Der Künstler Harun Farocki
Harun Farocki war ein deutscher Filmemacher, Videokünstler und Installationskünstler, Autor und Hochschuldozent.
Mit seinem künstlerischen Werk hat Farocki gerade den Platz Nr. 23 der nach Aufmerksamkeit/Verkaufserfolgen generierten Weltbestenliste der Kunst erklommen. Ein mächtiger Aufstieg des Medienkünstlers, der um 2005 noch auf Platz 330 ff „herumdümpelte“ (nicht abwertend gemeint, 330ster in der Welt ist auch schon wirklich beachtlich).
Dieser Aufstieg erreicht seine vorläufige Spitze anderthalb Jahre nach Farockis Tod – ein Van-Gogh-Effekt (kurz nach dem Tod ein angesehener Künstler, aber erst rund 100 Jahre später richtig berühmt) kann also nicht dafür verantwortlich sein, dass die Wertschätzung für Farockis Werk in den letzten Jahren sprunghaft stieg.
Filme (Farocki-Filme, ernste Filme, Filme mit Inhalt und zum Nachdenken) bringen auch kein Michelangelo-Geld, daran kann es ebenfalls nicht liegen – es könnte daran liegen, dass die Inhalte von Farockis Filmen aktueller sind denn je. Leider; warum, erfahren Sie im Artikel.
Harun Farocki: Schwerpunkte des Kunstschaffens
Ganz klar war Harun Farocki vor allem ein nachhaltig engagierter Filmschaffender und Filme Erschaffender. In der Zeit von 1968 bis 2014 hat er über 120 Filme als Produzent, Autor, Regisseur, Schnittmeister (oft alles zusammen) in die Welt gesetzt. Das ist ein Durchschnitt von gut 2,5 Filmen pro Jahr, Spielfilme und Essayfilme, Dokumentationen, künstlerische und experimentelle Video-Installationen.
Farockis künstlerische Ausdruckskraft beschränkte sich nicht auf die laufenden Bilder:
1976 übernahm er zusammen mit Hanns Zischler die Regie bei zwei Aufsehen erregenden Heiner-Müller-Inszenierungen am Theater Basel mit den Stücken „Die Schlacht“ und „Traktor“, siehe dazu „Harun Farocki und Heiner Müller und die Aktualität der Schlacht“.
Farocki schrieb für zahlreiche Zeitschriften und Magazine, von 1974 bis 1984 war er Herausgeber und Autor der Zeitschrift Filmkritik (München).
Ab der Jahrtausendwende schuf Farocki eine Reihe künstlerischer Arbeiten, die in Ausstellungen und Museen gezeigt werden, Installationen wie „Auge/Maschine I, II, III“ (2000 – 2003), „Gegen-Musik“ (2004), „Hörstationen“ (2006) und „Fressen oder Fliegen“ (2008).
2006 kuratierte Farocki die Ausstellung „Kino wie noch nie“ (zusammen mit seiner Frau Antje Ehmann, erst in Wien, 2007 in Berlin).
An der Documenta 12 (Kassel 2007) nahm Harun Farocki mit der Medieninstallation „Deep Play“ von 2007 teil.
Wie kam Harun Farocki zur Kunst?
Harun Farocki hat seine Kunst studiert, er besuchte von 1966 bis 1968 den ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).
Am 17. September 1966 vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt eröffnet, begann die Akademie ihre Ausbildungstätigkeit in den Räumen des Deutschlandhauses des SFB am Adolf-Hitler-Platz (heute: Theodor-Heuss-Platz 7, www.welt-der-alten-radios.de/files/deutschlandhaus.jpg, das hinten sichtbare Theater ist das 1960 von Dieter Hallervorden und Kollegen gegründete Kabarett-Theater „Die Wühlmäuse“).
Ziel war, dem wenig erfolgreichen Kino der deutschen Nachkriegszeit durch Nachwuchsförderung Auftrieb zu verleihen, gegen Ende der 1960er Jahre wurde es aber erst einmal politisch, turbulent und ziemlich streitbar am dffb. Typisch Berliner und 1968er eben, schon im Jahr nach der Gründung gerieten Studentenschaft und Direktion regelmäßig in Auseinandersetzungen miteinander aneinander.
Der Wille zur politischen Betätigung trieb die dffb-Studenten weit, die Deutschen Film- und Fernsehakademie wurde sogar von einigen Studenten besetzt und in Dziga-Vertov-Akademie umbenannt (dass Harun Farocki dabei war, ist zu vermuten, er soll mit seinen Kommilitonen dieser allerersten Klasse der Filmhochschule keinen Aufstand ausgelassen haben).
Es endete wie so oft in den 1968ern: Die erhitzte Aktion kühlte ab, 18 Studenten mussten die Hochschule für immer verlassen, der Rest rebellierte innerhalb seiner Institution etwas gesitteter weiter. Zum Beispiel Harun Farocki, damals Dadaist und Maoist, Didaktiker und Situationist, Dekonstruktivist und Konstruktivist in voller Entwicklung.
Farocki zeigt uns schon in seinen frühen Filme einige böse Fratzen der Politik und bleibt über die Jahre dabei und dadran – immer feiner agiert er, bis sein Blick auf das „Leben – BRD“ (1990) noch die letzte Machtverästelung aufspaltet.
Die dffb war zu der Zeit auch schon wieder ganz vernünftig geworden, Harun Farocki Kommilitone Holger Meins (RAF) war bereits an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben, Kommilitone Wolfgang Petersen vielleicht im Geist schon auf dem Weg nach Hollywood, als sich die dffb um Mitte der 1970er Jahre vor allem durch Dokumentarfilme die erste ernsthafte Anerkennung erwarb.
Bis heute stellt die dffb um ein Dutzend Studienplätze im Fach Regie, sechs Studienplätze im Fach Kamera und acht Studienplätze im Fach Produktion, mit mehrstufigen Auswahlverfahren, bis heute lautet das Grundprinzip der dffb „Film kann man nicht lehren, Film kann man nur lernen.“
Farocki hat genau das getan, er hat viel „Film gelernt“ in seinem Leben und es darin zu beeindruckender Meisterschaft gebracht:
Die Kunst von Harun Farocki: Beispiele
Eine kleine Auswahl von Filmen, bei denen Harun Farocki das Drehbuch geschrieben, für Regie oder Produktion (und/oder, oft alles drei gleichzeitig) verantwortlich war:
1969 kam „Nicht löschbares Feuer“ heraus, eine erschreckende Abhandlung über Napalm-Einsatz im Vietnam-Krieg.
1978 erschien der über einen Zeitraum von sechs Jahren produzierte erste lange Film Farockis: „Zwischen zwei Kriegen“ ist ein kühl abstrahierendes, aber auch wütend intensives Traktat des Künstlers über die Entstehung der Hochofen-Industrie zwischen 1917 bis 1933.
In gestochen klarer und präziser handwerklicher Arbeit stellt Farocki „schwarzweiße Gedanken“ rund um die Entwicklung dieser Schwerindustrie in den Raum, samt Zusammenhängen mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. An Beispiel der Eisenverhüttung unter Ausstoß von hochgiftigem Gichtgas will Farocki den selbstzerstörerischen Charakter der kapitalistischen Produktion aufzeigen.
1983 beschäftigt sich „Ein Bild“ mit dem absurden Aufwand, der für die Erstellung eines Modefotos betrieben wird. Einen Ausschnitt davon sehen Sie im nachfolgenden Video:
1987 erscheint der „Bilderkrieg“, eine „Aufklärung über die Aufklärung“, über die im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten Methoden der Bildgebung, die Militär und Polizei bei ihrer Arbeit einsetzen. Inklusive Bericht über die Entwicklung der Möglichkeiten, solche Photographien zu lesen und zu deuten.
1989 folgt „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“, die Dokumentation über nie ausgewertete Luftaufnahmen amerikanischer Bomber im Zweiten Weltkrieg stellt strategische Interessen in Frage, die millionenfaches Leid ignorierten.
1993 zeigt „Ein Tag im Leben der Endverbraucher“ dieses Leben in Hunderten von Werbespots, vom morgendlichen Zähneputzen bis hin zum nächtlichen Alptraum der Unterversicherung. Der „vermutlich teuerste Dokumentarfilm aller Zeiten“ kommt ohne jeden Kommentar aus und ist ein bewundernswerter Beweis dafür, wie sensibel Farocki die Zeichen der Zeit empfing:
Jahre bevor die größeren Handelsunternehmen ihre Steuervermeidungmodelle erdacht hatten und „Ich bin doch nicht blöd“-Slogans die Verbraucher-Verarsche feierten, hatte Farocki das endgültige Abgleiten in den Konsum-Wahnsinn bereits für die Ewigkeit dokumentiert…
Die geistigen Urheber des Blöd-Slogans, „die unumstrittene Nummer Eins im Elektrofachhandel“, setzen ihre Erfolge auf ihrer Website unerschrocken mit der ersten Mondlandung in Beziehung – Liebhaber ironischer Filmdokumentation bedauern, dass Farocki keine Zeit für ein Statement blieb.
1995 wirft Farocki in „Arbeiter verlassen die Fabrik“ einen ausgedehnten Blick auf das Ameisenvolk der Fabrikarbeiter. Sie stellten das Motiv im ersten Film der Geschichte, nur mit Musik unterlegt strömten die Ausgebeuteten in die Freiheit. Farocki zeigt sie im ersten Film und 100 Jahre später, mit gleicher Entschiedenheit der Bewegungen, mit gleichem anonymen Untergang in der „Massengesellschaft“.
1997 geht es wieder um bildliche Darstellung in der Werbung: In der Doku „Stilleben“ vergleicht Farocki die Werbefotografie von heute mit der niederländisch-flämischen „Mainstream“-Malerei des 16. Jahrhunderts, er findet viele Gemeinsamkeiten.
2000 sammelt Farocki in „Gefängnisbilder“ Bilder von „Verwahrten“: Insassen von Gefängnissen und Insassen von Behindertenheimen, ab 1920 bis in die jüngste Vergangenheit.
2001 zeichnet er in „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ ein selbsterzählendes Charakterbild der Männer hinter den gesichtslosen Shopping-Centern, die unsere Welt gerade in Einheitsbrei verwandeln.
Von 2001 bis 2003 entstehen die Installationen „Auge/Maschine I – III“, in denen Farocki militärische Bildtechnologie im zivilen Leben thematisiert. Mit den 1991 weltweit Aufsehen erregenden Bildern vom Golfkriegs im Zentrum, als Bombe und Objektiv erstmals eins werden.
in ähnlicher Art 2003 dokumentiert Farocki in „Erkennen und Verfolgen“ die Technisierung und Entmenschlichung der modernen „sauberen“ Kriegsführung, in dem „die menschlichen Opfer höchstens billigend in Kauf genommen würden“ (Zitat Harun Farocki).
2004 berichtet „Nicht ohne Risiko“ lange vor der Krise über Banken und Geld, Risiko-Kapital und der Verhandlung von Finanzierungen.
2007 wirft „Deep Play“ aus 12 verschiedenen Perspektiven tiefe Blicke auf das Fussball-Weltmeisterschafts-Finale Italien gegen Frankreich, Ausschnitt hier:
2007 zeigt „Aufschub“ dokumentarische Szenen aus einem Judendurchgangslager, tonlose historische 16mm-Aufnahmen, die ein jüdischer Insasse für den Lagerkommandanten des holländischen KZ-Transitlagers Westerbork drehte. Eine Reflektion über Wahrheitsgehalt von Bildern, über Propaganda und über Intention, die 2007 in Locarno prämiert wird.
2009 beleuchtet „Zum Vergleich“ die Steinherstellung im Wandel der Zeiten:
2009/2010 folgt mit „Serious Games I-IV“ eine Serie von Installationen/Video über „Kriegsspiele am Computer“, von Farocki selbst kommentiert:
2012 ist Farocki in „Ein neues Produkt“ ganz nah dabei, wie ein Produkt im Neoliberalismus entsteht. Mit Brainstorming, Beraterteam und Flipcharts, mit bunten Worten und bunten Filzstiften, mit nur mühsam verniedlichter marktwirtschaftlicher Kälte.
2013 porträtiert Farocki „Sauerbruch Hutton Architekten“ und stellt hoffnungsfroh die Nachhaltigkeit, ökologische Effizienz und die neue, verspielte Formensprache der Bauten des Berliner Architekturbüro vor. Trailer hier:
Bauten zum Ansehen:
- Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen Hamburg
- Umweltbundesamt Dessau
- The Two New Ludgate, London
- Kunst Kubus Berlin
- GSW Hauptquartier Berlin
- Uni Potsdam
Im September 2014, einen Monat nach Farockis Tod, läuft „Phoenix“ an, ein Film von Farockis Schüler Christian Petzold, für den beide gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben. Der „Nachkriegsfilm“ über eine Jüdin, die nach ihrer Gefangenschaft in Auschwitz ihren Mann und Verräter sucht, erhielt 2014 den Preis der internationalen Filmkritik auf dem Filmfestival San Sebastián; Trailer hier:
Harun Farockis Werk in der Öffentlichkeit: Ausstellungen, Kunst im öffentlichen Raum und in öffentlichen Sammlungen
Nach 30 Jahren Filmkunst-Schaffen entwickelte sich Harun Farocki um die Jahrtausendwende zu einem Medienkünstler, dessen Installationen Museen und sonstige Ausstellungsorte bevölkern.
Deshalb beginnt Harun Farockis Ausstellungshistorie erst im Jahr 1997, dann aber gleich mit einem Knaller: Die 2nd Gwangju Biennale und die documenta X in Kassel stellten seine Werke aus.
Bis heute, in nur 20 Jahren, waren Farockis Werke in rund 440 öffentlichen Ausstellungen zu sehen, unter den begehrtesten Künstler der Welt sind einige, die in ihrem ganzen langen Leben keine solche Ausstellungspräsenz erreichen konnten. Davon waren die meisten Ausstellungen in Deutschland (rund ein Viertel), knapp 50 in den USA und in Österreich, um 30 in Spanien und in Frankreich, wobei Farockis Ausstellungsstätten gerne mit besonderer Prominenz glänzen.
Farocki war noch einmal 2007 auf der Documenta 12, und vor allem auch noch auf ein paar anderen Biennalen:
- 2000 4. Werkleitz Biennale, Werkleitz Gesellschaft e.V., Halle, Saale
- 2003 10e Biennale de l’Image en Mouvement, Centre pour l’image contemporaine, Geneva
- 2005 11ème Biennale de l’Image en Mouvement, Centre pour l’image contemporaine, Geneva
- 2007 Prague Biennale 3, Karlin Hall, Prague
- 2008 Mediation Biennale 08, Centrum Kultury Zamek, Poznan
- 2008 7th Shanghai Biennale, Shanghai
- 2008 16th Biennale of Sydney
- 2009 2nd Athens Biennial
- 2010 29° Bienal de São Paulo
- 2010 1st Ural Industrial Biennial of Contemporary Art Yekaterinburg
- 2010 8th Gwangju Biennale
- 2011 Sharjah Biennial 10
- 2012 Taipei Biennial 2012
- 2012 Biennale Regard Benin 2012, Cotonou
- 2013 La Otra Bienal De Arte 2013, Bogota
- 2013 6th Biennial of Moving Image Mechelen
- 2013 55. Biennale di Venezia
- 2014 Shanghai Biennale
- 2015 Vienna Biennale 2015
Harun Farocki war wahrscheinlich in jedem Museum der Welt zu sehen, dass eine mit „M“ beginnende Abkürzung hat:
- MACBA (Museu d´Art Contemporani de Barcelona)
- MAC’s (Musée des Arts Contemporains Hornu)
- MAK (Austrian Museum of Applied Arts Wien)
- MARCO (Museo de Arte Contemporáneo de Monterrey)
- MARCO (Museo de Arte Contemporánea de Vigo)
- MART (Museo d’Arte Moderna e Contemporanea di Trento e Rovereto)
- MASS MoCA (Massachusetts Museum of Contemporary Art North Adams)
- MdM (Museum der Moderne Mönchsberg)
- MKG (Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)
- MMOMA (Moscow museum of modern art)
- MMSU (Museum of Modern and Contemporary Art Rijeka)
- MNAC (National Museum of Contemporary Art Bucharest)
- MOCA (Museum of Contemporary Art Jacksonville)
- MOCA (Pacific Design Center West Hollywood)
- MOCAK (Museum of Contemporary Art in Kraków)
- MoMA (Museum of Modern Art New York City)
- MuHKA (Museum voor Hedendaagse Kunst Antwerpen)
- MUMOK (Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien)
- MUNTREF (Museo de la Universidad Nacional de Tres de Febrero Buenos Aires)
Und er wird weiter zu sehen sein, wo und warum das sein muss, verrät der Artikel „Harun Farocki als Lehrer fürs Leben“.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse