Künstler und Kunstwerke beweisen häufig ein außerordentlich gutes Gespür für den Zeitgeist; was sich mitunter an gesellschaftlichen Veränderungen nachvollziehen lässt, wie die rückwärtige Betrachtung der Skulptur–Projekte Münster 2007 beweist.
Die Kunstwerke auf der Skulptur-Projekte in Münster 2007 standen (nicht ganz so geplant) im Zeichen des geschredderten Wohlstandsmülls, sie wollten den übersättigten Kunstbetrachter mit urbaner Herkunft und ziemlich übersättigter Konsumlust provozieren. Außerdem standen sie im Zeichen einer Rückkehr zur Natur, und das war von den Veranstaltern überhaupt nicht mehr so geplant:
Damals erschuf Pawel Althamer, der polnische Künstler zwischen Bildhauerei, Performance, Videokunst und Installation, den nicht nur geistigen „Sciezka“ (Pfad) ins Leere – er ließ mitten in einer Wiese unweit vom zentral gelegenen Aasee einen Trampelweg beginnen, der quer zu allem verlief, was in diesem Naherholungsgebiet über asphaltierte Wege zu erreichen wäre.
Genauer gesagt führte dieser Pfad einfach raus in die Natur, mitten in ein Kornfeld und über dieses hinaus noch weiter in noch mehr Natur.
Althamer hat mit seinem urpolnischen Trampelweg (die Polen gelten als Meister darin, in großen Arealen mit sorgfältig angelegten Wegen sofort die Pfade für die direkten Verbindungen zu schaffen) ins Leere doppelte Weitsicht bewiesen: Je knapper die Natur im Lebensumfeld, desto mehr Menschen suchen wieder das Grün in ihrer jeweiligen Umgebung.
Je gedrängter die großen Kunst-Events des Sommers (2007 u.a. die Skulptur Projekte in Münster, die documenta in Kassel, die Biennale in Venedig), desto mehr Menschen suchen einfach nur Natur statt noch mehr Hochkultur.
So wurde Althamers Pfad mit Freude genutzt, auch auf der Documenta lockte das Schloss Wilhelmshöhe mit dem Bergpark zeitweise mehr Menschen als die ausgestellte hohe Kunst.
Politisch landete Althamer aus der Rückschau einen sarkastischen Volltreffer: Ein großer Teil der Bürger seines erst 1989 von sowjetischem Einfluss befreiten und erst seit 2004 zur EU gehörenden Heimatlandes befindet sich zum Schrecken demokratisch denkender Europäer 10 Jahre später auf finsteren Abwegen …
In Bezug auf die Sehnsucht nach mehr Natur hatte Althamer damals nicht alleine den richtigen Riecher, mehrere andere Künstler entzogen sich dem Ausstellungskonzept „Urbaner Raum“ und schweiften lieber ab ins Grüne, besangen das Wasser oder Laubenpieper oder ließen im Park ein paar Eibenhecken pflanzen.
„Naturmäßig“ haben all diese Künstler in der Rückschau sowas von richtig gelegen: Seit 2009 wird in immer mehr Mega-Cities „Vertikal Farming“ betrieben, Gärten werden seit mehreren Jahren wieder gepflegt und verstärkt angelegt, Balkone (und öffentliche Baumscheiben, und jedes freie Fleckchen Erde in mancher mittelgroßen Stadt) werden wieder bepflanzt, immer mehr Fassaden, Dächer und Mauern ergrünen.
Andere Künstler blieben in der realen Welt und entzogen sich dem Urban-City-Konzept nur insoweit, dass es statt gefälliger Stadtverschönerung Konsumkritik hagelte: Recycling-Velo von Guy Ben-Ner; der „Streichelzoo“ mit unheimlichem Tiefgang Mike Kelley; Silke Wagners menschliche Riesen-Litfaßsäule, die Konsumtempel-Verdummte zurück zur öffentlichen Diskussion führt; gutgepflegte Wohnwagen-Melancholie von Michael Asher; geschredderte Konsumkunst (Buddy-Bären, Hummel-Hummel-Figuren ff.) von
Andreas Siekmann; und Isa Genzken, die mit dem Überfluss-Müll unendliche und unerfreuliche Geschichten erzählt: bit.ly/2Eq6gJV.
„Vielleicht wird der Megasommer 2007 der Anfang einer neuen Bescheidenheit“, heißt es schon damals vereinzelt angesichts dieser (meist aber eher kritisch beäugten) Versammlung.
Heute, 16 Jahre später, erfahren viele deutschen Bürger diese neuen Bescheidenheit, ob durch freiwilligen Verzicht oder Versagen der Politik.
„Diese Kunst kann man nicht verkaufen“ haben die Grün-Flüchter, Wasser-Besinger, Fahrrad- und Vernunftretter in Münster dann auch noch leise gerufen; heute wird von einem Kollaps des hochpreisigen Kunstmarkts nicht mehr nur geflüstert.
Ebenfalls im Jahr 2007 fand in einem kleinen Dorf an der deutsch-niederländischen Grenze namens Oeding die Ausstellung „Mit Kunst gegen Rechts“ statt.
Erst wenn Deutschland die inzwischen eingetretenen Folgen dieser Vorahnung endgültig abgewendet hat, sollten wir uns wieder ein typisches Isa-Genzken-Lachen gönnen: Entspannend, befreit, wie nach einer großen Konzentration (abgewandeltes Zitat des Kulturwissenschaftlers Diedrich Diederichsen).
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse