen Kunst-Publikums die dunkle Hautfarbe mit ihm teilt.
Vielleicht hat sein Aufstieg aber auch mit einer Kurskorrektur auf dem Kunstmarkt zu tun: Die Fotografie, die um 1850 erste Avancen in Richtung künstlerische Fotografie unternahm und doch bis vor kurzem die Höhen des Kunstschaffens nicht mit den handwerklich gestaltenden Künstlern teilen durfte, ist seit etwa der Jahrtausendwende endlich und unwiderruflich als Kunst anerkannt.
Hat ein bisschen gedauert, obwohl sich die im kreativen Prozess geschaffene „Schöne Kunst“ bereits im Zeitalter der Aufklärung (ab eben dieser zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) von der auf Können gegründeten handwerklich gefertigten Kunst gelöst hatte:
Der Tischler mit künstlerischen Ambitionen wurde zum Künstler, der mit Holz arbeitetet, Holzschnitz-Künstler und Motorsäge-Künstler und Holzbau-Künstler, der Fliesenleger mit kreativer Sonderbegabung zum Mosaikkünstler … Nur dem Fotografen wurde bis vor wenigen Jahrzehnten keine künstlerische Qualität seiner „Abbildungen“ zugebilligt, auch wenn er Tage daran gearbeitet hatte, um ein ganz bestimmtes Bild auf Film zu bannen.
Das ändert sich erfreulicherweise, schon seit einer ziemlich langen Zeit gelingt es einzelnen Foto-Künstlern, als Künstler akzeptiert zu werden. Wenn sich das Bild von berühmten Ausnahmeerscheinungen hin zu allgemeiner Akzeptanz der Fotokunst klären würde und die weiblichen Fotokünstler (und die restlichen weiblichen Künstler der Welt) wenigstens von einem kleinen Anflug Gleichberechtigung bei der Bezahlung der Kunst überrascht würden, wäre die Welt wieder ein Stück zufriedener …
Ein „Rezept für den Aufstieg von Foto-Künstlern“ lässt sich aus all dem nicht generieren; Voraussetzung ist aber sicher, dass der Foto-Künstler die Welt mit seinem Werk bereichert, wie die Foto-Kunst von Christopher Williams es tut:
Kunst von Christopher Williams
Der Titel seiner ersten großen Retrospektive, „Christopher Williams: The Production Line of Happiness“ (27. Juli – 2. November 2014, MoMA New York), annonciert gut das wohl wichtigste Charakteristikum der Williams-Kunst: Ihr verführerisches Potenzial.
Den Titel der Ausstellung hat Christopher Williams einer Textzeile aus einem Dokumentarfilm Jean-Luc Godards entlehnt. Ein Amateurfilmer vergleicht dort seinen täglichen Job als Fabrikarbeiter mit seinem Hobby, Bearbeitung selbstgedrehter Filme der Schweizer Landschaft, und sieht letztere als „Production Line of Happiness“ (Fließband der Glückseligkeit).
Williams referenziert allerdings keine Landschaftsfotografie, sondern die Fotografie als Massenphänomen der Konsumkultur: Häufig geht es nicht nur um die Abbildung, sondern das Bild macht ein eher unspektakuläres Produkt erst zum Kunden-Traum; die positiven Erfahrungen, die bei Kauf des Produkts warten, werden auch gleich mit „hergestellt“. Neben der Leere, die das Leben des typischen Konsum-Junkies üblicherweise prägt, sind diese Erwartungen positiver Erlebnisse mit dem Traum-Produkt die bewährtesten Kauf-Auslöser.
Der perfekte Ergebnisse produzierende Haushaltshelfer „Erratum“ bringt vollendete Reinheit wenigstens in einen Teilbereich des Lebens: Bildlink
„Model #105M“ schafft es, direkt nach dem Haarewaschen gepflegte Schönheit wie nach einer Woche Styling, und absolute Glückseligkeit (wie sie nur das verwendete Produkt vermittelt) gleichzeitig auszustrahlen: Bildlink.
„Voll Nuss, Joghurt, Voll Erdnuss, Weisse Voll Nuss, Marzipan und Cappuccino“ in Schokolade „Rittersport“, wie auf dem Bild gestapelt und dann in einem Zug weggehauen, garantiert die absolute Schoko-Wonne: Bildlink.
Die Welt ist schön, und es lohnt sich sehr wohl Ausschau nach den Äpfeln zu halten, unter denen sich todsicher kein einziger befindet, in dem der Wurm ist: „Bergische Bauernscheune, Junkersholz, Leichlingen, September 29th, 2009“, Bildlink.
Doch auch das wieder nur Schein, die Enttäuschung ist vorprogrammiert:
Der Name des Geschirrspülers (Erratum = Druckfehler) deutet schon an, dass der „Scheinhelfer“ nur selten eine schrankfertig saubere Ladung Geschirr wie auf dem Foto hervorbringt. Meist kleben auch nach der Wäsche noch irgendwo Geschirrspülmittel- oder Lebensmittelreste; und bis die Wäsche gestartet wird, kreiert der Geschirrspüler in manchem Single-Haushalt reichhaltige Mikroben-Farmen, die den üblicherweise nicht riesigen Wohnbereich tagelang in muffigen Gestank hüllen.
Überhaupt, der Geschirrspüler im Single-Haushalt, bis zu einem Monatsgehalt für ein Gerät, das den Single täglich von der wahnsinnigen Arbeit befreit, zwei Teller, eine Tasse und ein Glas (+ ein paar Schüsseln, einem Topf, eine Pfanne, wenn der Single selbst kocht) abzuwaschen und dadurch täglich bestimmt 5 Minuten Zeit spart … die er in Wirklichkeit überhaupt nicht spart:
Allein zum Erarbeiten des Anschaffungspreises hat ein Single 2825 min* gearbeitet und hätte stattdessen 565 Tage 5 min abwaschen können. Weitere Zeit oder weiteres durch Arbeitszeit zu erarbeitendes Geld geht drauf fürs Aussuchen, Kaufen, Aufstellen, Anschließen des Geschirrspülers, das tägliche Einräumen und Ausräumen, den Zwischen-Spülgang, wenn’s zu sehr stinkt, den Kauf und die Bezahlung von Spezialsalz, Klarspüler und 17-in-Eins-Geschirrspültabs (die nicht die Wohnung aufräumen, bügeln, saugen, obwohl sie es zu diesem Kaufpreis eigentlich tun müssten und an denen Sie niemals aus sehr kurzer Entfernung riechen sollten, weil Sie dann das Gift sofort aus der Wohnung schmeissen), Kauf und Einsatz von Calgon und Co., Bestellung, Beaufsichtigung und Bezahlung einer Reparaturfirma, wenn der Geschirrspüler trotz Calgon und Co. pünktlich nach Ablauf der Garantiezeit die Grätsche macht …
Das Lächeln der Grazie mit dem Handtuch-Turban wird vom Betrachter nicht mehr erwidert, wenn er die wahre Natur dieses anthropologischen Wunders erkennt: In perfekter Photoshop-Nutzung als „All-World-Modell“ designt, das das Schönheitsempfinden wohl jeglicher Ethnie unseres Planeten befriedigt …
Wenn das das perfekte Modell für fast alle ist, könnten also irgendwann alle Menschen so aussehen, 7, 8, 10 Milliarden „Grazie mit Handtuch“ + männliche, transsexuelle und bis dahin noch benötigte Gender-Pendants – AAAARRRGGH!
„Rittersport“-Schokolade kann zweifellos absolute Schoko-Wonne vermitteln. Bei den vielen Menschen, die keine Ahnung von Ernährung oder Lebensmitteln haben und keine Lust, sich um mehr Ahnung zu kümmern, folgt dem Schokoladengenuss Diät-Frust. Die Diät – lebenserhaltende Lebensführung, die Schoko-Wonne mit Bewegung und „Schmalkost“ ausgleicht – ist heute fast nur noch als Kürzel für „Reduktionsdiät“ bekannt, deren allgemeine Wirkungen auf den menschlichen Stoffwechsel wissenschaftlich recht gut erforscht sind: Es handelt sich um eine Art Stoffwechseltrainingsprogramm „zur größtmöglichen Energiegewinnung trotz Verknappung“ (umgangssprachlich als Jo-Jo-Effekt bekannt).
Jede spezielle Form der Reduktionsdiät legt ihren eigenen Katalog erlaubter Nahrungsmittel vor, mit eher geheimnisvollem als wissenschaftlichem Ursprung. So kann eine Schokoladendiät entstehen, weil Journalisten Kritik am Wissenschaftsbetrieb üben möchten (www.spiegel.de/) oder weil eine Person, die „bekannt genug zum Bücher schreiben“ ist, ihre Gewichtsprobleme mit Küchenpsychologie lösen möchte (Die Schoko-Diät: Endlich schlank mit Genuss (Link zu Amazon)). Am Energiegehalt von Schokolade ändert sich dadurch nichts.
Rein physikalisch (stoffliche Umsetzung durch den Körper) interessiert nur dieser Energiegehalt; wenn die Energiezufuhr höher ist als der Energieverbrauch, wird der Überschuss vom vorausschauendem System Körper als (Fett-) Reserve gespeichert.
Es gibt kein mediales Statement darüber, warum Williams „Rittersport“-Schoki oder diese Sorten Rittersport gewählt hat. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht, aber Williams trat kurz vor Entstehung des Schokoladen-Bildes seine Professur in Düsseldorf an – es ist also nicht ganz abwegig zu vermuten, dass er bei Bloßstellung des Massen-Genussmittels Schokolade seine vielen tonnengleichen Landsleute im Blick hatte und „Rittersport“ nur wählte, weil die Sorte im deutschen Handel überproportional vertreten ist.
Dabei wäre Milka-Schokolade aus seiner amerikanischen Heimat die passendere Wahl gewesen: Die Kraft Heinz Company nimmt mit „Milka“ und anderen ihrer 200 Marken auch auf dem deutschen Markt eine Spitzenstellung ein, die Produkte haben aber wegen häufigem Einsatz von Konservierungs- und Farbstoffen und aufwendigen Riesenverpackungen nicht den besten Ruf (www.codecheck.info/). Rittersport, ein deutsches Familienunternehmen mit gut 100-jähriger Tradition, macht Schokolade aus den dazu nötigen Bestandteilen von Zucker, Kakao, Milch und Butter (ev. Nüssen, Lecithin, natürlichen Aromen), damit ist Schoko-Lust schneller befriedigt.
In den Äpfeln ist kein Wurm, weil sie pro Saison bis zu 30 x mit Pestiziden gespritzt werden – das vernichtet (todsicher) Wurmlarven, bestimmt auch den größten Teil der Nährstoffe und nebenbei vermutlich noch ein paar am „Morbus industrielle Landwirtschaft“ leidende Menschen (in Frankreich ist Parkinson bereits als Berufskrankheit der Landwirte anerkannt).
Williams erwartet sicher nicht, dass Sie beim Betrachten der Fotos „Ihrem Gedanken-Affen derart Zucker geben“ wie es gerade geschah; aber er freut sich bestimmt über jeden Kunstliebhaber, der durch das Betrachten seiner und anderer Kunst soweit „gedanklich aufgeweckt wird“, dass er beginnt, die abgebildeten und andere ihn täglich umgebenden Dinge zu hinterfragen.
Mit einer kritischen Haltung kommt jeder darauf, dass dem Geschirrspüler im Mini-Haushalt in Punkto „Konsumverarsche“ ein Spitzenplatz gebührt; manche denken noch weiter und verbannen auch gleich noch den Herd aus ihrer Küche, dessen Garraum die Bedürfnissen einer Großfamilie erfüllen kann, und 12 bis 20 elektrische Helfer, die nicht das leisten, was die Produktbeschreibung verspricht. Ergibt neu nutzbaren Wohnraum, z. B. für einen großen Tisch, um mit Menschen zusammenzusitzen und zu reden, ein Stück neues Leben, angeregt durch ein bisschen Aufmerksamkeit, die angeregt wurde durch ein bisschen Kunst …
Christopher Williams künstlerische Entwicklung zeigt, wie er selbst nach und nach immer aufmerksamer hingeschaut hat:
Zur Zeit dieser (ersten) Retrospektive hat Christopher Williams bereits eine beeindruckende 35-jährige Karriere hinter sich. Sein Flirt mit der Fotografie begann früh (vermutlich naturgegeben, wenn man in Los Angeles geboren wird und aufwächst), dazu gehörte anfangs der Flirt mit dem Format und der Präsentation.
„Untitled (Cafes – Intimate Grouping)“ von 1982-83 spielt sehr reizvoll mit beidem, wie Sie sich auf moma.org) ansehen können.
(Bei dem Heimatort vielleicht auch naturgegeben) hat Christopher Williams schnell sein besonderes Interesse an den Produkten der (Luxus-)Konsumwelt und deren Käufern entdeckt.
„Young Hee Kim and Gyung-Hwa Han, Ravenswood Apartments, Los Angeles, January 24, 1992“, kurzelinks.de/p3hl, zeigt Kunden dieser (Luxus-)Konsumwelt:
Zwei begüterte junge Frauen, die sich ein Appartement in einer der teuersten Wohnumgebungen von Los Angeles leisten können; „The Ravenswood“ ist ein historischer Art-Deco-Bau, der 1930 von Paramount Pictures gebaut wurde und z. B. Mae West und Ava Gardner beherbergte.
Das schöne Haus gehört seit 2003 zu den historischen Kulturdenkmälern von LA und liegt im Hancock-Park-Viertel, in den 1920er Jahren rund um einen privaten Golfclub gebaut. Das Gelände ist nur mäßig dicht besiedelt, die Gebäude architektonisch sehr unterschiedlich und charakteristisch, die etwa 10.000 Menschen wohlhabend, gebildet und zum größten Teil nicht mehr jung. Ein „Reichendorf“, in das die beiden jungen Asiatinnen nach Frisur, Make Up, Kleidung und Schmuck perfekt hineinpassen.
Auf den ersten Blick hat es sich damit. Der Ausstellungsbesucher, der flüchtig bis normal intensiv hinschaut, registriert zwei gutaussehende, mit materiellen Gütern reich gesegnete junge Frauen an einem Tisch (die im Ravenswood wohnen, falls er es kennt).
Wer das Foto genauer studiert, sieht zwei junge Frauen, die in ihrer Anpassung sehr weit gehen, bis hin zu Kontaktlinsen, die die schönen tiefbraunen Augen in blaue USA-Augen verwandeln sollen (klappt nicht so ganz, vor dem dunklen Hintergrund werden es tiefblaue bis dunkelblaue Augen, die das Gesamtbild der ästhetischen Schönheit der Trägerinnen aber vermutlich sehr viel weniger beeinträchtigen als es hellblaue Augen getan hätten).
Wenn der Betrachter so weit gekommen ist, ist er auch bereit für das Rätsel, das der Künstler mit dem Bild aufgibt: Warum hat die linke Frau eine Kontaktlinse entfernt und damit den dunkelblauen Zwillingsblick zerstört?
Abgesehen davon sieht er zwei junge Menschen, die offensichtlich steinreich sind (steinreiche Männer haben, aber sobald er das denkt, denkt er auch, dass diese Annahme politisch inkorrekt ist), aber psychisch irgendwo zwischen nervenaufreibender Langweile und tiefem Unglück pendeln. Weiter sieht der aufmerksame Betrachter zwei Bräute, denen er nachts nicht im im Dunkeln begegnen möchte …
Neben Beschäftigung mit der schönen Leere der Moderne hat sich Christopher Williams mit dem afrikanischen Kontinent beschäftigt, ab 1996 hat er ein Studio in Dakar, Senegal, in dem Werke wie das Folgende entstehen: moma.org).
Außerdem dreht er Super-8-Kurzfilme (die wichtigsten Projekte entstehen von 1980 bis in die frühen 1990er), arbeitet mit Lithografien wie dieser: „Untitled“, Texte zur Kunst, Kassel, Germany, 1992, moma.org -> Williams (obwohl Williams selbst nie auf der documenta war) und erstellt große Foto-Serien wie „For Example: Die Welt ist schön (The World Is Beautiful)“, 1993–2001 und „For Example: Dix-huit leçons sur la société industrielle (Eighteen Lessons on Industrial Society)“, 2003–heute.
Dass Williams-Fotos nicht immer so harmlos schön sind, wie es aussieht, zeigt z. B. auch Christopher Williams Buch „Angola to Vietnam“, Erstveröffentlichung 1989, sehr deutlich.
Vordergründig sehen wir eine leicht ironische Hommage an eines der berühmtesten Bücher aus der Geschichte der Fotografie: Karl Blossfeldt, „Urformen der Kunst“, 1928 in Berlin im Verlag Ernst Wasmuth erschienen. Der 1865 geborene Fotograf Karl Blossfeldt ist in der Foto-Historie als Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ bekannt.
Gegen Ende der Weimarer Republik wurde er durch zwei Bildbände mit streng-formalen Pflanzenfotografien berühmt. „Urformen der Kunst“ ist der erste Band, und diese Urformen sah Blossfeldt in den Pflanzen, die der Bildband Seite für Seite in schwarzweißen Nahaufnahmen zeigt – eine beeindruckende Galerie pflanzlicher Skulpturen stellte der gelernte Bildhauer und Modelleur mit der Leidenschaft für Fotografie damals vor, in Berlin war das Buch sofort eine Sensation.
Heute ist es wieder interessant, aber in den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt der mit ersten bezahlbaren Knips-Maschinen endlich jedermann möglichen Bunten-Bildchen-Euphorie, auch für studierte Spezies kein Thema, bei dem sich vor Ehrfurcht die Fußnägel hochrollten.
Für einen amerikanischen Konzeptkünstler des Geburtsjahrgangs 1956 lag das Verspötteln der Altmeister vergangener Generationen recht nahe, viele der damaligen Betrachter amüsierten sich königlich über Williams Antwort auf Blossfeldts „versteinerte Natur“: Williams fotografierte Glasmodelle aus dem botanischen Museum der Harvard University in genau demselben Stil wie Blossfeldt’schen Exponate und ließ die wie versteinert aufgenommenen Pflanzen dadurch endgültig zu (Silikat-)Gestein werden.
Vielen Rezipienten entging dabei vollkommen, dass es Williams nicht nur um Witzchen über Blossfeldt ging, sondern dass er in der 27-teiligen Arbeit ausschließlich Pflanzen aus Ländern abbildete, in denen im vergangenen Jahrzehnt politischer Mord in Reihe begangen worden war …
Ein Rittersporn von Blossfeldt
Ein Büschelkraut
Eine Stranddistel
Einen preiswerten (und unbedingt seinen Preis werten) Nachdruck der Fotos aus den beiden Blossfeldt-Büchern mit Pflanzenfotografien (das zweite erschien kurz vor Blossfeldts Ableben) gibt es bei der Motto Distribution.
„Vietnam“ von 1989 zeigt Blaschka Model 272, von 1892, Genus no. 8594, Familie Cucurbitaceae, Art Luffa cylindrica, Gelatin silver print, 28 x 35.5 cm: moma.org -> Williams -> Vietnam.
Das von Christopher Williams als Symbol für „Vietnam“ gewählte „Blaschka Modell“ ist einen Einschub für alle wert, die mit einem Blaschka Model nichts anzufangen wissen: Es geht um Glasmodelle von Vater und Sohn Blaschka, die zwischen 1863 und 1936 tausende realitätsnaher Glasdarstellungen botanischer und zoologischer Motive fertigten.
Vater Leopold Blaschka hat nach Ausbildung zum Goldschmied und zum Glasbläser extra dafür das „Glasspinnen“ entwickelt, Sohn Rudolph beschäftigte sich intensiv mit der Flora Mitteldeutschlands und der Fauna von Mittelmeer, Nord- und Ostsee.
Gemeinsam erstellten die böhmischen Glasbläser die zauberhafteste und dabei doch genaueste Glasmodell-Serie von Meerestieren und -pflanzen, die die Welt jemals gesehen hat. Blaschka Modelle wurden in die gesamte damalige zivilisierte Welt verschifft; wie das so ist bei Glas, sind heute von mehreren 1.000 Modellen nur noch knapp 1.000 übrig.
Abbildungen der 289 Exponate können Sie im Corning Museum of Glass, Corning, NY 14830, USA oder unter cmog.org/collection (search: blaschka) betrachten, in Berlin befinden sich 32 „echte Blaschkas“ wie dieser schicke Bäumchenröhrenwurm: Bildlink, im Museum für Naturkunde und in der in der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die größte zusammenhängende Glasmodellsammlung besitzt das Harvard Museum of Natural History; eine der populärsten Attraktionen der Havard University, die jährlich über 10.000 Besucher anlockt (anzusehen unter hmnh.harvard.edu/glass-flowers).
Zurück zu Christopher Williams (dessen Kunst hier nur sehr auszugsweise vorgestellt wurde, es bleibt also noch viel zu entdecken).
Christopher Williams Weg zur Kunst
Christopher Williams ist 1956 in Los Angeles, Kalifornien (USA), geboren und quasi mitten in der Film- und Fernsehbranchen auf, die seine künftige künstlerische Produktion formte. Sein Großvater und sein Vater arbeiteten in Hollywood als „special effects artists“ und wurden häufig vom jungen Christopher zur Arbeit begleitet, belegt ist z. B. eine Begegnung von Christopher Williams mit dem aus Deutschland emigrierten Filmemacher Oskar Fischinger, der ihm Flip-Bücher und abstrakte Animationsfilme zeigte.
Christopher Williams hat sich vom Film ferngehalten und Kunst studiert. In den 1970er und frühen 1980er Jahren am California Institute of Arts in Valencia vor den Toren von L.A., B.F.A. (Bachelor of Fine Arts) 1979, M.F.A. (Master of Fine Arts) 1981. Er lernte bei der ersten Generation der Westküsten-Konzeptkünstler, in Los Angeles lehrten z. B. Michael Asher, John Baldessari und Douglas Huebler.
Christopher Williams: Öffentliches Leben, Ausstellungen, Auszeichnungen
Direkt nach dem Studium, 1982, fand Williams erste Solo-Ausstellung in der Jancar-Kuhlenschmidt-Gallery in Los Angeles statt. In diesem Stil ging es weiter, mit etwa 10 Ausstellungen pro Jahr, quer durch alle Zentren der Kunstwelt.
Christopher Williams kann bis jetzt (April 2017) auf rund 300 öffentliche Ausstellungen zurückblicken, gut 50 Einzelausstellungen und rund 250 Gruppenausstellungen. 92 davon in den USA, 64 in Deutschland, 21 in Frankreich, 18 in Österreich und 12 in England; die restlichen Ausstellungen in den weiteren Länder der Welt, die bedeutende Kunststätten im Bereich „zeitgenössische Kunst“ zu bieten haben.
Immer zugänglich ist Christopher Williams Kunst in folgenden öffentlichen Kunstsammlungen:
- Deutschland: Sammlung Haubrok Berlin, Museum Ludwig Köln, Kunstraum Grässlin St. Georgen
- Italien: MAMbo Galleria d’Arte Moderna di Bologna
- Kanada: Carleton University Art Gallery Ottawa, ON
- Mexiko: Museo Jumex, Mexico City
- Österreich: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (MUMOK), Wien
- Schweiz: Fotomuseum Winterthur, UBS Art Collection Zürich
- United Kingdom: Tate Britain, London
- USA: Hammer Museum + MOCA Grand Avenue, Los Angeles CA, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington, DC
- 2005 bekam Williams die Guggenheim Fellowship von der John Simon Guggenheim Memorial Foundation.
- 2005 und 2006 erhielt er Zuschüsse der Foundation for Contemporary Arts, um frei arbeiten und an Wettbewerben teilnehmen zu können.
- 2014 verlieh die Paris Photo–Aperture Foundation PhotoBook Awards „Photography Catalogue of the Year“ an Christopher Williams, für den Katalog der Ausstellung „The Production Line of Happiness“ und „Christopher Williams: Printed in Germany“.
Christopher Williams Werk heute und die Zukunft
Christopher Williams hat sich zu einem der führenden Konzeptkünstler seiner Generation entwickelt, der mit den Mitteln der Fotografie ein großes und ein prägnantes Oeuvre vorlegte. Er bringt seine umfassenden Kenntnisse in der Geschichte von Fotografie und Film, Architektur und Design ein, um (mehr neben als hinter der Kamera) in einer klaren, ironischen Bildsprache eine Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft zu formulieren, in der kein Bilder auf seinen vordergründigen Inhalt reduziert werden kann.
Seit 2008 lehrt er als Professor für Fotografie an der Kunstakademie Düsseldorf, aber Christopher Williams arbeitet weiter, seine Kunst wird nach wie vor in aller Welt ausgestellt, demnächst in Brüssel und in London:
- Ab 20. April 2017 läuft die Ausstellung „Le musée absent“ im WIELS-Center für zeitgenössische Kunst in Brüssel, wo Werke von Christopher Williams neben Kunst von Francis Alÿs, Marcel Broodthaers, Marlene Dumas, Jimmie Durham, Jana Euler, Ellen Gallagher, Isa Genzken, Thomas Hirschhorn, Carsten Höller, Martin Kippenberger, Lucy McKenzie, Oscar Murillo, Felix Nussbaum, Gerhard Richter, Wolfgang Tillmans, Rosemarie Trockel, Luc Tuymans, Peter Wächtler und weiteren zu besichtigen sind.
- Noch bis zum 20. Mai 2017 läuft die Solo-Austellung „Christopher Williams – Open Letter: The Family Drama Refunctioned?“ in der David Zwirner Gallery, London.
Christopher Williams lehrt seine Studenten die Kunst, mittels Fototechnik zielgenau Illusionen zu erzeugen; was es dabei alles zu beachten gibt, zeigt z. B. der vollständige Titel von „Erratum“:
„Erratum, AGFA Color (oversaturated), Camera: Robertson Process Model 31 580 Serial #F97-116, Lens: Apo Nikkor 455 mm stopped down to f90,
Lighting: 16.000 Watts Tungsten 3200 degrees kelvin, Film: Kodak Plus-X Pan ASA 125, Kodak Pan Masking for contrast and color correction, Film developer: Kodak HC 110 Dilution B (1:7), used @ 68 degrees Fahrenheit, Exposure and development times (in minutes):, Exposure Development, Red Filter Kodak Wratten PM25 2’30 4’40, Green Filter Kodak Wratten PM61 10’20 3’30, Blue Filter Kodak Wratten PM47B 7’00 7’00,
Paper: Fujicolor Crystal Archive Type C Glossy, Chemistry: Kodak RA-4, Processor: Tray, Exposure and developement times (in seconds), Exposure Development Red Filter Kodak Wratten #29 8, Green Filter Kodak Wratten #99 15’5 1’10 @ 92 degrees Fahrenheit, Blue Filter Kodak Wratten #9830’5, October 7, 2000“
Nur der Künstler selbst wird nicht genannt, was zum „Konzept des Konzeptkünstlers“ gehört: Christopher Williams fotografiert kaum mehr selbst, sondern lässt die perfekten Inszenierungen in der Bildsprache der Werbung von professionellen Fotostudios anfertigen, nur immer mit einem kleinen, entscheidenden Fehler.
Williams lehrt seine Studenten die Kunst, vollendete Illusionen zu erzeugen, damit sie fähig werden, die Illusionen zu hinterfragen und zu zerstören.
Diese Fähigkeit kann Christopher Williams auch den aufmerksamen Betrachtern seiner Kunst in die Zukunft mitgeben: Den genauen zweiten Blick, der enthüllt, was sich hinter der schönen glatten Oberfläche verbirgt.
In Zeiten von Fake News und schwindendem Vertrauen in die Medien als die berufen Informanten der Öffentlichkeit keine Methoden zur Annäherung an Kunst, sondern Techniken, die Demokratien zum Überleben verhelfen können …
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse