Es gibt Künstler, die ihr Werk im vorletzten Jahrhundert begannen und denen dennoch ein noch spürbarer Einfluss auf die heutige Kunst nachgesagt wird – für Schüler, die sich das erste Mal mit einem Kunstgebiet beschäftigen, regelmäßig fast unglaublich. Zu ihnen gehört Henri Matisse, der bereits 1869 in Frankreich geboren wurde und der durchaus auf Umwegen zur Kunst fand:
Der ersten ihm nicht genehmen Lebensplanung (die Übernahme der elterlichen Samenhandlung) konnte er durch ein Studium der Rechtswissenschaft umgehen, das ihn auch gleich vom verschlafenen Bohain-en-Vermandois (bei Saint-Quentin, Nordfrankreich) nach Paris führte.
Nebenbei besuchte er aber bereits Zeichenkurse, als er durch eine Blinddarmoperation lange bettlägerig wurde, probierte er sich auch in der Malerei und gab daraufhin 1891 seine noch junge juristische Karriere auf, um sich auf die Aufnahmeprüfung an der Pariser École des Beaux-Arts vorzubereiten. Die er allerdings erst 1895 bestand, mit seinem Freund Albert Marquet wurde Matisse nun Schüler von Gustave Moreau, der mit dem gerade aufkommenden Symbolismus gegen den althergebrachten Realismus anging.
Matisse lernte auch die Malweise der Impressionisten kennen, kopierte Klassiker im Louvre, stellte seine ersten fünf Gemälde im Salon der Société nationale des beaux-arts aus und wurde auf Reisen durch andere Künstler an die großen Meister der Zeit wie Vincent van Gogh herangeführt. Sein Malstil erfuhr unter diesen Einflüssen eine erste, freiheitliche und moderne Formung.
1898 heiratete Matisse, aus der Ehe gingen schnell zwei Söhne hervor, auch seine von einem seiner Modelle geborene vierjährige Tochter nahm Matisse zu sich. Er studierte Turner und verließ die École des Beaux Arts, als Moreau starb und der dem traditionellen Stil verpflichtete Fernand Cormon dessen Nachfolger wurde.Erst schnupperte er kurz bei der privaten Konkurrenz rein, der Académie Julian, belegte dann aber lieber wieder Kurse bei einem Symbolisten (Eugéne Carrière, Freund von Auguste Rodin), malte im Freien und besuchte in den Abendstunden auch noch Kurse für Skulptur.
Fasziniert von dessen Ausdruck leistete er sich in dieser Zeit ein Gemälde von Paul Cézanne, “Die drei Badenden”, das fast vier Jahrzehnte sein Denken und Schaffen beeinflussen sollte.
Aus diesem unbändigen Lernwillen resultierten jedoch keine Einnahmen, das Modistengeschäft seiner Frau finanzierte alleine all die Ausgaben für Matisse’ Ausbildung, die vier Kinder und das teure Leben in Paris, das führte die Familie bald in eine schwere finanzielle Krise.
Matisse musste nun Arbeit als Dekorationsmaler annehmen, die ihn derart erschöpfte, dass er in eine künstlerische Krise geriet. Aber er lernte auch in finanzieller Hinsicht und bemühte sich in der Folgezeit erstmals um Kunstsammler und Ausstellungsmöglichkeiten: 1902 konnte er an einer Gemeinschaftsausstellung teilnehmen, die erste Einzelausstellung folgte 1904.
Das unterbrach sein Bemühen um Stilfindung nicht, den Sommer 1905 verbrachte er malend in einem Fischerdorf am Mittelmeer, und in dieser Zeit fand er in Zusammenarbeit mit André Derain zu einem Stil, der später als “Fauvismus” berühmt wurde. Diesen Namen prägte ein Kritiker, als er die Künstler Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck bei Beurteilung ihrer ersten Ausstellung im Salon d’Automne in Paris 1905 als “Fauves” (“wilde Tiere”) bezeichnete.
Im Mittelpunkt dieser Kritik stand Matisse’ Gemälde “Frau mit Hut”, dieser Kunstskandal trieb den Marktwert seiner Bilder beträchtlich in die Höhe. Die kleine Fauvisten-Gruppe löste sich schon 1907 wieder auf, inzwischen hatte Matisse aber andere kritisch aufgenommene Werke ausgestellt, Gertrude Stein und Bruder Leo als feste Förderer gewonnen und die ersten Bande seiner lebenslangen Freundschaft mit Picasso geknüpft.
Amerikanische Freunde der Steins unterstützten Matisse ebenfalls, so konnte er 1908 eine private Malschule in Paris gründen, an der er bis 1911 rund 100 in- und ausländische Schüler in einer umfassenden, nicht-kommerziellen Weise unterrichtete, darunter für die damalige Zeit ungewöhnlich viele Frauen.
Matisse eroberte nun durch Reisen und Ausstellungen die Welt, lernte weiter und verarbeitete viele neue Eindrücke: 1906 entdeckte er in Algerien orientalische Keramik und Teppichkunst, 1908 lernte er in Deutschland die Künstler der “Brücke” kennen, im gleichen Jahr fand seine erste Ausstellung in den USA statt.
1909 erhielt er einen großen Auftrag des russischen Mäzens Sergei Schtschukin und konnte nun ein Haus kaufen, wo er sich auf dem Grundstück auch ein Atelier errichtete (in Issy-les-Moulineaux bei Paris).
Seine Werke nahmen 1910 an einer Ausstellung in London teil, 1912 wurden seine Skulpturen in New York ausgestellt, 1913 nahmen einige seiner Bilder an der bedeutenden Ausstellung in New York teil, der Armory Show. Matisse selbst war 1910 bis 1914 in Sevilla und Tanger und Berlin und floh schließlich vor dem Ersten Weltkrieg ins äußerste Südfrankreich an die spanische Grenze, nach Collioure.
Dort sollte seine Neigung zu geometrischer Vereinfachung durch Kontakt mit dem Kubisten Juan Gris noch verstärkt werden. Auf ärztliches Anraten blieb der unter Bronchitis leidende Matisse im Süden, ab 1917 ließ er sich in Nizza nieder, verbrachte aber jeden Sommer arbeitend in seinem Atelier in Issy-les-Moulineaux.
1918 nahm die erste Ausstellung gemeinsam mit Picasso bereits ein wenig von dem Ruhm vorweg, der beiden Malern später durch Zuweisung ihrer führenden Rollen in der zeitgenössischen Kunst zuteilwerden sollte. Matisse entwarf nun auch Kostüme und Bühnenbilder (1920 für Djagilews Ballett “Le Chant du Rossignol”), arbeitete erneut an Skulpturen, stellte 1927 wieder in New York aus und reiste viel, 1925 nach Italien, 1930 nach Tahiti, über San Francisco und New York.
Auf dem Rückweg von dieser Reise erhielt er in den USA einen gewaltigen Auftrag, der ihn bis 1932 beschäftigte; es soll mit der 22-jährigen Assistentin Lydia Delectorskaya zusammenhängen, die ihm bei dieser Arbeit zur Seite stand und ihm außerdem Modell saß, dass seine Frau Amélie den über 60-Jährigen nach drei Jahrzehnten Ehe verließ.
Nach der Scheidung und der darauf folgenden Krankheit folgte eine Zeit der vielfältigsten Arbeiten, Matisse fertigte Tapisserien und Buchillustrationen, z. B. für James Joyce’ Ulysses und Stéphane Mallarmés Poésie, stellte 1930 in der Galerie Thannhauser in Berlin aus und hatte im November 1931 die erste große amerikanische Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York.
Die folgenden Jahre brachten weitere Ballettdekorationen und -kostüme und weitere Illustrationen, ab 1943 arbeitete Matisse in einer südfranzösischen Landvilla (bei Vence, nordwestlich von Nizza) an der Komposition seines 1947 erschienenen Buchs Jazz, einem der wichtigsten Künstlerbücher des 20. Jahrhunderts.
1945 reiste er nach Paris zu seiner ersten Retrospektive und stellte zusammen mit Picasso im Victoria und Albert Museum in London aus, 1946 besuchte Picasso ihn erstmals in Vence, 1947 begann Matisse mit Entwürfen für die Rosenkranzkapelle in Vence, die ihn jahrelang beschäftigten, 1948 kehrte er nach Nizza zurück.
1951 erhielt Matisse den ersten Preis für Malerei auf der Biennale in Venedig, 1952 eröffnete das Musée Henri Matisse in seiner Heimatstadt Le Cateau-Cambrésis, 1963 wurden seine papiers découpés in Paris und seine Skulpturen in London ausgestellt. Als Matisse 1954 in Nizza an einem Herzanfall starb, war er auch noch mitten in der Arbeit, an einem Glasfenster für eine Kirche, das er im Auftrag der Familie Rockefeller in Gedenken an einen Vorfahren gestaltete.
Zu dieser Zeit stand der neben Picasso häufig als bedeutendster Künstler der Klassischen Moderne bezeichnete Matisse kurz vor Vollendung seines 85. Lebensjahres. Er hat ein arbeitsreiches Leben hinter sich gebracht, in dem er unglaublich viel gesehen hat und scheinbar keine Anregung unberücksichtigt gelassen hat, um in seinem Werk zu stilistischen Neuerungen zu finden, die wiederum die Moderne Kunst beeinflussen sollten.
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Henri Matisse auf Kunstaspekte
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse