Es ist wenig schmeichelhaft, was die Bilder Artemisia Gentileschis aus der italienischen Gesellschaft des Barock zeigen. Zwar stellt die Künstlerin, die als einzige italienische Barockmalerin gelten darf, historische und biblische Szenen auf ihren Gemälden dar.
Aber aus ihrem Leben ist dann doch genügend bekannt, um eine autobiografische Interpretation zu erlauben: Artemisia Gentileschi – auch bekannt als Artemisia Lomi – stellte insbesondere starke Frauen und Heldinnen dar.
Da ist beispielsweise das Gemälde „Judith enthauptet Holofernes“: Mit kühlem, fast angewidertem Gesichtsausdruck neigt sich Judith zur Seite, während sie das Messer durch den Hals des auf dem Bett ausgestreckten Holofernes zieht, assistiert von einer Dienerin. Da ist kein Mitleid, kein Zweifel ob der Tat zu sehen. Die Figuren sind plastisch und sehr realistisch dargestellt, es fehlt der im Barock übliche Pathos.
Videobeitrag: Große Kunst erklärt – Judith enthauptet Holofernes
Starke Frauen, die tun, was getan werden muss – das ist das Thema der Malerei von Artemisia Gentileschi. Dass ihre Figuren den Geschmack der Zeit trafen, ist offensichtlich: Sie lebte nicht nur von ihrer Malerei, sondern zog dabei auch noch ihre Tochter groß, die sie zusammen mit männlichen Künstlern in ihrer eigenen Werkstatt ausbildete.
Wer war Artemisia Gentileschi?
Artemisia Gentileschi war eine herausragende Malerin der Stilepoche der Barockmalerei. Als Tochter des römischen Künstlers Orazio Gentileschi erblickte in Rom das Licht der Welt. Sie zeigte ihr beeindruckendes Talent mit vielfigurigen Historiengemälden in Städten wie Rom, Venedig, Florenz, Neapel und London.
Artemisia Gentileschi stach im Kunstgeschehen des Barock hervor. Im Vergleich zu Malerinnen der Renaissance wie Sofonisba Anguissola aus Cremona und Lavinia Fontana aus Bologna, die für Porträts und religiöse Gemälde bekannt waren, konnte sich Artemisia Gentileschi als Erste einen ausgezeichneten Ruf als Schöpferin großformatiger Kompositionen mit mythologischen und biblischen Themen erarbeiten.
In der barocken Kunstwelt galt das Historiengemälde als Höhepunkt der Malkunst. Die Werke von Artemisia Gentileschi thematisieren oft Gewaltakte mit weiblichen Hauptfiguren, was möglicherweise mit ihrer Biografie erklärt werden kann – ob dies richtig oder falsch interpretiert wird, ist häufig Gegenstand von Diskussionen.
Talent und traumatische Erlebnisse
Laut Geburtsurkunde im Juli 1593 in Rom geboren, war Artemisia Gentileschi Lomi die Tochter des berühmten römischen Malers und Caravaggio-Anhängers Orazio Gentileschi und seiner Frau Prudenzia di Ottaviano Montoni. Die Mutter starb, als Artemisia erst zwölf Jahre alt wurde.
Zwei ihrer Brüder, die beide den Namen Giovanni Battista trugen, verstarben in den Jahren 1601 und 1603. Bis zum Jahr 1607 war Artemisia offenbar die einzige Frau im Haushalt ihres Vaters, bevor ihre verwitwete Schwester Lucrezia für eine Weile zu ihnen kam. Aufgrund dieser Umstände erhielt Artemisia wahrscheinlich nur wenig oder gar keine Ausbildung, was für Frauen ihrer Zeit üblich war, insbesondere für Frauen aus ähnlichen sozialen Schichten.
Es muss für Artemisia schwierig gewesen sein, erwachsen zu werden. Ihr Vater war sehr beherrschend und folgte dem Verhaltenskodex des frühen 17. Jahrhunderts, der ein autoritäres Auftreten vorschrieb. Um ihre Tugendhaftigkeit zu beweisen, durfte Artemisia das Haus selten verlassen und musste bei Ausflügen immer begleitet werden.
Künstlerische Ausbildung
Ihr Vater bildete sie ab 1608 oder 1609 in seiner Werkstatt aus, genau wie ihre noch lebenden Brüder.
Orazio war jedoch kein Lehrer an einer Hochschule. Artemisia hatte keine Gelegenheit, Kunstwerke zu reproduzieren, die anderen in der Öffentlichkeit und in den Kirchen von Rom zugänglich waren. Ihre Ausbildung beschränkte sich vermutlich darauf, Pigmente zu mahlen, Farben anzurühren und Grundlagen der Malerei zu erlernen, indem sie die Werke ihres Vaters nachahmte.
Möglicherweise studierte Artemisia auch Kupferstiche anderer Künstler.
Orazio Gentileschi erkannte früh das besondere Talent seiner Tochter Artemisia und begann mit ihrer Ausbildung, als sie etwa 13 oder 14 Jahre alt war. Schon mit 16 Jahren malte sie eigenständig und zeigte ein unvergleichliches Talent. In einem Brief von 1612 lobte Orazio Artemisias Fähigkeiten gegenüber Christina von Lothringen.
Ihr erstes signiertes Gemälde “Susannah und die Alten” aus dem Jahr 1610 (siehe weiter unten) bestätigt ihr außergewöhnliches Können, da es voller Reife und Subtilität ist, obwohl sie erst 17 Jahre alt war. Artemisia Gentileschi entwickelte sich zu einer beeindruckenden Künstlerin, die bereits in jungen Jahren große Werke schuf.
Videobeitrag: Wer war Artemisia Gentileschi und wie stellt sie sich in diesem seltenen Selbstporträt dar?
Italienischer Barock ist in erster Linie Caravaggio – und das ist auch in der Werkstatt Gentileschi der Fall. Orazio Gentileschi war nicht nur vom Stil des großen Malers beeinflusst, sondern mit ihm befreundet. Das sieht man den Gemälden der Tochter an. Aber die italienische Barockmalerin entwickelte doch einen sehr naturalistischen Stil, der von den stärker idealisierten Darstellungen ihres Vaters abweicht.
Das erste bekannte Historiengemälde von Artemisia Gentileschi schuf die italienische Barockmalerin im Alter von 17 Jahren, sie datierte und signierte es auch. Heute befindet sich das Gemälde „Susanna und die Ältesten“ in Pommersfelden. Ihre Darstellung lässt keinen Zweifel am sexuellen Übergriff durch die Richter.
Vergewaltigung
Im Jahr 1611 holte Orazio Gentileschi Agostino Tassi (zirka 1580 bis 1644) in seine Werkstatt. Die beiden Maler arbeiteten zusammen am Fresko der Decke des Casino delle Muse im Palazzo Pallavicini-Rospigliosi in Rom. Tassi sollte Artemisia außerdem unterrichten, er war für seine beeindruckenden Landschaftsbilder bekannt. Der stolze Vater Orazio Gentileschi hatte das Talent seiner Tochter erkannt und wollte, dass der Malerkollege ihr bei der Erarbeitung der Perspektive helfen sollte.
Der allerdings vergewaltigte Artemisia im Mai 1611 im Haus des Vaters. Da der Vater die Tat später zur Anzeige brachte, kennen wir die hässlichen Details.
Aus der Prozessakte von 1612, Aussage Artemisia Gentileschis:
Als wir an der Tür waren, stieß er mich ins Zimmer und schloss hinter uns zu. Mit einem Schlag auf die Brust warf er mich aufs Bett, dann fuhr er mit seinem Knie zwischen meine Schenkel und stopfte mir mit einem Taschentuch den Mund, damit ich nicht schreien konnte. Jetzt schob er mir die Röcke hoch, was ihm Mühe bereitete, fuhr mit dem zweiten Knie zwischen meine Beine und steckte sein Glied in meine Scham. Dann ließ er meine Hand los und begann zu stoßen. Beim Hineinstecken spürte ich ein starkes Brennen und einen Schmerz. Ich leistete Widerstand, konnte aber keine Hilfe herbeirufen, weil er mir immer noch den Mund zuhielt. Ich zerkratzte sein Gesicht, riss ihm Haare aus und versetzte seinem Glied, bevor er es hineinsteckte, einen so kräftigen Hieb, dass ein Stückchen Fleisch abging. Doch ließ er sich nicht beirren und fuhr mit seinem Treiben fort. Er stieg erst von mir herunter, als er seine Sache erledigt hatte. Als ich frei war, rannte ich zur Tischschublade, nahm ein Messer heraus, stürzte auf Agostino los und schrie: ,Mit diesem Messer will ich dich töten, denn du hast mich geschändet!“
Agostino Tassi war kein unbescholtener Mann. Von Mord bis zur Blutschande reichten die damals bekannten Taten. Artemisia Gentileschi erfuhr, was es bedeutet, eine Frau zu sein: Sie wurde von Tassi mit einem Eheversprechen belogen, musste vor Gericht gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen und sagte unter Folter aus.
Tassi leugnete hartnäckig das Vergehen während des gesamten Gerichtsverfahrens. Er beschuldigte Artemisia des Lügens und konterte alle Anschuldigungen mit dreisten Gegenangriffen. Bei jeder Befragung hatte er eine neue erfundene Geschichte parat. Obwohl sein Vorstrafenregister Mord, Raub und Blutschande umfasste, wurde Tassi nicht gefoltert – die Richter glaubten ihm dennoch.
Im Oktober 1612 endete der Prozess nach acht Monaten ohne nennenswerte Ergebnisse. Tassi kam frei und setzte seine Karriere nahtlos fort, auch Orazio, Artemisias Vater, nahm die alte Freundschaft zu ihm wieder auf.
Für Artemisia hingegen sah es anders aus: Sie musste wiederholt in ihrem Leben für ihr Frausein büßen. Der landesweit bekannte Skandal musste beruhigt werden und ihre öffentliche Reputation wiederhergestellt werden.
Um seiner Tochter trotz der erlittenen Schande ein Auskommen zu sichern, verheiratete der Vater Artemisia mit einem Künstler aus Florenz. Mit ihrem neuen Mann Pietro Antonio Stiattesi siedelte sie noch im selben Jahr nach Florenz über – von dem sie sich bald darauf trennte.
Artemisia blieb zwar mit Stiattesi verheiratet, hatte aber eine vom Ehemann geduldete längere Affäre und reiste ohne ihren Mann durch Europa. Von den zwei Söhnen und drei Töchtern aus dieser Ehe erreichte nur Prudenzia Stiattesi das Erwachsenenalter.
Zwischenstation Florenz: Anerkennung als Künstlerin
Italienischer Barock spielt sich nicht nur in Rom ab: Auch Florenz hatte seine Künstler und Mäzene. Artemisia Gentileschi konnte 1613 ein Gemälde in der Cassa Buonarroti umsetzen, sie entwickelte sich in Florenz zur Hofmalerin der Medici. Und in Charles I. von England hatte sie einen weiteren Schirmherren gefunden.
Schon in Florenz erlangte die Malerin Anerkennung bei Sammlern und Intellektuellen. Sie verkehrte mit Michelangelo Buonarroti dem Jüngeren, einem Schriftsteller, und mit Christofano Allori. Die Accademia delle Arti del Disegno nahm sie am 19. Juli 1615 als erste Frau überhaupt auf.
Artemisia lernte durch Michelangelo Buonarroti dem Jüngeren die bedeutendsten Persönlichkeiten am Hof der Medici in Florenz kennen. Er war nicht nur ihr Freund und Gönner, sondern auch finanzieller Unterstützer für sie und ihren Mann. Zusammen mit ihm malte sie ihr einziges dokumentiertes Werk, die „Allegorie der Neigung“, für die Casa Buonarroti.
Es wird angenommen, dass ihre Verbindung schon lange bestand, da Buonarroti sogar als Patenonkel für ihre Tochter vorgesehen war. Durch ihn erhielt Artemisia Zugang zu einem Kreis von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern und Musikern, was ihr künstlerisches Schaffen und ihren Ruf in Florenz maßgeblich beeinflusste.
Ab August 1615 war Artemisia Gentileschi zusammen mit den Künstlern Agostino Ciampelli, Sigismondo Coccapani, Giovan Battista Guidoni und Zanobi Rosi mit dem Deckengemälde der Casa Buonarotti beschäftigt. Das Werk ist das Einzige, was für ihre Florentiner Zeit dokumentiert ist. In der Darstellung der nackten Allegorie erkennt die Kunstgeschichte ein idealisiertes Selbstporträt der Künstlerin.
Aufträge erhielt sie in dieser Zeit auch von Cosimo II de Medici, dem Großherzog der Toskana und von Christina von Lothringen. Wir kennen einen Brief, den sie 1635 an Galileo Galilei schrieb – den lernte sie vermutlich auch in Florenz kennen.
Weiterbildung in der Florentiner Phase
Der Hof der Medici war wichtig für Artemisia Gentileschi, denn hier wurde sie nicht nur beschäftigt und wirtschaftlich unterstützt, sondern konnte sich auch weiterbilden. Sie schloss sich der Florentiner Kunst an und nahm sich Christina von Lothringen als Vorbild. Die Künstlerin lernte lesen und schreiben, bildete sich in der Literatur und in der Musik fort.
Leider sind die meisten Werke aus der Florentiner Phase verloren. Wir wissen heute, dass sie für Maria Maddalena d’Austria arbeitete, dass sie Werke für Caterina de Medici fertigte. Cosimo II de Medici gab bei ihr eine Version von „Judith enthauptet Holofernes“ in Auftrag, außerdem eine „Diana im Bade“. Auch ein „Herkules“ soll dabei gewesen sein. Letzteres wissen wir, weil Artemisia Gentileschi für den Herkules Ultramarin liefern ließ, die Rechnung aber nie beglich.
Mutter von 5 Kindern trotz künstlerischem Erfolg
Es ist wirklich bewundernswert, wie Artemisia es geschafft hat, trotz ihrer Schwangerschaften so fleißig zu arbeiten. In nur fünf Jahren bekam sie ganze fünf Kinder – Giovanni Battista, Agnola, Cristofano, Prudenzia (auch bekannt als Palmira) und Lisabella.
Nur zwei ihrer Kinder lebten lange genug, um sie nach Rom zu begleiten. Trotz der wachsenden Familie konnte Pierantonio nicht alle Bedürfnisse von Artemisia erfüllen und so begann die Malerin eine Affäre mit Francesco Maria Maringhi. Dieser war ein angesehener Verwalter im Dienst von Matteo Frescobaldi, dem Vermieter einer Immobilie in Florenz an Artemisia.
Artemisias Lebensgeschichte zeigt uns ihre Stärke und Entschlossenheit trotz aller Widrigkeiten ihres persönlichen Lebenswegs weiterhin erfolgreich zu sein.
Schwerer Stand in Rom
Schon im März 1620 waren die Eheleute Gentileschi und Stiattesi wieder in Rom. Die italienische Barockmalerin verkehrte hier mit dem Humanisten und Kunstliebhaber Cassiano das Pozzo, war mit dem französischen Künstler Pierre Dumonstier II. befreundet.
Italienischer Barock der 1620er-Jahre bedeuteten in Rom großformatige Altarbilder. Aber genau dafür erhielt Artemisia Gentileschi keine Aufträge. Sie war die Malerin der Porträts und biblischen Heldinnen und nutzte die nun folgenden sechs Jahre in Rom für eine Neuorientierung. Der spanische Botschafter Fernando Afán de Ribera kaufte eine „Magdalena“ von ihr, des Weiteren erwarb er einen „David“ und einen „Christus segnet die Kinder“.
Noch wichtiger für die italienische Barockmalerin war jedoch Cassiano da Puzo. Er war der Sekretär von Kardinal Francesco Barberini und machte Artemisia Gentileschi mit den ihn befreundeten Künstlern und Künstlerinnen bekannt. Simon Vouet, Nicolas Poussin und auch Giovanna Garzoni gehörten dazu. Vouet fertigte ein Porträt von Artemisia Gentileschi, das diese Beziehungen zeigt.
Artemisia wurde in den 1620er Jahren in frankophonen Kreisen in Rom eingeführt, wahrscheinlich durch Simon Vouet. Vouet und Cassiano dal Pozzo spielten beide eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Vouet wurde Präsident der Accademia di San Luca und malte Gemälde, die Artemisia bewunderte. Dal Pozzo, ein päpstlicher Sekretär und Neffe eines Kardinals, besaß Porträts von Artemisia und beauftragte sie mit einem Selbstporträt.
Sie blieben auch nach Artemisias Umzug nach Neapel in Kontakt. In den 1630er Jahren schrieb sie ihm mit großer Zuneigung und bat um Unterstützung für ihre Tochter.
Drei Jahre in Venedig
Die nächste Station von Artemisia Gentileschi war Venedig. Die Barockmalerin verließ Rom 1626 oder 1627. In Venedig verbrachte sie die kommenden drei Jahre. Wir kennen beispielsweise ein Flugblatt von 1627, dessen Verse drei ihrer Gemälde gewidmet sind.
Ihre Anwesenheit ist in den Briefen des Antonino Collurafi dokumentiert, die veröffentlicht wurden.
Artemisia Gentileschi wurde 1628 vom Grafen von Oñate im Auftrag des spanischen Königs für ein Gemälde bezahlt, das den “Herkules und Omphale” flankieren sollte. Dieser prestigeträchtige Auftrag war ihr erster vom spanischen König und erhob sie n den Kreis der bedeutendsten Maler Europas. Möglicherweise führte dies dazu, dass sie nach Neapel zog, da die Stadt unter spanischer Herrschaft stand und bessere wirtschaftliche Chancen bot.
Die Beurteilung von Artemisias künstlerischer Entwicklung in Venedig gestaltet sich als Herausforderung, da sie anhand eines einzigen Gemäldes aus den Jahren 1626 bis 1630 abgeleitet werden muss: „Esther vor Ahasver“ (1628–1630, The Metropolitan Museum of Art, New York).
In diesem Werk wird die biblische Geschichte der tapferen Esther dargestellt, die ihren Mut beweist, um das jüdische Volk zu retten. Artemisia gelingt es meisterhaft, die Spannung und Bedeutung dieser Szene einzufangen. Die sorgfältige Komposition der Figuren sowie die subtile Behandlung von Licht und Schatten zeugen von ihrem Können als Malerin.
Flucht vor der Pest: Neapel
Wann die Künstlerin in Neapel ankam, wissen wir nicht genau. Allerdings ist sie im Sommer 1630 bereits in der Stadt eingeführt und dürfte den Rest ihres Lebens in Neapel verbracht haben, wenn wir von einem kurzen Aufenthalt in London absehen.
In Neapel entstanden Werke für die Infantin Maria von Spanien, Artemisia Gentileschi korrespondierte mit Cassiano da Pozzo in Rom schriftlich. 1630 datierte und signierte sie die „Verkündigung“, und 1632 die „Clio, Muse der Geschichte“.
Neapel war in dieser Zeit ein teures Pflaster. Trotzdem war die Malerin aus Rom, die ihre Ausbildung in Florenz vollendete und aus Venedig kam, offenbar gut in der Kunstszene etabliert. Sie arbeitete mit anderen, lokalen Künstlern an Gemäldezyklen, hatte Aufträge vom Vizekönig Manuel de Acevedo Zúñiga y Fonseca erhalten, war mit dem Künstler Massimo Stanzione bekannt.
Artemisia ließ sich fast ein Vierteljahrhundert lang in Neapel nieder, abgesehen von einer kurzen Reise nach London Ende der 1630er Jahre. Obwohl sie eigentlich vorhatte, die Stadt zu verlassen und dies in einem Brief an Andrea Cioli ausdrückte, fand sie sich mitten im Chaos des Krieges und den hohen Lebenshaltungskosten wieder.
Dennoch war Artemisia erfolgreich in die neapolitanische Kunstszene integriert und erhielt ihre ersten öffentlichen Aufträge. Ihr erstes Altarbild malte sie im Alter von Ende 30 Jahren.
Im Gegensatz zu anderen “ausländischen” Künstlern wurde Artemisia nicht systematisch von den neapolitanischen Malern verfolgt. Dies könnte daran gelegen haben, dass sie keine direkte Konkurrenz für die großen Dekorationsprojekte der Stadt darstellte und über ausgeprägte soziale Fähigkeiten verfügte. Zudem hatte sie einen Verbündeten in Massimo Stanzione, den sie bereits während ihres Aufenthalts in Rom kennengelernt hatte – er spielte eine wichtige Rolle bei der Beschaffung von Aufträgen für Philipp IV. und die Kathedrale in Pozzuoli.
Artemisia übernahm in den 1630er Jahren wichtige öffentliche Aufträge und bediente eine treue Privatkundschaft in Neapel. Dabei erweiterte sie ihr Repertoire an historischen und biblischen Erzählungen um Allegorien und literarische Themen.
Im Gegensatz zu anderen Künstlern wie Jusepe de Ribera oder Battistello Caracciolo war Artemisias neapolitanische Kunst geprägt von einem eleganten naturalistischen Stil, der als „temperierter Naturalismus und gemäßigter Klassizismus“ beschrieben wurde.
Diese Einflüsse waren unter anderem auf Simon Vouet zurückzuführen sowie auf zeitgenössische Maler wie Massimo Stanzione, Paolo Finoglia und Bernardo Cavallino, mit denen Artemisia eng zusammenarbeitete. Es ist bekannt, dass Artemisia Werke schuf, bei denen mehrere Hände identifiziert werden können – dies könnte teilweise darauf zurückzuführen sein, dass die Anforderungen an ihr Atelier ständig zunahmen und Kundenanfragen erfüllt werden mussten.
Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern war in Neapel üblich; so arbeitete sie beispielsweise mit Landschaftsspezialisten wie Domenico Gargiulo (auch bekannt als Micco Spadaro) oder Architekturmaler Viviano Codazzi zusammen.
In ihren späteren Jahren in Neapel dokumentierte man sogar ihre Kooperation mit Figurenmaler Onofrio Palumbo. Dies mag aus praktischen Überlegungen erfolgt sein – aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer zunehmenden Krankheit hatte sie Verpflichtungen zu erfüllen.
Kurzes Intermezzo in London
In den Jahren 1638 bis 1640 hielt sich die italienische Barockmalerin London auf. Dort unterstützte sie ihren Vater bei den Deckenbildern für das Queen’s House in Greenwich.
Während ihres Aufenthalts in London soll Artemisia an der Gestaltung der Decke der Großen Halle im Queen’s House in Greenwich beteiligt gewesen sein. Orazio Gentileschi erhielt den Auftrag von Königin Henrietta Maria, eine Serie von Deckengemälden zu malen, die das Thema des Friedens darstellen, der über die Künste herrscht.
Ursprünglich für das Haus der Königin gedacht, wurden die Gemälde bis zum Herbst 1638 installiert und später ins Marlborough House verlegt. Die Ikonografie wurde höchstwahrscheinlich bereits vor Artemisias Ankunft in London mit dem Architekten Inigo Jones abgestimmt.
Obwohl es verlockend wäre anzunehmen, dass Vater und Tochter gemeinsam an diesem Projekt gearbeitet haben könnten, ist Artemisias Beitrag nicht dokumentiert und ihre Beteiligung umstritten aufgrund des schlechten Zustands der Leinwände nach ihrer Entfernung aus dem Queen’s House.
Zurück nach Neapel
Ihr Vater starb in London. Im Jahr 1641 kehrte sie nach Neapel zurück – wahrscheinlich war sie direkt bei der Königin angestellt gewesen während ihres Aufenthalts in England.
Ihr letztes bekanntes Gemälde “Susann und die Ältesten” entstand 1652 kurz nach ihrer Genesung von einer Krankheit, als sie fast sechzig Jahre alt war.
Die Steueraufzeichnungen von Neapel wissen noch vom August 1654 von Zahlungen der Malerin zu berichten, danach verliert sich ihre Spur.
Wie lässt sich die künstlerische Handschrift von Artemisia in Kürze beschreiben?
Die Kunst von Artemisia Gentileschi ist stilistisch von Caravaggio und ihrem Vater Orazio beeinflusst, jedoch legt sie mehr Wert auf Realismus und Naturalismus.
Ihre Gemälde zeichnen sich durch kraftvolle Darstellungen aus, die mit satten Juwelenfarben und realistischen Hauttönen beeindrucken. Sie brach mit traditionellen Darstellungen weiblicher Figuren in biblischen und mythologischen Geschichten, indem sie starke Heldinnen präsentierte, die selbstbestimmt handeln können.
Artemisia Gentileschi hat in ihren Werken Frauen als starke, mutige und rebellische Figuren dargestellt, die nicht den typisch “weiblichen” Eigenschaften entsprechen. Diese Darstellungen von Frauen als gleichberechtigt neben Männern oder sogar als Hauptfiguren waren zu ihrer Zeit ungewöhnlich. Kritiker im 20. Jahrhundert lobten ihre kühnen Pinselstriche und die Abwesenheit von jeglicher Schüchternheit und Schwäche in ihren Gemälden.
Als Jugendliche wurde Gentileschi sexuell missbraucht, was sich in vielen ihrer Werke widerspiegelt. Themen wie Machtmissbrauch, Vergewaltigung und Gewalt finden sich häufig in ihren Gemälden wieder.
Es wird vermutet, dass ihr das Malen dieser Motive geholfen hat, ihr Trauma zu verarbeiten und Rache sowie Wiedergutmachung durch ihre Kunstwerke zu suchen.
Italienischer Barock ohne Artemisia Gentileschi? Undenkbar!
Die Künstlerin war eine ungewöhnliche Erscheinung für ihre Zeit, und sie musste sich ihren Platz in der Kunstszene hart erkämpfen. Denn hielt sie allerdings, wie wir aus Berichten wissen, und verteidigte ihn auch. Sie war sich ihrer Lage bewusst, auch das wissen wir aus ihren eigenen Aufzeichnungen.
1916: Späte Würdigung durch Kunsthistoriker
Erst 1916 – etwa drei Jahrhunderte nach ihrem Wirken – widmete ihr der italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi eine ausführliche Studie.
Der Kunsthistoriker lokalisierte, identifizierte, verglich und bewertete die Gemälde von Artemisia Gentileschi. Am Ende war er fest davon überzeugt, dass sie:
Die einzige Frau in Italien, die jemals gewusst hat, was Malerei, Farbe, Mischung und ähnlich essentielle Dinge sind.“
Laut Longhi gehört sie – ungeachtet ihres Geschlechts – zu den “großen Meistern” des 17. Jahrhunderts. Sie wird als Begründerin des “neapolitanischen Caravaggismus” angesehen und ihre Werke müssen sich keineswegs vor Vergleichen mit so anerkannten Zeitgenossen wie Vermeer und van Dyck verstecken (vgl. EMMA: Gentileschi – Die Rache der Künstlerin).
Trotz ihres außergewöhnlichen Talents musste Artemisia viele Rückschläge hinnehmen. Sie wurde Opfer eines öffentlichen Prozesses wegen Vergewaltigung durch einen Kollegen ihres Vaters – ein Ereignis, das ihr Leben stark prägte. Dennoch ließ sie sich nicht unterkriegen und setzte unbeirrt ihren Weg fort.
Die Rezeption ihrer Werke war allerdings lange schwierig. Viele Gemälde wurden anderen (männlichen) Künstlern zugeschrieben, Artemisia Gentileschi wurde geschmäht, verleugnet, unter den Tisch gekehrt. Dass wir heute so viel von ihr wissen, haben wir einigen glücklichen Umständen zu verdanken: Die Künstlerin signierte ihre Gemälde oft, unterhielt eine recht große Werkstatt und wurde rezipiert. Sie stand unter dem Einfluss der niederländischen und französischen Künstler, die sie in Rom kennengelernt hatte – und sie konnte sich zeitweise vor Aufträgen kaum retten.
Die Wiederentdeckung der Artemisia Gentileschi durch Anna Banti
1947 schrieb Anna Banti eine fiktionale Biografie von Artemisia Gentileschi. Diese Biografie war es, die die Kunstgeschichte die stärkste Person des italienischen Barocks wiederentdeckten ließ.
1976 und 1977 waren Gemälde von Artemisia Gentileschi in der Ausstellung „Women Artists“ zu sehen. Seitdem ist die italienische Barockmalerin Legende, Ikone, Vorbild und Projektionsfläche für so manche Fantasie.
Heute wird Artemisia Gentileschi endlich die Anerkennung zuteil, die sie verdient hat. Man feiert sie als Pionierin der feministischen Kunstgeschichte und würdigt ihre bahnbrechenden Beiträge zur Malerei des 17. Jahrhunderts.
Ihr Werk dient weiterhin als Inspiration für viele Künstlerinnen weltweit, die gegen alle Widerstände für ihre Leidenschaft kämpfen. Insbesondere die „Me Too“-Bewegung kann sich mit der starken Frau, die sich in einer reinen Männerwelt behauptete, gut identifizieren.
Artemisia Gentileschi als Galionsfigur der Feminismus-Bewegung
Artemisia Gentileschi hat seit den 1970er Jahren eine besondere Bedeutung für Feministinnen, nachdem die feministische Kunsthistorikerin Linda Nochlin einen Artikel mit dem Titel „Warum gibt es keine großen Künstlerinnen“ verfasste, um diese Frage zu klären.
In diesem Artikel untersuchte sie das Konzept einer “großartigen Künstlerin” und stellte fest, dass Frauen in der Kunst und anderen Bereichen nicht die gleiche Anerkennung wie Männer erhielten, aufgrund von unterdrückenden Strukturen und nicht weil sie weniger talentiert seien.
Nochlin betonte die Wichtigkeit des Studiums von Artemisia und anderen Künstlerinnen, um mehr über die Leistungen von Frauen in der Kunstgeschichte zu erfahren. Das Buch „Gewalt Pflanzer’s & Tugend: Artemisias Judith erschlägt Holofernes“ von Eve Straussman enthält ein Vorwort von Douglas Druick, in dem erwähnt wird, dass Nochlins Artikel Forscher dazu angeregt hat, sich verstärkt darum zu bemühen, Künstlerinnen in die Geschichte der Kunst und Kultur einzubeziehen.
Es gibt jedoch auch kritische Stimmen hinsichtlich einer “Instrumentalisierung” der Malerin für feministische Zwecke und eine zu eindimensionale Betrachtung der Künstlerin.
Artemisias Vergewaltigung wird oft in der feministischen Literatur in den Vordergrund gestellt. Dort wird sie als traumatisierte, aber tapfere und wütende Überlebende dargestellt, deren Arbeitsalltag von Sex und Gewalt geprägt war. Laut Kunsthistorikerin Griselda Pollock (2006) fokussiert sich die Populärkultur oft nur auf diese eine Episode und nicht auf Artemisias beeindruckende Karriere über viele Jahrzehnte hinweg in den wichtigsten Kunstzentren des damaligen Europa (vgl. Artmajeur Magazine: Artemisia Gentileschi).
Feministische Wissenschaftler haben Artemisia längst zur Ikone des Feminismus erkoren, da sie starke Frauen malte und sich in der männlich dominierten Kunstdomäne der damaligen Zeit als erfolgreiche Künstlerin durch setzte sowie alleinerziehende Mutter war. Ein Narrativ, das auch in der heutigen Welt im Kampf vieler Frauen um Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch äußerst relevant und aktuell ist.
Videobeitrag: Artemisia Gentileschi in 8 Gemälden | The National Gallery, UK
Hoch gehandelte Werke
In den 2010er-Jahren stiegen die Preise für Gemälde von Artemisia Gentileschi bereits über 1 Million Euro. 2014 hatte Sotheby’s noch ein „Bildnis Maria Magdalenas“ für 865.500 Euro verkaufen können, in den Jahren 2017 und 2018 wurde fast der doppelte Preis geboten. Den aktuellen Rekord hält allerdings eine „Lucretia“, die im November 2019 für 4,78 Millionen Euro bei Artcurial in Paris verkauft wurde.
Heute sind die Werke der italienischen Barockmalerin in den Uffizien in Florenz zu sehen, hängen im Prado in Madrid und im Metropolitan Museum in New York.
Weitere Gemälde befinden sich in der Schönbornsammlung in Pommersfelden, in London, Ohio und Detroit. Und in Berlin.
Referenzen und Literatur:
- Artemisia (Ausst.-Kat. The National Gallery, London, 2020–2021), London 2020
- Artemisia Gentileschi e il suo tempo, hg. v. F. Baldassari und M.B. de Ruggieri (Ausst.-Kat. Palazzo Braschi, Rome 2016–2017), Rom 2016.
- Orazio and Artemisia Gentileschi, hg.v. K. Christiansen und J.W. Mann (Ausst.-Kat. Museo del Palazzo di Venezia, Rom, 2001–2002).
- Susanna Partsch: Artemisia Gentileschi: Kämpferische Barockmalerin – Kompromisslose Geschäftsfrau – Künstlerin zwischen Florenz und Rom (Reihenweise kluge Frauen), hg. v. Molden Verlag in Verlagsgruppe Styria GmbH & Co. KG (6. März 2023), ISBN-13: 978-3222150807
- Anna Banti: Artemisia. Roman. (=Artemisia) Aus dem Ital. von Sylvia Höfer, hg. v. Fischer-Taschenbuch-Verlag (Fischer-Taschenbücher, 1995) ISBN 3-596-12048-9
- Garrard, Mary D.: Artemisia Gentileschi: The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art, hg. v. University Press Group Ltd, ISBN.13: 978-0691002859
- Carla Heussler: Kunst ist weiblich!: Eine andere Kunstgeschichte von Artemisia Gentileschi bis Yoko Ono. Erfolgreiche Malerinnen, interessante Wiederentdeckungen und gegenwärtige Künstlerinnen im Porträt, hg. v. wbg Theiss; 1. Ed. (22. Sept. 2023)
- ISBN-13: 978-0300256369 By Her Hand: Artemisia Gentileschi and Women Artists in Italy, 1500-1800, hg. v. Yale University Press (30. November 2021),
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Inhaber und Geschäftsführer von Kunstplaza. Publizist, Redakteur und passionierter Blogger im Bereich Kunst, Design und Kreativität seit 2011. Erfolgreicher Abschluss in Webdesign im Rahmen eines Hochschulstudiums (2008). Weiterentwicklung von Kreativitätstechniken durch Kurse in Freiem Zeichnen, Ausdrucksmalen und Theatre/Acting. Profunde Kenntnisse des Kunstmarktes durch langjährige journalistische Recherchen und zahlreichen Kooperationen mit Akteuren/Institutionen aus Kunst und Kultur.