Ernst Ludwig Kirchner gehört heute nicht zu den bekanntesten deutschen Malern, obwohl der bedeutende Maler und Grafiker zu den Gründungsmitgliedern unserer wichtigsten expressionistischen Künstlergruppe, der Dresdener Brücke, gehört.
Kirchner wurde am 6.5.1880 geboren und wuchs in einem gebildeten Haushalt mit naturwissenschaftlicher Prägung auf, die künstlerischen Neigungen sollten zunächst in einem Architekturstudium ausgelebt werden, das er in München und Dresden absolvierte.
Aber schon während der Studienzeit hatte Kirchner an der Münchner Debschitz-Schule Kunstunterricht genommen, seine Bekanntschaften an der neuartigen und reformorientierten Kunstschule haben wahrscheinlich das ihre dazu beigetragen, dass sich Kirchner sofort nach dem Studiumabschlus gegen den Beruf des Architekten entschied.
Er bekräftigte seinen Entschluss, als Künstler durchs Leben zu gehen, am 7. Juni 1905, als er mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden die Künstlergemeinschaft “Brücke” gründete. Wenig später bekamen die Freunde Unterstützung durch Emil Nolde, Max Pechstein und Cuno Amiet, Kirchner lernte in dieser Zeit unentwegt weiter und entwickelte sich unter dem Einfluss der besser ausgebildeten Freunde vom impressionistisch beeinflussten Maler zum echten Expressionisten.
Er malte Landschaften und Stadtansichten und Motive aus der Welt des Varietés, aber vor allem auch immer wieder Menschen, in Porträts und in Akten. Ab 1909 war “Dodo” (Doris Große) Geliebte und Modell, das Kindermodell “Fränzi” (Lina Franziska Fehrmann) teilte er sich mit Heckel und Pechstein.Weil der Erfolg in Dresden auf sich warten ließ, ging Kirchner 1911 nach Berlin, was die Lage zunächst nicht viel verbesserte. Es tat jedoch seinen Bildern gut: Die Farben wurden vorsichtiger eingesetzt, sodass die Bilder weniger “leuchteten”, seine Striche wurden entschiedener, die runden Formen wurden eckiger.
Er verabschiedete sich auch von den schlichten ländlichen Motiven und wandte sich den ersten Straßenszenen zu, solche Bilder passten zur Großstadt und kamen an.
Noch in diesem Jahr nahm er mit anderen Künstlern der Brücke an einer Ausstellung in Berlin teil, Veranstalter war die Neuen Secession unter der Leitung seines Freundes Max Pechstein. Ende 1911 gründeten Pechstein und Kirchner auch noch eine Malschule, das Institut “Moderner Unterricht in Malerei”, die allerdings wenig Erfolge verbuchen konnte.
Als Kirchner dann noch in einer selbst verfassten Chronik der Brücke 1913 seine eigene Bedeutung nach Meinung der anderen Mitglieder übermäßig betonte, kam es zum Streit, Kirchner trat aus und die Gruppe löste sich auf.
Er reiste nun mit seiner frisch gewonnen Lebensgefährtin Erna Schilling, verbrachte wie schon 1908 die Sommer 1912 bis 1914 auf Fehmarn, wo er unvergessene Küstenbilder schuf. Etwa ein Zehntel seines Gesamtwerks in Öl entstand während dieser Sommeraufenthalte, unzählige Zeichnungen und einige Skulpturen.
Dann begann der Erste Weltkrieg, Kirchner meldete sich sofort als Freiwilliger, erlitt aber im November 1915 einen Nervenzusammenbruch und wurde medikamentenabhängig, u. a. von Morphin. Die Nachwelt verdankt diesen Kriegsschrecken einen wunderbaren, fünfteiligen Wandgemälde-Zyklus, den Kirchner 1916 im Sanatorium schuf.
Bisher hatte Kirchner mit seiner Kunst noch kein Geld verdienen können, seine ersten Sanatoriumsaufenthalte wurden von Gönnern finanziert, die Selbstporträts dieser Zeit (“Der Trinker”, “Selbstbildnis als Soldat”) zeigen seine Verzweiflung.
Das Triptychon der Badenden Frauen und weitere großformatige Gemälde wurden jedoch durch Mäzene seit 1914 in Werk-Ausstellungen des Jenaer Kunstvereins gezeigt, in Berlin arbeitete Erna Schilling für ihn und schuf durch ihre Verkaufserfolge die Grundlagen für Kirchners finanzielle Unabhängigkeit und Berühmtheit.
Kirchner selbst ging 1917 in die Schweiz und ließ seine mit Lähmungserscheinungen verbundene Medikamentensucht behandeln, mit Unterstützung von Dr. Lucius Spengler samt Frau und eisernem Willen konnte er 1921 als geheilt bezeichnet werden. Es folgte eine recht stabile Lebensphase, seit etwa dieser Zeit genoss auch Kirchners Kunst eine stetige Anerkennung der avantgardistischen Kreise.
Der Maler selbst wurde jedoch zunehmend exzentrisch, er sah sich von den Kritikern nicht ausreichend gewürdigt, schränkte die Reproduktion seiner Werke ein, schrieb selbst unter Pseudonym Kritiken über seine Kunst und gerierte sich überhaupt immer mehr als schwieriger Mensch. Geschäftspartnern wollte er ungleiche Vertragsbedingungen auferlegen, er war unerreicht misstrauisch, und wenn jemand ihn Expressionisten nannte oder sich auf seine Zugehörigkeit zur Brücke bezog, konnte Kirchner wirklich zornig werden.
Da Kirchner auch immer mehr unter den kalten Wintern in der Schweiz litt, verließ er 1925 zu verschiedenen Besuchen in Deutschland die Schweiz. In Deutschland empfing ihn große Bewunderung, die erhoffte Professur an einer Kunsthochschule kam jedoch nicht zustande.
Um 1925 wandelte sich auch sein Stil noch einmal grundlegend, Kirchners malte nun immer flächiger, bis er gegen Ende der 1920er Jahre einen stark abstrahierenden Stil entwickelt hatte. 1927 schrieb er selbst zum Projekt “neuer Kirchner”, in dem er sich im Gegensatz zu einigen seiner Brücke-Freunde noch einmal entscheidend weiterentwickelte:
… aber ich stelle doch nochmals einen neuen Kirchner auf. Kunst ist doch stete Verwandlung, und das Altwerden in gewohntem Schema ist Handwerk, nicht Kunst.”
So sind seine späten Jahre gekennzeichnet durch eine überraschende Vielfalt der Stile, die eine ungebrochene Experimentierfreude verrät, die Abstraktion ging gegen Ende seines Lebens wieder ein wenig zurück, gegenständliche Bildkomposition mit ausdrucksvollen Licht- und Schattenspielen kennzeichnen seine letzten Werke.
Wo die Entwicklung hingeführt hätte, wird uns immer verborgen bleiben, denn die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte seiner künstlerischen Entwicklung ein Ende: Kirchner wurde 1937 aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen, über 600 seiner Werke wurden aus den deutschen Museen entfernt, eine Auswahl davon als “Entartete Kunst” ausgestellt.
Kirchner kehrte daraufhin in die Schweiz zurück und erschoss sich am 15. Juni 1938 selbst. Die Mehrzahl der Kunstwissenschaftler sahen in Kirchners tiefer Enttäuschung über die Behandlung in Deutschland das Motiv für die Selbsttötung, neuere Untersuchungen vermuten in der schon seit 1933 wieder aufgeflammten Morphiumsucht die Ursache.
Andere betrachten es als Zynismus, wenn gefragt wird, ob die Untaten der Nationalsozialisten erst zu einem Wiederaufbrechen der Sucht oder direkt zur Selbsttötung geführt haben. Auf jeden Fall beweist Kirchner seine Art von bitterem Humor, wenn er bei seinem Selbstmord das Gemälde Schafherde (1938) auf der Staffelei stehen lässt.
Das Gesamtwerk des Malers, Grafikers und Bildhauers Ernst Ludwig Kirchner würdigte beispielsweise das Frankfurter Städel Museum vom 23. April bis 08. August 2010 mit der damals ersten, 170 Werke umfassenden Retrospektive in Deutschland seit 30 Jahren.
Über diese Ausstellung schrieb „Die Welt“-Redakteur Hans-Joachim Müller am 26. April 2010 folgendes:
„EIN EREIGNIS: DIE RETROSPEKTIVE IM FRANKFURTER STÄDEL ZEIGT ERNST LUDWIG KIRCHNER, WIE WIR IHN NOCH NIE GESEHEN HABEN.“
Einen kleinen Eindruck über diese tolle und außergewöhnliche Retrospektive können Sie über das folgende Video erlangen:
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse