Die Videokünstlerin Hito Steyerl gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen KünstlerInnen der Welt.
2017 wurde Steyerl vom britischen Kunstmagazins ArtReview an die Spitze der „Power100“-Liste gesetzt. Eine Ehre für Hito Steyerl, stellt aber auch gleich klar, dass es in dieser Liste der „einflussreichsten Personen in der gegenwärtigen Kunstwelt“ nicht in erster Linie um Kunst geht: Hito Steyerl gehört zu den wenigen aktiven Künstlern, die in dieser Liste einen Spitzenplatz erreichen konnten.
Vor ihr war das nur Damien Hirst (2005 + 2008) und Ai Wei Wei (2011) vergönnt, weil sich die „Könige“ der internationalen Mega-Galerien, Mega-Museen und Mega-Kunstspektakel in einer Art Bäumchen-wechsel-dich-Spiel die vorderen Ränge teilen. Mit diesen Spitzenplatzierungen stellt ArtReview seit 2002 klar, dass ihr Ranking der Börse näher ist als der Kunst.
2016/2017 stöhnten die Kunstinteressierten in der Kunstwelt bereits mächtig über deren kommerzielle Verkommenheit; und die ganze Welt brodelte gewaltig unter ganz anderen Möchtegern-Königen … so wurden die Verantwortlichen der ArtReview fast zu Robin Hoods der Kunst, als sie 2017 eine Künstlerin an die Spitze setzen, die „Virtual-Reality-Plattformen als Trainingsprogramm sieht, um den Menschen an eine Welt anzupassen, in der er zunehmend fehlt“ und im „natürlichen Modus eines (gesellschaftlichen) Wadenbeißers agiert, der geschickt von der Peripherie aus zuschlägt“
Geradezu prophetisch war die Idee von ArtReview, 2017 eine Frau an die Spitze des Rankings zu setzen: Der Hashtag #MeToo (der nicht nur das gegenwärtige Ausmaß sexueller Belästigung enthüllte, sondern überhaupt noch mal ganz nachdrücklich klarstellte, dass Gleichberechtigung in der Welt der „Power-Menschen“ ein Fremdwort ist) betrat erst Mitte Oktober 2017 die Bühne …
Die Robin-Hood-Manier der ArtReview entblößt sich selbst, sobald der Leser aus anderen Quellen erfährt, dass Hito Steyerl als erste Frau seit 2002 das Ranking anführt; nach diesem Ausrutscher steht 2018 mit David Zwirner auch wieder „The head of an expanding New York, London and Hong Kong gallery empire“ an der Spitze.
Die Weltbestenliste der Kunst, der es mehr um Kunst geht, wird von artfacts.net herausgegeben. Mehr um Gleichberechtigung geht es auch (die ArtFacts.Net GmbH wurde gegründet und wird geführt durch die Geschäftsführer Marek Claassen und Stine Albertsen), und es geht sogar mehr um Demokratie: Das ArtFacts Ranking misst zwar die Position eines Künstlers anhand seiner Ausstellungsgeschichte, weil die tollen Arbeiten, die in manchem stillen Kämmerlein entstehen, leider so schlecht bewertet werden können.
Es lässt diese Ausstellungspräsenz allerdings durch einen komplexen Algorithmus bewerten, dem gesagt wurde, dass er für die MoMA-Exhibition ein paar mehr Punkte ausspucken darf als für die Ausstellung im ländlichen Kunstverein.
Artfacts ist damit früh dem neuen Misstrauen gegenüber den alten Medien entgegengetreten: Gegen Ende der Herrschaft der „unbeherrschten und unbeherrschbaren Herren“ halten viele Leser/Kunstfreunde es ohne weiteres für möglich, dass Kritiker bestimmte Künstler durch hohe Rankingplätze bewusst puschen wollen; aus Spekulationsgründen, Prahlerei mit Insiderwissen oder anderen Gründen, die mit verletzter Eitelkeit zu tun haben.
Diese Gefahr wird durch Anwendung eines Algorithmus gebannt, das geballte Wissen aller Kritiker fließt über deren Beteiligung an Ausstellungsvorbereitung etc. nach wie vor ein … das darüber hinausgehende Problem einer „falschen Marktanbetung“ der Kunst kann der Algorithmus sicher nicht lösen, innerhalb des gegebenen Zustands tut dieses Ranking aber viel für die Glaubwürdigkeit von Kunstbeurteilung.
Auf dieser Liste wird Hito Steyerl als KünstlerIn Nr. 118 (der Welt!) geführt, ihr Chart zeigt seit Jahren eine aufsteigende Tendenz. Reicht doch, und Hito Steyerl liegt vermutlich ohnehin nicht viel an Rankings (außer dass sie mehr Menschen ermutigen, sich ihrer nicht ganz einfachen Kunst zu nähern). Denn Hito Steyerl macht keine Kunst für die Massen, sondern intellektuelle Kunst vom Feinsten; ihre künstlerischen Arbeiten und Texte sind scharfsinnige Analysen der aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnisse,
Wie kam der Hito Steyerl zur Kunst?
Hito Steyerl wurde 1966 in München geboren und hat in ihrer Jugend viel vom „Neuen Deutschen Film“ mitbekommen, der mit Regisseuren wie Alexander Kluge, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder dem 1950er Heimatfilm, Karl-May, Schlager und Edgar-Wallace-Krimis gesellschaftskritische und politische Filme im Sinne der französischen „Nouvelle Vague“ und der 1968er-Protestbewegung entgegensetzen wollte.
Von 1987 bis 1990 studierte Steyerl an der Academy of Visual Arts in Tokio, Japan Kinematographie und Dokumentarfilmregie bei Imamura Shohei und Hara Kazuo. Die berühmte und umstrittene New Wave-Regisseurin Imamura Shohei leitete diese ungewöhnliche Filmschule am Rande von Tokio, die sich offen für Schulabbrecher einsetzte.
Der japanische Dokumentarfilmer Hara Kazuo hatte sein Studium abgebrochen, um an einer Sonderschule zu arbeiten, und dokumentierte oft Menschen, die sich gegen die engen Grenzen des Anstands und Gehorsams in der japanischen Gesellschaft stellen. Niemand in der japanischen Filmindustrie hatte diese Regisseure beschäftigt, die Schule von Imamura war auch einer der wenigen Orte, an denen die avantgardistischen japanischen Dokumentarfilme der 1960er und 1970er Jahre angesehen werden konnten.
Nach dieser „Lehrzeit an der Basis“ im innovativen und gedanklich unabhängigen Teil Japans arbeitete Hito Steyerl 1990/1991 im Team von Wim Wenders als Regieassistentin und technische Koordinatorin für den Film „Until the End of the World“. Die Dreharbeiten waren mit einer halben Weltreise verbunden: Der Film entstand in Australien, Deutschland, Frankreich, Japan, Italien, Portugal und den USA.
1992 bis 1998 studierte Hito Steyerl dann an der Hochschule für Fernsehen und Film München (noch einmal) Dokumentarfilmregie, u. a. bei Filmhistoriker Helmut Färber, ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift Filmkritik und Autor des Buches „Baukunst und Film – Aus der Geschichte des Sehens“ (siehe Zeit.de). Zu den Wenders-Erfahrungen kam nun der Einfluss von Harun Farocki, der von 1974 bis 1984 in München als Herausgeber und Autor der Zeitschrift Filmkritik tätig war.
2003 promovierte Hito Steyerl mit einer philosophischen Arbeit an der Akademie der Bildenden Künste Wien und suchte neben ihrer künstlerischen Arbeit bald den lehrenden Kontakt mit Studenten. Zunächst am Center for Cultural Studies des Goldsmiths (College für bildende Kunst an der University of London), als Gastprofessorin der Royal Academy in Copenhagen und der Academy of Fine Arts in Helsinki.
Seit 2010 lehrt Hito Steyerl als Professorin an der Universität der Künste Berlin; hier der offizielle Zugang zu Prof. Dr. phil. Hito Steyerl.
Öffentliche Präsenz der Werke von Hito Steyerl
An der Universität der Künste Berlin arbeitet Hito Steyerl als Professorin für Experimentalfilm und Video (Lensbased class). Außerdem gründete sie zusammen mit der Kulturwissenschaftlerin Vera Tollmann und dem Künstler, Autor, Kurator Boaz Levin das Research Center for Proxy Politics an der Universität der Künste Berlin (rcpp.lensbased.net).
Hito Steyerl hat Werke auf der documenta (12), der Biennale in Venedig (2015), der Skulptur Projekte in Münster (2017) gezeigt; ihre provokative Kunst war im Museum of Contemporary Art Los Angeles und im Museum of Modern Art New York zu sehen; ihre Ausstellungshistorie ist lang und bunt und international.
Ihre Filme werden weltweit bei zahlreichen Filmfestivals gezeigt; Kunst, Textkunst und Vorträge werden aber auch in großem Umfang über soziale Medien verbreitet.
Die mediale Kunst-Welt von Hito Steyerl
Hito Steyerl arbeitet an den Grenzen Bildende Kunst und Film und an den Grenzen von Theorie und Praxis – wobei mit Grenze sowohl die Schnittstelle gemeint ist, an der Themenbereiche ineinander übergehen, als auch die absolute Begrenzung, vor allem die des Geistes.
Die Filmemacherin und Autorin setzt sich mit (neuen) Medien, Technologie und der Verbreitung von Bildern auseinander, sie hinterfragt postkoloniale Kritik und feministische Repräsentationslogik und vieles mehr, was dringend hinterfragt werden sollte. In Texten, Performances, essayistischen Dokumentarfilmen; als Tätige und Kommentatorin, Kritikerin und Lehrende.
Hito Steyerl setzt so ziemlich überall dort an, wo es richtig wehtut, und entwickelt dabei oft einen hintergründigen Humor, der den Betrachter bei allem Entsetzen zum Lachen zwingt.
Am Anfang standen kurze und mittellange Dokumentarfilme wie „Deutschland und das Ich“ von 1994, „Land des Lächelns“ 1996, „Babenhausen“ 1997, die Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus im wiedervereinigten Deutschland thematisierten; damals noch rechtzeitig.
Der erste lange Essayfilm „Die leere Mitte“ von 1998 stellte den Potsdamer Platz in der Mitte der Hauptstadt im historischen und aktuellen Konflikt dar: Zentrum der Weimarer Republik und der Nazi-Hauptstadt, vermintes Grenzterritorium im Kalten Krieg, umstrittene „urbane Restrukturierung“ nach der Wiedervereinigung, Zeichen globaler Machtverschiebungen; filmische Archäologie vor dem gerade weitgehend vollendetem „Zentrum der Moderne“.
Der Episodenfilm Normalität 1–10 dokumentiert zwischen 1999 und 2001 begangene (antisemitische) Gewalttaten im Nachwendedeutschland und Österreich; gegen die stille Akzeptanz und wiederum sehr viel rechtzeitiger als der adressierte „Normalbürger“.
2006/07 begibt sich Steyerl in der Videoinstallation “Lovely Andrea” auf die Suche nach alten Bondage-Fotos in Tokyo (von ihr selbst, 1987 während eines Modell-Jobs in der Studienzeit aufgenommen) und findet die „Pornografisierung der Politik“; die Arbeit wurde auf der documenta 12 gezeigt.
Hier eine der neueren Arbeiten: „How Not To Be Seen: A Fucking Didactic Educational .MOV File“, zum Einstimmen auf die eigene Beschäftigung mit den gefilmten Essays der Künstlerin:
Hito Steyerl: Zukunft und Ziele
Hito Steyerl will mit ihrer Arbeit die „Power and Supervision in a networked Age“ und die „Artificial Stupidity“ (Spottname für Künstliche Intelligenz, für den sich noch niemand der Mühe einer deutschen Übersetzung unterzogen hat) unterminieren. Mit der immer noch erfreulich subversiven Kunst-Hauptstadt Berlin hat sie genau den richtigen Ort zur Basis erkoren, um ihre Anregungen wirken zu lassen.
Das findet auch die Akademie der Künste und ehrt Hito Steyerl mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2019 – weil es ihr wie kaum einer anderen internationalen Künstlerin gelinge, „auf provokante und scharfsinnige Weise physische, visuelle und intellektuelle Informationen in einem Werk zu bündeln“.
Nach Akademie-Jury eine der besten aktuellen Antworten auf die Frage: „Wo ist die neue Form für den neuen Inhalt der letzten Jahre?“, die Käthe Kollwitz am 6. November 1919 in ihr Tagebuch schrieb.
Der Art Angle Podcast: Hito Steyerl darüber, warum das Metaverse bereits gescheitert ist
Angesichts der vielfältigen politischen, klimatischen und technologischen Krisen, die sich nur zwei Monate nach Beginn des Jahres 2023 entfalten, fragt man sich, ob diese ominöse Zukunft, die unsere Spezies so fürchtet, viel näher ist, als wir erwartet haben. Es ist eine angespannte und dramatische Zeit, die aber auch die Bedeutung der Kulturfigur Hito Steyerl unterstreicht.
Die kühnen Kunstwerke der deutschen Filmemacherin untersuchen aufkommende Technologien und Medien, und sie verortet diese Untersuchungen oft in Gesellschaft und Politik, Globalisierung und Kapitalismus. Doch trotz der Komplexität des Themas und ihres rechercheintensiven Prozesses sind Steyerls Arbeiten durchaus fesselnd und manifestieren sich oft als höchst ambitionierte, immersive architektonische Umgebungen.
Kein Wunder, dass ihre Arbeit eine globale Bühne erreicht hat. Letztes Jahr beendete ihre größte Retrospektive mit dem Titel „I Will Survive“ ihre Europatournee im Stedelijk Museum in Amsterdam. Und erst letzten Monat wurde ihre Ausstellung mit dem Titel „This is the Future“ im Portland Art Museum eröffnet, wo sie bis Mitte Juni zu sehen ist.
In der Folge dieser Woche sprach die europäische Redakteurin Kate Brown mit Steyerl, um einige der Fragen zu beantworten, was künstliche Intelligenz, das Metaversum, Krypto und eine zunehmend gefährdete natürliche Welt für uns bedeuten könnten.
Inhaber und Geschäftsführer von Kunstplaza. Publizist, Redakteur und passionierter Blogger im Bereich Kunst, Design und Kreativität seit 2011. Erfolgreicher Abschluss in Webdesign im Rahmen eines Hochschulstudiums (2008). Weiterentwicklung von Kreativitätstechniken durch Kurse in Freiem Zeichnen, Ausdrucksmalen und Theatre/Acting. Profunde Kenntnisse des Kunstmarktes durch langjährige journalistische Recherchen und zahlreichen Kooperationen mit Akteuren/Institutionen aus Kunst und Kultur.