Hans Haacke wurde 1936 in Köln geboren und lebt zum Teil Teil dort, seit 1962 hat er aber auch einen gut genutzten ständigen Wohnsitz in New York.
Haacke zählt zur Crème de la Crème der international bekannten Konzeptkünstler. Der ebenso scharfsinnige wie unbequem demokratische Absurditäten anmahnende Künstler erregte während seiner Karriere öfter einmal Aufsehen; fast immer waren es die politischen Aspekte seiner Arbeiten, die Unruhe stifteten.
Hans Haacke belegt aktuell Platz 215 in der Weltrangliste der Kunst, hat diesen illustren Rang aber erst im Zuge der Ausstellungen und Öffentlichen Ehrungen rund um seinen 75. Geburtstag erreicht.
Noch 2005 lag er gut 350 Plätze weiter unten, „bisschen abgeschlagen“ für das langjährige und tätige Schaffen des Künstlers und seiner immer viel Aufmerksamkeit erregenden Kunst. Ein Blick auf die nicht immer nur fein zurückhaltende Kunst von Hans Haacke lässt vermuten, dass Haackes kritisches politisches Engagement dabei eine ziemlich gewichtige Rolle spielt:
Kunst von Hans Haacke
Haacke hat bereits in seinen frühesten Arbeiten als Konzeptkünstler Systeme und Prozesse thematisiert; als junger Künstler widmete er sich zunächst Interaktionen physischer und biologischer Systeme, er „installierte“ Tiere und Pflanzen, Wasser und Wind.
1965 entstand der „Condensation Cube“ (Kondensationswürfel), Plexiglas mit Wasser, 76 x 76 x 76 cm: Bild von Flickr öffnen.
Eine Annäherung an den unendlichen Wasserkreislauf der Natur, der sogar in plexiglas versiegelt unbeirrt in Gang bleibt. Eine Annäherung auch an den Kunst-Rezipienten, denn der Kondensationswürfel reagiert auf Licht, Luftströmungen und Temperatur. Auch auf Körpertemperatur, der Körper eines einzelnen Menschen gibt immerhin (leistungsunabhängig) um 100 Watt ab.
Zum Vergleich: Heizkörper in nach heutigen Standards normal gedämmten Häusern werden auf eine Leistung von 100 Watt pro qm ausgelegt. Je mehr Besucher, desto wärmer das Museum und damit auch das Innere des Würfels (wenn die Haustechniker im Museum angewiesen wurden, temperaturangleichende Heizungsthermostate auszuschalten) – desto mehr Verdunstung, Kondensation und Niederschlag im „Condensation Cube“.
Das soll Kunst sein? Den Wasserkreislauf hat Ihnen der Physiklehrer erklärt? Ja, schon, der „Condensation Cube“ ist schon deshalb Kunst, weil Hans Haacke ihn als Kunst hergestellt hat; wirft in Bezug auf die Annerkennung als Kunstwerk aber auch wenig Diskussionen auf, weil er unbedingt eine ästhetische, geheimnisvolle, künstlerische Ausstrahlung hat.
Aus einem physikalischen Naturphänomen Kunst zu machen, passt zu Hans Haackes Auffassung von Kunst, der sich später wie folgt äußerte:
„Ich glaube, dass eine rationale, beinahe positivistische Herangehensweise tatsächlich an einen Punkt geführt werden kann, an dem sie zu etwas sehr Poetischem, Schwerelosem und Irrationalem aufblüht.“ (postwar.hausderkunst.de/).
Das war aber nicht Haackes einzige Intention. Er wollte mit dem Cube auch gleich die üblichen Gepflogenheiten in der Welt der Kunstpräsentation ein wenig aufmischen: Der Museumsbesucher, der das physikalische Phänomen betrachtet und dadurch beeinflusst, wird zusammen mit der Kunst zum kulturellen Phänomen.
Der sich ständig verändernde Kondensationswürfel gehört zu den ersten Kunstwerken, die nicht statisch wie die normale, konservative Skulptur auf den Blick des Besuchers warten, sondern den Besucher einbeziehen, seine Sinne anregen, ihn durch Wandlung neugierig machen.
Kunst, die den Besucher einbezieht, entwickelte sich in den 1960er Jahren „in alle Richtungen“: Als Cybernetic Art, Process Art, Conceptual Art, Systems Art oder Systemic Art (eng verwandt mit, hervorgehend aus, überlappend mit Anti-Form Movement, Generative Systems, Systems Aesthetic, Systemic Painting and Systems Sculptures).
Ein Teil dieser Kunststile spielt mit dem Material, der Idee von der Kunst und/oder dem Zuschauer (Konzeptkunst, die aus der Performance hervorgegangene Prozesskunst), ein Teil beschränkt sich auf einen technischen, aber völlig neuen Umgang mit dem Material (kinetische Kunst, die für viele ihren Höhepunkt in den freundlichen Höllenmaschinen eines Jean Tinguely fand).
Der „Condensation Cube“ hat übrigens derartige Berühmtheit erlangt, dass er 2006 für die Sammlung des Museu d’Art Contemporani de Barcelona wieder auferstand.
Haacke gehört zu den Konzeptkünstlern, die mit Material und Kunst-Betrachter einiges vorhaben, seine Idee von der Kunst sollte sich jedoch noch ganz entscheidend weiterentwickeln: Das hier früh gezeigte kritische Interesse für die Bedingungen, unter denen Kunst produziert und ausgestellt wird, blieb nicht auf die Kunst beschränkt, sondern er beschäftigte sich bald mit der Gesamtgesellschaft und wandte sich damit der Politik und ihrer Kritik zu.
Vorher experimentierte Haacke noch ein bisschen, mit einigen Ansätzen in Richtung „Land Art“. Bei der „Land Art“ wird die Landschaft zur Kunst, wie in Haackes „Grass Grows“ (1967-1969, Bild von Grass Grows öffnen), aber so ganz hat Haacke mit seinem Indoor wachsenden Grashügel die Zivilisation doch noch nicht verlassen …
Andere LandArt-Künstler begeben sich in einen etwas tieferen Kontakt mit der Natur, Andy Goldsworthy zum Beispiel ruft Zweige und die Kiesel im Flussbett zur Ordnung (kurzelinks.de/h38x), holt die Sterne aus dem Eis (Bild öffnen) und macht Bäumen warme Füße (Bild öffnen).
Hans Haacke kehrte recht schnell wieder zu 100 % in die Stadt zurück und wandte sich ebenso zügig Politik und Gesellschaft zu, erst einmal in einer kritischen Betrachtung von Wirtschaft, Politik und Kunst:
1971 sollte eine Hans Haacke gewidmete Einzelausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum New York stattfinden. Hans Haacke legte die Installation „Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, A Real Time Social System, as of May 1, 1971“ vor, in der er sich mit Immobilienbesitz und -spekulation eines der wichtigsten New Yorker Player beschäftigt.
Die Arbeit enthüllt in einer akribischen, mit Fotos versehen Dokumentation die fragwürdigen Transaktionen rund um Harry Shapolskys Immobilien-Unternehmen in den Jahren 1951 bis 1971. Haacke thematisiert auch die immer wieder auftauchenden Spekulationen über Verstrickungen einzelner Treuhänder des Guggenheim Museums in die dokumentierten Immobiliengeschäfte.
Sechs Wochen vor der Eröffnung wurde die Ausstellung durch den damaligen Direktor des Guggenheim Museums abgesagt, weil die von Haacke vorgelegte Installation keine angemessene Kunst für das Guggenheim Museum sei; es handele sich um eine soziale Studie und eine eindeutige Stellungnahme des Künstlers und nicht um „neutrale Kunst“.
Neutrale Kunst? Damit hat der Direktor eines der wichtigsten Museen der Welt kundgetan, das er von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit hält; Haackes verschmähte Arbeit wurde zur Ikone der politischen Konzeptkunst und zum historischen Wahrzeichen, das z. B. 2007 im Whitney Museum of American Art wieder ausgestellt wurde, hier eine Teilansicht der Installation auf dieser Ausstellung: Bild öffnen.
Edward F. Fry, der Kurator der Ausstellung, solidarisierte sich mit Haacke und wurde entlassen, Direktor Thomas M. Messer blieb bis 1988 Direktor des Solomon R. Guggenheim Museum in New York, der Peggy Guggenheim Collection in Venedig und der Solomon R. Guggenheim Foundation.
Nach dem Ärger mit dem Guggenheim und New York wandte Haacke sich nach Europa und seiner Heimat Deutschland, hier wurde seine Arbeit mehr und öfter akzeptiert.
Aber auch hier eckte der Künstler an: 1974 dokumentierte Haacke in Köln die Provenienz des „Spargel-Stillebens“ von Édouard Manet. Inklusive Ankauf für die Kölner Sammlung, die auf Initiative des damaligen Vorsitzenden des Fördervereins geschah, inklusive Rolle dieses Vorsitzenden (Hermann Josef Abs) im Dritten Reich.
In den späten 1980er Jahren erweiterte Hans Haacke sein Spektrum noch einmal; er begann mit großen skulpturalen Installationen und arbeitete zunehmend im Bereich der Malerei.
Was auch nicht lange friedlich abging: 1990 malte Haacke den „Cowboy with Cigarette” mit Kohle und Tinte auf Pastellpapier, Bild öffnen. Die Verwandlung eines klassischen Picasso in Zigarettenwerbung war Haacke Reaktion auf die finanzielle Unterstützung der Kubismus-Ausstellung „Picasso and Braque: Pioneering Cubism“ im MoMA durch den Tabak-Konzern Phillip Morris und wirbelte einige Unruhe auf.
1990 rauchte es auch im gerade wiedervereinigten Deutschland, Hans Haacke erfasste Zeitgeist und Chef-Wende-Protagonisten im Multiple „Silberblick“: Ein fotografisches Porträt von Helmut Kohl mit 1 DM und 2 Ostmark auf der Brille und dem genau passendem „feisten Grinsen“ auf den Lippen: Bild öffnen.
Ein Kunstwerk, dass vielen Deutsche unabhängig von Wurzeln in Ost oder West auch heute noch sauer aufstößt; vor allem wenn sie daran denken, wie „treuhänderisch“ manche Treuhand-Mitarbeiter ihren Job erledigten und dass die meisten Täter straffrei ausgingen oder noch nicht einmal angeklagt wurden (Dokumentation „Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand“, zuletzt gesendet 06.10.2016 im SWR.
1993 bestückte Haacke mit der Installation „Germania“ den Deutschen Pavillon auf der 45. Biennale von Venedig. Die Installation erschafft exakt die Atmosphäre Hitlerscher Schauderbauten: Bild öffnen und sollte an die Wurzeln der Biennale in der Kulturpolitik des faschistischen Italien erinnern.
Haacke hatte dazu den Marmorboden des noch von den Nazis gestalteten deutschen Pavillons in den Giardini von Venedig aufgestemmt und wie auf dem Foto dargestellt liegengelassen … Haacke wurde (zusammen mit Nam June Paik) mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Im Jahr 2000 wurde Hans Haackes Kunstprojekt „Der Bevölkerung“ im deutschen Reichstagsgebäude installiert. Im nördlichen Lichthof gibt es seitdem einen Kasten, in den Mitglieder des Bundestages Erde aus ihrem Wahlkreis füllten und nun verschiedene Pflanzen aus zufällig gelandeten Samen sprießen.
In der Mitte des Kastens leuchtet der Schriftzug „DER BEVÖLKERUNG“, der von allen Etagen des Bundestages aus zu lesen ist. Hans Haacke bezieht sich hier auf den berühmten Schriftzug „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ am Reichstag.
Haacke stellt den Bedeutungsunterschied zwischen Volk und Bevölkerung klar: Das „Volk“, eigentlich nicht mehr als das Staatsvolk aus allen Staatsangehörigen, trat in Deutschland das letzte Mal als Volksgemeinschaft in Erscheinung, indem es gedanken- und mitleidslos für einen selbst ernannten Führer Verbrechen beging.
Mit Verstand und Herz ausgestattete Deutsche sehen das Grauen im deutschen Volk, seit langer Zeit und für alle Zeiten. So hat sich Hans Haacke bei seiner Aktion von einem Satz Brechts inspirieren lassen: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“
Denn sie erkennen die wahre Intention von Politikern, die – präsent auf allen Kanälen – das deutsche Volk beschwören, statt wie die meisten Politiker in mühevoller unspektakulärer Kleinarbeit Probleme der deutschen Bevölkerung zu lösen.
Auch wenn die eigenen Lügen, das Verbergen der Unfähigkeit, irgendwelche Probleme zu lösen, durch die Erfindung einer Lügenpresse verschleiert werden soll. Immer wenn es ein wenig kompliziert wird, stehen den einfachen Lösungen einfach Lügen im Weg, und Politiker solcher Couleur kennen Schriftsteller wie Bertolt Brecht sowieso nicht, deren Schreibe ist ihnen auch zu kompliziert.
Das schönste Foto vom Kunst-Projekt wurde übrigens aufgenommen vom saarländischen Grünen-Bundestagsabgeordneten Markus Tressel. Auf der zum Projekt gehörenden Website derbevoelkerung.de können Sie sich das tägliche Erscheinungsbild des Kunstwerks ansehen, zur Zeit der Entstehung dieses Artikels 11.2016 in knapp 12.000 Bildern (die im Hof des Reichstags installierte Webcam macht täglich um 14 und um 20 Uhr eine Aufnahme).
2006 ließ Haacke für das Werk „Kein schöner Land. Weil sie nicht deutsch aussahen“ die Fenster der Fassade der Akademie der Künste Berlin zeitweise mit Plakaten überkleben, auf denen die Schicksale der 46 Todesopfer des rechtsextremen, gewaltbereiten Fremdenhasses in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 geschildert wurden: kurzelinks.de/8fp3.
Bis 5. September 2016 stand Haackes „Gift Horse“ auf der Fourth Plinth am Trafalgar Square London. Mehr zur Fourth Plinth erfahren Sie im Artikel „München lädt zum Kunst-Spaziergang: „A Space Called Public – Hoffentlich Öffentlich““. Das „Gift Horse“ referenziert hochherrschaftliche Reiterstandbilder, „Pferdekünstler der Nation“ George Stubbs ist auch gleich nebenan in der National Gallery zu besichtigen.
Haackes Bronzepferd ist allerdings schon zum Skelett abgemagert, weil die hohen Herrschaften von heute kein Interesse am wirklichen Leben mit Pferden, Hunden und Menschen, sondern nur noch Augen für den Liveticker mit den Aktienkursen haben (den das „Gift Horse deshalb auch wie ein „Geschenkband“ drapiert um den Vorderlauf trägt).
Trotzdem ein Werk von unbedingter Ästhetik; und wenn die Presse bemängelt, dass Hans Haackes Mahnung gegen die Übermacht des Geldes in London wenig Biss habe, hätte der jeweilige Autor gerne einen Vorschlag beisteuern können, wie man laut in die Welt posaunte, mit geringstem Aufwand erkennbare Lügen von Populisten besser richtig stellt.
Noch lauter die Wahrheit herausschreien? Vielleicht, vielleicht wären die Briten dann dem Brexit entgangen (der auf der Fourth Plinth gerade von David Shrigley Überdaumen „Really Good“ kommentiert wird, Bild öffnen).
Und vielleicht arbeitet Hans Haacke bereits an einer ausreichend bissigen Skulptur des neuen amerikanischen Helden – der in Wirklichkeit der Held nicht sehr vieler Amerikaner ist. Die eigentlichen Unterstützer der ideenpolitisch auf trotzigen Gegenkurs beschränkten Neuauflage des Manchester-Kapitalisten sind die von der schönen neuen Arbeitswelt abgehängten weißen Industrieproletarier, uninteressierte Männer in fortgeschrittenem Alter, die sich weder zu neuer Orientierung noch zu Vernetzung und Engagement für die eigenen Interessen aufraffen können.
Das sind nur ein paar tragische Figuren; der Rest hat „einfach mal so“ der schlecht funktionierenden politischen Riege einen Nicht-Politiker vor die Nase gesetzt, statt sich als demokratischer Staatsbürger darum zu kümmern, dass die politische Riege wieder funktioniert. Wie die Briten „einfach mal so“ aus Ärger über die eigene Regierung der EU den Rücken gekehrt haben, mit bereits spürbaren desaströsen Folgen gerade für die am lautesten wetternden Bevölkerungsschichten.
Etwa gleich logisch und effizient wäre es, bei der nächsten Formel-1-WM die PS-Cracks durch die „besser fahrenden und besserwissenden“ Zuschauer der ersten Reihen zu ersetzen. Es wäre vermutlich auch ähnlich gefährlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass Fahr-Anfänger mit 900-PS-Geschossen über die Bande in den Zuschauerraum fahren, ist ebenso berechenbar wie die Wahrscheinlichkeit, dass die vom Polit-Anfänger zusammengestellte Regierung die USA an die Wand fährt.
Die neue Lichtgestalt der Amerikaner glaubt an an menschliche Zuchtauswahl durch Paarung „geeigneter Exemplare“ und zählt sich selbst zu den „zuchtwürdigen Qualitätsmenschen“, mit fünffach bewiesenem Erfolg.
Allein diese Tatsache liefert genug Stoff für bissige Kunst, weitere Ideen könnten die an Stephen Kings „Dark-Tower-Zyklus“ erinnernden Initialen erzeugen – immerhin geht es in der Fantasy-Saga um genau die Welt im postapokalyptischen Zerfall, zu der Amerika durch diese Wahl mutieren könnte (das mit der Zucht ist kein Scherz, sondern nachzulesen z. B. in Deutschlandfunk Kultur: Wer wählt Donald Trump – und warum?).
Hans Haackes Weg zur Kunst
Hans Haacke hat Kunst studiert, 1956 bis 1960 an der Staatlichen Werkakademie Kassel (ab 1960 Staatliche Hochschule für bildende Künste Kassel).
Nach dem 1. Staatsexamen folgte 1960 ein Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes in Paris.
1961 bis 1962 studierte Haacke als Fulbright-Stipendiat an der Tyler School of Art der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania.
Mit dem amerikanischen Fulbright-Programm werden seit 1946 Stipendien für Studien-, Forschungs- und Lehraufenthalt in den USA vergeben. Die Anfänge gehen auf die Initiative von US-Senator James William Fulbright zurück, der vor 1945 per Rhodes-Stipendium in Großbritannien studiert hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg das Verständnis zwischen den USA und anderen Staaten durch akademischen und kulturellen Austausch fördern wollte; die Anlauf-Finanzierung erfolgte über den Verkauf überschüssiger US-Kriegsgüter.
Inzwischen ist das Fulbright eines der prestigeträchtigsten Stipendienprogramme weltweit; seit seiner Gründung wurden weltweit über 318.000 Stipendiaten gefördert, mit herausragenden Erfolgen: 10 Fulbright Alumni wurden bisher in den US Kongress gewählt, 31 wurden Regierungs- oder Staatschef und 20 Außenminister ihrer Heimatländer.
54 Fulbright Alumni aus 14 Ländern erhielten den Nobelpreis und 82 den Pulitzer-Preis; Fulbright Alumni Javier Solana wurde Generalsekretär der NATO und Fulbright Alumni Boutros Boutros-Ghali wurde Generalsekretär der Vereinten Nationen.
Mittlerweile sind mehr als 180 Staaten weltweit Vertragsparteien der USA im Fulbright-Programm, zur Zeit werden mit ca. 8.000 Stipendiaten pro Jahr mehr Menschen denn je gefördert. Das Fulbright-Programm wird durch eine Fülle von bilateralen Verträgen und Vereinbarungen geregelt und beweist damit „schlappe 70 Jahre“, dass auch für die Vertragsparteien vorteilhafte Verträge mit den USA möglich sind.
Vereinbarungen über Handelsbeziehungen wie TTIP, seit Jahrhunderten gang und gäbe zwischen Staaten, könnten sicher auch den europäischen Vertragsparteien Vorteile bringen. Während dieser Artikel geschrieben wird, stirbt TTIP gerade unter dem Aufbegehren erboster vor allem deutscher Bürger. Über fast jedem Medienbericht zum Schicksal von TTIP schwebt der Tenor: „Jetzt haben wir es den Chlorhühnchenessern aber gegeben!“
Die nähere Beschäftigung mit TTIP hätte vielleicht weniger krude Übervorteilungsabsichten der US-amerikanischen Verhandlungspartner enthüllt, als die erbosten Bürger befürchteten … und diese Verärgerung der europäischen/deutschen Bürger hätte sich vielleicht ohnehin erst einmal gegen die eigenen, in die Verhandlungen involvierten Volksvertreter richten sollen und nicht gegen den Vertragspartner: Die bisher festgestellten Demokratiemängel betreffen momentan alle eher „Good Old Europe“ (in einem nicht zu unterschätzenden Maße Deutschland) und nicht die Seite der USA:
Die Europäische Kommission verhandelte im Namen auch der Deutschen geheim mit dem US-Handelsministerium; unsere Volksvertreter durften die komplizierten juristischen Texte von ein paar tausend Seiten in einem speziellen Leseraum lesen, ohne Kopiermöglichkeit (das ist Verhöhnung, keine Information); und die Öffentlichkeit (samt Medien) sollte den Text des Abkommen sowieso erst nach Ende der Verhandlungen zu Gesicht bekommen.
Inzwischen hatte sich die Europäische Kommission zu etwas mehr Transparenz bequemt, Bundestagspräsident Norbert Lammert hat zusammen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Oktober 2015 offiziell für jeden EU-Mitgliedstaat Einsichtnahme in die Verhandlungsunterlagen gefordert und die Zustimmung zu TTIP von dieser Transparenz abhängig gemacht; zahlreiche TTIP-Texte wurden über TTIP-Leaks veröffentlicht (Greenpeace: Trade Leaks by Greenpeace) – alles zu spät, die TTIP-Verhandlungen wurden bis nach den Präsidentschaftswahlen ausgesetzt und sind mit dem neuen Präsidenten-Glück in Amerika nun wohl höchstwahrscheinlich für mindestens 2 Jahre gestorben.
Sicher gut so in Bezug auf die Geheimverhandlungen, in zwei Jahren dürfte auch der letzte Politiker begriffen haben, dass geheimes Herrschaftswissen in Internetzeiten nicht mehr geheim zu halten ist.
Die Arbeit von Hans Haacke hat ihren Anteil dazu beigetragen, dass die in ihrem Land und nicht gegen ihr Land lebenden Bürger heute entschieden Transparenz darüber einfordern, wie sie regiert werden … wenn wir die Kurve kriegen und die Welt nicht von rechten Populisten in überwundene Stadien der Zivilisation zurückführen lassen, was im Extremfall in ein Zurückbomben in vorzivilisatorische Zeiten ausarten könnte.
Zurück zu Hans Haacke und seiner Ausbildung: 1973 erhielt der damals schon in der USA wohnende Hans Haacke durch zweites Stipendium der John Simon Guggenheim-Foundation die Möglichkeit, eine Zeit lang völlig frei künstlerisch zu arbeiten.
Haacke und Haacke-Kunst im öffentlichen Auftritt
Die ersten Gruppenausstellungen Haackes fanden 1962 im Stedelijk Museum Amsterdam („NUL“), 1963 in der Künstlersiedlung Halfmannshof in Gelsenkirchen und 1964 im New Vision Centre in London statt. Die Ausstellungen von 1963 und 1964 hatten bereits das Werk der Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO im Fokus, in der Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker die Nachkriegskunst von ihrem „Übermaß an Ballast“ befreien wollten.
Mit ZERO unternahm Hans Haacke 1964/1965 seinen ersten Zug durch die internationale Kunstwelt, von der University of Pennsylvania, Philadelphia zur Washington Gallery of Modern Art, Washington DC und dann nach Italien, Venedig, Turin, Rom, Brescia. Die erste Einzelausstellung, „Hans Haacke. Wind und Wasser“ in der Galerie Schmela in Dusseldorf schloss sich 1965 unmittelbar an.
1978 fand eine Haacke-Soloausstellung im Museum of Modern Art Oxford statt (mit „A Breed Apart“, Kritik am Staatskonzern British Leyland wegen Exporten in rassistische Staaten wie das damalige Südafrika). 1972 (Documenta 5), 1982 (Documenta 7) und 1987 (Documenta 8) nahm Hans Haacke an der documenta in Kassel teil.
1993 bestückt Haacke mit Nam June Paik den Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig, 1984 nimmt er an der Ausstellung „Von hier aus – Zwei Monate neue deutsche Kunst“ in Düsseldorf teil, 1988 stellt er in der Londoner Tate Gallery aus (u. a. mit dem Thatcher-Portrait „Taking Stock“, auf den Tellerchen hinten grinsen Maurice and Charles Saatchi, Kunstmäzene und politische Macher von Thatcher und dem auch nicht gerade für zarten Feinsinn bekannten Südafrikanischen Premier P. W. Botha), 2012 ehrte ihn das Museo Reina Sofía in Madrid mit einer umfangreichen Werkschau.
Insgesamt hat Hans Haacke zu dieser Zeit 50 Jahre Ausstellungshistorie hinter sich, mit rund 30 Einzelausstellungen und rund 350 Gruppenausstellungen.
Ein bisschen wenig, wenn man sich Haacke Umfeld in der Weltbestenliste der Kunst anschaut. Diese Weltrangliste der Kunst wird von der Artfacts.Net Ltd. erstellt, die öffentliche Präsenz eines Künstlers wird computergestützt ausgewertet und bleibt somit frei von den Wertungen möglicherweise nicht unvoreingenommen urteilender Kunstwissenschaftler.
Dieser Ansatz erschien der Autorin im Rahmen der von ihr angestrebten möglichst objektiven Berichterstattung passend, er dürfte sicher auch dem demokratisch engagierten Hans Haacke gut gefallen.
Auf gleichem Niveau wie Haacke (Rang 215) bewegen sich Jackson Pollock (Rang 212, um 550 Ausstellungen), Jean Michel Basquiat (Rang 216, um 470 Ausstellungen) und die junge rumänische Künstlerin Mircea Cantor (Rang 217, um 300 Ausstellungen seit dem Jahr 2000).
Emil Nolde 1867-1956 (Rang 213, um 700 Ausstellungen), Edgar Degas 1834-1917 (Rang 214, um 600 Ausstellungen) und Claude Monet 1840-1926 (Rang 218, um 600 Ausstellungen) heben sich noch deutlicher ab, allerdings gehen hier sechs Jahrzehnte bis fast ein Jahrhundert posthumane Ausstellungsgeschichte in den Vergleich ein.
Wie dem auch sei, es fällt auf. Dazu passt, dass Hans Haacke vom deutschen Staat nur sehr zurückhaltend ausgezeichnet wurde (2004 Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum, 2006 Rolandpreis der Stiftung Bremer Bildhauerpreis für Kunst im öffentlichen Raum); der 20 Plätze hinter ihm rangierende Wolf Vostell hat es z. B. auf die dreifache Menge deutscher Auszeichnungen gebracht.
Die Frage danach, wie viel die gegenüber Künstlern vergleichbarer Prominenz deutlich geringere Ausstellungspräsenz/Auszeichnungshäufigkeit Hans Haackes damit zu tun hat, dass von ihm bei jeder neuen Ausstellung auch neue politische Unbequemlichkeiten zu erwarten sind, wird jedoch kaum zu klären sein.
Aber „Fragen stellen“ ist der Anfang eines jeden politischen Willensbildungsprozesses, und Hans Haackes Fragen werden weiter gestellt. Seine Ausstellungsgeschichte setzt sich gerade in diesen bereits laufenden oder demnächst geplanten Ausstellungen fort:
- bis 08. Januar 2017: „Wir nennen es Ludwig. Das Museum wird 40!“, Museum Ludwig Köln
- ab 01. Juni 2017: „Macba Collection 31“, Museu d’Art Contemporani de Barcelona
- ab 02. Juni 2017: „Serielle Formationen. Frankfurt 1967 – Re-Inszenierung der ersten deutschen Ausstellung internationaler minimalistischer“, Daimler Contemporary Berlin
In der Zukunft sind ganz sicher noch sehr viele Ausstellungen zu erwarten, auf denen Kunst von Hans Haacke zu sehen ist. Vorausgesetzt natürlich, dass die Individuen, die politische Mitgestaltung verweigern, aber daraus resultierende negative Veränderungen ihrer Lebenssituation ausgerechnet durch Rechtspopulisten reparieren lassen wollen (die den Teufel tun werden, wie die historischer Erfahrung gerade die Deutschen nur zu gründlich gelehrt haben sollte), nicht weitere Erfolge feiern.
Sie könnten unsere Freiheit und damit auch die Freiheit der Kunst in ernsthafte Bedrängnis bringen, Kunstausstellungen (vor allem mit politisch kritisch engagierten Künstlern) werden dann zusammen mit anderen Bürgerfreiheiten schnell und umfassend eingeschränkt werden.
Dauerhaft und für jeden Bürger erschwinglich stehen Werke von Hans Haacke (noch) in folgenden 22 öffentlichen Sammlungen zur Besichtigung bereit:
- Belgien: Stedelijk Museum voor Actuele Kunst (S.M.A.K.), Ghent
- Deutschland: Sammlung Reinking Hamburg, Museum für Gegenwartskunst Siegen
- Frankreich: FRAC Bourgogne Dijon, FRAC Nord-Pas de Calais Dunkerque, Institut d’art contemporain Rhône-Alpes Villeurbanne
- Kanada: National Gallery of Canada – Musée des beaux-arts du Canada, Ottawa, ON
- Kroatien: Museum of Contemporary Art Zagreb (MSU), Zagreb
- Österreich: Museum der Moderne, Salzburg
- Spanien: Museu d’Art Contemporani de Barcelona
- Schweden: Moderna Museet, Stockholm
- Schweiz: Fotomuseum Winterthur
- United Kingdom: Tate Liverpool, Tate Britain London
- USA: List Visual Arts Center Cambridge MA, Los Angeles County Museum of Art CA, MOCA Grand Avenue Los Angeles CA, Museum of Modern Art + New Museum New York City NY, Allen Memorial Art Museum Oberlin OH, San Francisco Museum of Modern Art San Francisco CA, Broad Contemporary Art Museum Santa Monica CA
Hans Haackes Werk – wirkt (hoffentlich) weiter
Der Künstler Hans Haacke gibt uns durch und mit seinem Schaffen und seinem Werk in mehrerer Hinsicht Anregungen und Mahnungen in die Zukunft mit:
1. Gelehrtes Kunstwissen
Hans Haacke hat früh begonnen, sein Wissen an die nächsten Generationen weiterzugeben. Zwischen 1967 und 2002 war Haacke Kunstprofessor an der Cooper Union for the Advancement of Science and Art in New York City.
Die „Cooper Union for the Advancement of Science and Art“ ist ein seit 1859 privat betriebenes College in New York Cities Lower Manhattan. Die Cooper Union ist eine der in den USA rar gesäten höheren Bildungsanstalten, die ihren Studierenden ein gebührenfreies Studium gewährt.
Durch Auswahl der Bewerber streng nach Begabung unabhängig vom sozialen Hintergrund und finanziert durch Spenden von Förderern hat die Cooper Union vielen Absolventen zum Erfolg verholfen, deren persönliche Situation nicht gerade als aufstiegsförderlich bezeichnet werden konnte:
So haben z. B. Emil Berliner (Erfinder des Grammophons), Thomas Alva Edison (Erfinder u.a. der Glühbirne), Bob Kane (Erfinder und Zeichner von Batman), Lee Krasner (berühmte US-amerikanische Malerin und Collage-Künstlerin und Ehefrau von „Action Painter“ Jackson Pollock), Daniel Libeskind (Architekt z. B. des Memory Foundations, des Masterplans für die Neugestaltung der World Trade Center Site, und des Jüdischen Museums Berlin), Mike Mills (Regisseur z. B. von „Thumbsucker“, auf der Berlinale 2005 für den Goldenen Bären und auf dem Sundance Film Festival 2005 für den Grand Jury Price nominiert, und „Beginners“, Gotham Award 2011, Oscar + Golden Globe Award für Christopher Plummer als bester Nebendarsteller 2012) und George Segal (US-amerikanischer Künstler, der vor allem durch Gipsfiguren bekannt wurde) der Cooper Union ihre Karriere zu verdanken.
Man darf unterstellen, dass der an gleichen Rechten für alle Menschen interessierte Hans Haacke nicht durch Zufall die Cooper Union für seine Lehrtätigkeit auswählte.
2. Anstoß zur Diskussion: Die Bildrechte im Internet
An einem Kunstwerk von Hans Haacke entzündete sich einer der ersten Streits um Bildrechte im Internet.
Haacke hatte einer Bloggerin im August 2006 untersagt, Teile des Kunstwerks auf ihrer Website abzubilden. Diese Inanspruchnahme eines ihm zustehenden Urheberrechts wollte eine Reihe von empörten Bürgern dem Künstler nicht zugestehen, weil das Kunstprojekt durch öffentliche Mittel gefördert wurde. Interessante Ansicht, heißt z. B. freie Ernte auf jedem Feld, für das ein Bauer Subventionen erhält.
Weil die Bloggerin die Abbildung des geschützten Werks nur auf einer privaten, nicht kommerziellen Website nutzen wollte. Abgesehen davon, dass man an den privaten nicht kommerziellen Absichten zweifeln könnte, wenn es sich wie hier um die erkennbar politische Website einer Person handelt, die ihr Geld lange Jahre in der Politik verdient hat, ist das ebenfalls eine höchst interessante Ansicht: In letzter Konsequenz heißt das, dass jeder nicht nicht kommerziell Handelnde frei über die Wertschöpfung seiner Mitbürger verfügen kann; so weitgehend hat glaub‘ ich noch nicht einmal Marx den Kommunismus gedacht.
Weil ein entsprechendes Hinweisschild am Kunstwerk fehle; „Wenn Künstler nicht wünschen, dass Fotos von bestimmten Kunstwerken im Internet publiziert werden, sollte dies auch deutlich und klar kommuniziert werden“, soll die politisch tätige und damit eigentlich mit der deutschen Rechtsordnung vertraute Bloggerin eingewendet haben.
Jetzt versteht die Autorin endlich die vielen Hinweisschilder, die vor Jahren (unlesbar klein) die Supermarktregale zierten: „Wir Händler wünschen nicht, dass Waren von Kunden ohne Bezahlung mitgenommen werden, und kommunizieren dies hiermit klar und deutlich“, stand da wohl drauf …
3. Achtsamkeit, lange bevor sie zum Trend wurde
Hans Haacke lehrt uns, die Welt bis in ihre kleinsten Erscheinungen aufmerksam wahrzunehmen.
Er übte beim Konzipieren und der Anfertigung seiner Kunst Achtsamkeit und zeigte sich interessiert an Nachhaltigkeit; Jahrzehnte bevor diese Begriffe zu Schlagworten einer im Konsumwahn untergehenden Gesellschaft wurden.
Hans Haackes zunächst freie und experimentelle und dann genaue, wissenschaftliche Herangehensweise an den künstlerischen Prozess kann uns heute viel besser als Vorbild dienen, als es während des größten Teils der Zeit der Fall war, in der Haacke seine Kunst hergestellt hat.
Denn Hans Haacke musste bis vor ziemlich kurzer Zeit noch jedes Mal eine Bibliothek aufsuchen oder einen (ev. teuren) Fachmann ausfindig machen und bezahlen, wenn er einem Thema genauer auf den Grund gehen wollte; alle Menschen, die (durch Haacke angeregt oder sowieso) ihre Welt genau betrachten wollten, hatten mit der gleichen, unendlich zeitaufwendigen Schwierigkeit zu kämpfen.
Heute braucht man nur einen Netzanschluss und genug Bildung, um profunde Information von blödem Gequatsche zu unterscheiden. Man kann sich auch diese Bildung im Netz aneignen, man muss sich nur von strategisch arbeitenden „Verdummern“ fernhalten, die die schwierige Arbeit beruflich tätiger Informationsvermittler als Lügenpresse diffamieren, damit ihre dummen Anhänger nie schlauer werden.
4. Demokraten kämpfen für die Demokratie
Hans Haacke lehrt uns auch, welche Konsequenzen sich zwangsläufig aus dieser aufmerksamen Wahrnehmung ergeben: Genau hinsehen heißt auch hinterfragen; wer hinschaut, merkt, wo was nicht stimmt; vornehmste Pflicht des Bürgers im demokratischen System ist das Vorgehen gegen offenbar werdende Mängel unserer Demokratie – und das, bevor der jeweilige Bürger selbst unter diesen Mängeln zu leiden hat. Daran fehlt es momentan ganz gewaltig, die deutsche Gesellschaft der Gegenwart „verliert“ in den verschiedensten Bereichen Bürger:
Die Zahl der Menschen, die ungeschützt auf Deutschlands Straßen leben (und sterben), erreicht bald die Millionengrenze. Diese Zahl ist zu hoch, und viele der „“Penner“, „Stadt- und Landstreicher“ sind Alkoholiker oder wollen aus anderen Gründen gar nicht therapiert oder resozialisiert werden?
Oh ja, es gibt ganz verschiedene Zahlen (eine offizielle Statistik des Bundes bezeichnenderweise nicht), aber auch die niedrigst angesetzte Statistik geht in die Hunderttausende. Und ja, es gibt schwere Alkoholiker unter den Menschen ohne festen Wohnsitz – dieser Einwand taugt aber wenig, weil zivilisierte Gesellschaften auch diese nicht auf der Straße sterben lassen, sondern die Krankheit behandeln.
Es gibt auch Menschen ohne Wohnung, die aus aus anderen Gründen gar nicht therapiert oder resozialisiert werden wollen; wenn man diesen ganzen Bereich einmal etwas genauer anschaut, stößt man auf bürokratische Hilfskonzepte und -angebote, die in der Praxis versagen, auf Arbeitsverweigerung und Amtsmissbrauch und auf eine ganze Reihe von Verbrechen, die vom Staat nicht verfolgt werden (an den Obdachlosen, nicht durch sie).
Das war nur ein Bereich, in Deutschland sterben auch jedes Jahr Zehntausende Menschen an Krankenhauskeimen, Medikamenten-Wechselwirkungen und Kunstfehlern, weil die im medizinischen Bereich Arbeitenden – Ärzte, Schwestern, in Verwaltung, Organisation, Hygiene tätiges Personal – von gewinnoptimierenden Unternehmensführern an der fach- und sachgerechten Arbeit gehindert werden.
Jobcenter vermitteln Frust, aber keine Jobs; Versicherungen nehmen lieber und öfter Geld ein, als sie ihre Leistungspflichten erfüllen; Gerichte beenden massenweise friedliche Bürgerexistenzen (z. b. durch Entzug der Kinder oder wirtschaftliche Vernichtung durch fragwürdige Gutachten); und wenn das Fehlverhalten von Wirtschaftsvertretern des Staates den strafrechtlichen Bereich berühren, halten sich die deutschen Staatsanwaltschaften vornehm zurück.
Wussten Sie, dass Deutschland der „UN-Konvention gegen Korruption“ aus dem Jahr 2005 erst im Dezember 2014 zur innerstaatlichen Geltung verholfen hat? Neun Jahre nach Inkrafttreten, als Staat Nr. 174 von 184 Staaten der Welt?
Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 haben wir auch erst Februar 2009 ratifiziert, als sechstreichtes Land der Welt deutlich später als ärmste Länder wie Guinea, Kenya, Lesotho, Mali, Niger, Ruanda und Unganda, denen der Human Development Index der UN „geringe menschliche Entwicklung“ bescheinigt …
Früher war sicher nicht alles besser. Durch das Internet, dem Quantensprung in der Informationsvermittlung, erfahren wir nur sehr viel genauer, was wo nicht stimmt; in allen gerade angesprochenen Bereichen gibt es auch schon erste Korrekturen bzw. positive Entwicklungen, ABER: Das schlimmste an den aktuellen Fehlentwicklungen ist, dass viele der (noch nicht) Betroffen die Wahrnehmung unguter Entwicklungen schlichtweg verdrängen.
Gerne wird den um Existenz/Gesundheit/Wohnung gebrachten Opfern noch eine Mitschuld aufgedrückt; man selbst stellt sich ja so viel schlauer an … hatten wir schon Mal, diese Menschen wurden damals „Mitläufer“ genannt. Zur Freude überarbeiteter Staatsdiener, die sich sonst selbst für die Schaffung zumutbarer Arbeitsbedingungen einsetzen müssten; zur Freude enthemmter Neoliberalisten, denen so genug zahlungskräftige Leisetreter übrig bleiben, die sie ausnehmen können.
Andere begehren auf, schaffen es aber tatsächlich, rechte Populisten zu ihren Anführern zu erwählen, von denen nicht nur ungute Einwirkungen auf Existenz/Gesundheit/Wohnung zu erwarten sind; das ist trotzige Flucht und Verweigerung der Mitarbeit am Staat, in dem diese Protestler leben.
Das alles schafft ein ungutes Gefühl, das sich wie eine Art falscher Grundton flächig über unser Land gelegt hat. Der wird sich nur ändern, wenn sich mehr Bürger zur Mitarbeit an der Demokratie entschließen. Die Chancen dafür standen nie so günstig wie jetzt: Seit dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge haben unglaubliche Mengen von Bürgern bewiesen, was sie eigenverantwortlich ohne Staat auf die Beine stellen können; gedanklich ist es nur der logische nächste Schritt, einen Staat auf die Beine zu stellen, in dem die gesamte Regierung für die Gesellschaft arbeitet …
Hilfreich gegen die diffuse, ungreifbar bedrohliche Grundstimmung ist bereits die Akteptanz der Fakten. Wer sich ganz deutlich klarmacht, dass in einem wirklich zivilisierten Land KEIN EINZIGER MENSCH auf der Straße, an Krankenhauskeimen oder falschen Behandlungen stirbt oder durch Gerichte grundlos enteignet, eingesperrt, seiner Familie beraubt wird, wird kurz über lang zu denen gehören, die sich auch aktive, kritische Mitarbeit im Staat zutrauen.
Was wir heute im Gegensatz zu Haacke können: Wir können uns vernetzen, zusammentun, und in immer mehr Bereichen immer größere Gemeinschaften bilden, die daran arbeiten, die offenbaren Demokratiemängel zu korrigieren.
Hoffen wir für den im Jahr 2016 80 Jahre als gewordenen Hans Haacke (der anlässlich seines Geburtstags die aktuell schwierigen Bedingungen für provokative Polit-Kunst beklagte), dass er auch noch seinen 90. Geburtstag erlebt und zu diesem Zeitpunkt feststellen kann, dass die deutschen Bürger sich ihren Staat und ihre Demokratie zurückerobert haben.
Hans Haacke, kurze Kurzbiografie
- 12. August 1936 Hans Haacke wird in Köln geboren
- 1956 bis 1960 Studium Staatliche Werkakademie Kassel
- 1960 Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes in Paris
- 1961 bis 1962 Fulbright-Stipendium, Tyler School of Art, Temple University in Philadelphia, Pennsylvania.
- Von 1967 bis 2002 lehrte Haacke als Kunstprofessor an der Cooper Union for the Advancement of Science and Art in New York City
- 1972 Haacke nimmt an der Documenta 5 in Kassel teil
- 1982 Haacke nimmt an der Documenta 7 in Kassel teil
- 1987 Haacke nimmt an der Documenta 8 in Kassel teil
- 1993 teilt sich Haacke mit Nam June Paik den Goldenen Löwen für Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig
- 1998 verlieh die Bauhaus-Universität Weimar Hans Haacke die Ehrendoktorwürde
- 1999 entstand das Kunstprojekt „Der Bevölkerung“ im deutschen Reichstagsgebäude
- 2004 erhielt Haacke den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum
- 2006 wurde Haacke der Rolandpreis für Kunst im öffentlichen Raum verliehen
- 2012 ehrte das Museo Reina Sofía Madrid Haacke mit einer umfangreichen Werkschau
- Von März 2015 bis September 2016 bestückte Haacke die Fourth Plinth auf dem Trafalgar Square mit seinem „Gift Horse“
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse