Der 100. Geburtstag eines Jahrhundert-Musikers ist zu feiern: Am 5. September 2012 wäre der Ausnahmemusiker John Cage 100 Jahre alt geworden! Lehnen Sie sich zurück und gedenken Sie eine Minute seiner Musik (siehe folgendes kurzes Video mit dem Song „Ocean of Sounds“).
Sie kennen kein Werk von John Cage ein, aus dem Gedächtnis? Doch, bestimmt, zumindest dann, wenn Sie in Ihrem Wohnumfeld einen wirklich stillen Raum haben, in den Sie sich zurückziehen können. Wenn Sie das 4 Minuten und 33 Sekunden lang tun, haben Sie dann gerade John Cage Stück “4,33” gehört, ein Stück, das nach Aussage John Cages “keine beabsichtigten Klänge enthält” (das heißt, keine einzige Note, wenn das Umfeld still ist, hören Sie nur Ihr Blut rauschen).
Dieses Stück gilt heute als Schlüsselwerk der “Neuen Musik”, bis “4,33” entstand, hatte John Cage aber schon über 100 andere erstaunliche Werke komponiert, um 150 Kompositionen, die die Welt der traditionellen Komposition ebenso auf den Kopf stellten, sollten folgen.
Obwohl es die “Neue Musik” zu Beginn seines Schaffens schon eine ganze Weile gab: Unter diesem Begriff werden seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Bestrebungen zusammengefasst, die Musik über den klassisch-romantischen Kompositionsstil des 19. Jahrhunderts hinauszuführen.
Die Bezeichnung stammt aus einem Vortrag von 1919, den der Musikjournalist Paul Bekker über Tendenzen in der aktuell entstehenden Musik hielt, er wurde später für die unterschiedlichsten Modernisierungstendenzen der “ernsten” Musik des 20., dann auch des 21. Jahrhunderts übernommen.
Bereits die Wende zum 20. Jahrhundert leitete mit Komponisten wie Gustav Mahler, Ferruccio Busoni, Franz Schreker und Arnold Schönberg eine Erneuerung der Musik ein. Die Musikschaffenden suchten neue Ideen, für sämtliche musikalischen Stilmittel. Schon bald gibt es völlig neue musikalische Experimente, die Möglichkeit der Eigenständigkeit des Rhythmus wurde z. B. entdeckt oder Geräuschen wurden zum Bestandteil der Musik gemacht.
Dabei entwickelt die „Neue Musik“ keinen übergeordneten, einheitlichen Stil, sondern zeigt sich in vielen verschiedenen Stilen, von einzelnen Komponisten, mitunter in einzelnen Werken. Damit ist das 20. Jahrhundert wohl das erste Jahrhundert, das in einem Kulturkreis Polystilistik ausbildet.
Grundsätzlich beeinflusst wurde die “Neue Musik” auch durch die technischen Innovationen von Rundfunktechnik und Schallaufzeichnung, die Musik erstmals beliebig reproduzierbar machten und damit die Struktur der bisher elitären Zuhörer popularisierte. Auch das musikalische Potenzial der neuen Technik selbst war zu erforschen und gab den Komponisten der Zeit Anlass zu vielen kompositorischen Experimenten.
Der Zweite Weltkrieg war ein vernichtender Einschnitt in diese pluralistische Entwicklung der Neuen Musik, der nach 1945 durch Bereitstellung neuartiger Institutionen für die Musiker und deren Ausbildung aufgefangen werden sollte.
Musikhochschulen wurden mit der deutlichen Forderung nach einem Neuanfang wiedereröffnet oder gänzlich neu gegründet, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gaben den Komponisten ein neues Forum, durch die Vergabe von Kompositionsaufträgen wird zusätzlich die Produktion angeregt, um an die unterbrochene Entwicklung wieder anzuknüpfen.
Während in der Vorkriegszeit die wichtigsten Impulse zur Erschaffung einer “Neuen Musik” aus Europa gekommen waren, häufig aus dem deutschsprachigen Raum, wird die Entwicklung nach Kriegsende immer internationaler. Neben der Beobachtung des Schaffens in den traditionell tonangebenden europäischen Musikländern wie Frankreich, Italien, Polen und der Schweiz findet nun erstmals auch die USA mit dem Kreis um John Cage und Morton Feldman im internationalen Musikgeschehen Beachtung.
John Cage brauchte einige Zeit, bis er diese Anerkennung erreichte: Er wurde 1912 in ein weltoffenes Elternhaus hineingeboren, mit einem Ingenieur und Erfinder als Vater und einer Journalistin als Mutter. Er verlebte eine anregende Kindheit in Kalifornien und erhielt bereits in jungen Jahren Klavierunterricht.
Die High-School schloss Cage 1928 mit der höchsten bisher vergebenen Punktzahl ab, es folgten zunächst zwei Jahre Studium der Literatur. Mit 18 ging Cage anderthalb Jahre nach Europa, wo er klassische Architektur und die Musik von Bach studierte, Gedichte schrieb und die ersten homosexuellen Erfahrungen machte.
Cage lernte die europäische künstlerische Avantgarde kennen, die Arbeit von Hugo Ball und Hans Arp, James Joyce und Marcel Duchamp, Kurt Schwitters und László Moholy-Nagy, er war in Deutschland, Algerien und Spanien, er malte und schrieb Gedichte und verfasste seine ersten Kompositionen.
1931 kehrte Cage in die USA zurück, wo er teilweise bittere finanzielle Not litt und alle möglichen Jobs annahm. Dennoch begann er 1932 ein Kompositionsstudium, zunächst bei Richard Buhlig, 1933 lernte er Xenia Kashevaroff kennen, sie heiraten 1935. Im Studium hatte Cage inzwischen Harmonielehre beim ersten amerikanischen Schüler Arnold Schönbergs belegt, nun nahm er bei Schönberg Privatunterricht in Kontrapunkt-Kompositionstechnik, bis 1937, obwohl Schönberg ihm versicherte, er werde nie richtig komponieren können.
Das unstete Leben ging weiter: 1938 erhielt Cage ein Engagement am Mills College in San Francisco, als Musikbegleitung für Tanzklassen, von dort wurde er an das Cornish College of the Arts vermittelt, wo er für die Choreografin Bonnie Bird (Martha Graham Gruppe) arbeitete. Im Anschluss hielt er Vorlesungen in Seattle und gründete dort ein Schlagzeugensemble, in dem gelegentlich auch Merce Cunningham mitspielte, der später wichtigste Mensch in seinem Leben.
Zunächst kehrte Cage jedoch 1940 nach San Francisco zurück, arbeite wieder als musikalischer Begleiter der Tanzklasse des Mills College und wurde dann von Syvilla Fort um eine Komposition für ihr Ballett gebeten. Da Ballettmusik mit Schlagzeugen nicht zu bewerkstelligen war, benutzte Cage ein vorhandenes Klavier, dessen Klangmechanik er mit kleinen Alltagsgegenständen präparierte, um ihm die gewünschten afrikanischen Klänge zu entlocken.
Ab 1941 konnte Cage an der Chicago School of Design eine Klasse in experimenteller Musik unterrichten und lernte dort Peggy Guggenheim und Max Ernst kennen, die ihn zu sich nach New York einluden. Cage zog mit seiner Frau nach New York, sie wohnten beim Ehepaar Ernst-Guggenheim und wurden bei deren Künstler-Bekannten eingeführt, u. a. Piet Mondrian, Marcel Duchamp und André Breton.
Diese Verbindungen verschafften Cage 1943 ein Konzert im Museum of Modern Art, jetzt wurde er in den New Yorker Avantgarde-Kreisen bekannt und konnte Kontakte knüpfen. Er traf Musiker, Tänzer und bildende Künstler und konnte einige Arbeiten für Berühmtheiten wie Marcel Duchamp verfassen. Jetzt konnte Cage mit seiner Kompositionsarbeit endlich seinen Lebensunterhalt verdienen.
Im folgenden Jahrzehnt arbeitete er mit zahlreichen Künstlern der Zeit zusammen und lernte ebenso zahlreiche andere kennen, Xenia und er trennen sich und Cage findet in Cunningham seinen Lebens- und Arbeitspartner, mit dem er zahlreiche Tanzproduktionen konzipiert und durchführt. Es folgte ein weiterer Europa-Aufenthalt zusammen mit Cunningham, der weitere Künstlerfreundschaften (Pierre Boulez, Alberto Giacometti, Ellsworth Kelly) begründete, die Experimente seiner Kompositionen wurden immer gewagter, 1952 inszenierte John Cage das erste Happening der Welt, schrieb sich aber auch für zwei Jahre an der Columbia University für Zen-Kurse ein.
Die Suche nach einem einfachen Leben brachte Cage auch dazu, sich intensiv mit Pilzen zu beschäftigen, vom Sammeln bis zur Zubereitung. In den 1950ern unternahm Cage außerdem eine ausgedehnte Konzerttournee durch Europa, unterrichte und übte bei dieser Unterrichtstätigkeit einen großen Einfluss auf die Fluxus-Bewegung aus, deren Künstler zu seinen Schülern gehörten.
Ähnlich bewegt blieb Cages Leben die nächsten 30 Jahre, bis er 1992 knapp vor seinem 80. Geburtstag einem Schlaganfall erlag: Er lehrte und komponierte und lernte die Zeitgrößen kennen, Karlheinz Stockhausen und Yoko Ono, Nam June Paik und Erik Satie, Joseph Beuys und Claes Oldenburg und wahrscheinlich auch jeden anderen Künstler, der offen für neue Erfahrungen war und die Grenzen traditioneller Ausdrucksformen erkunden wollte.
Wenn Cage sich damit beschäftigte, eine “herrschaftsfreie Musik” zu entwickeln, in der jeder Klang, jedes Geräusch und jeder Ton gleichwertig ist, hat er damit aber nicht nur unwiederbringlich die Entwicklung der modernen Musik beeinflusst. John Cage war immer daran gelegen, dass auch Menschen ohne Geld und ohne Vorbildung an Musik teilhaben konnten und die Möglichkeit erhielten, hören und komponieren zu lernen.
Wenn er “Zufallsmusik” komponierte, deren Noten durch das Orakel I-Ging oder durch Sternenkarten ermittelt wurde, ging es ihm weniger um den Klang der Musik, sondern darum, Hörgewohnheiten aufzubrechen.
Warum? Für Cage ist die Offenheit für eine neue, experimentelle Ausdrucksform eine Haltung, die jedem Menschen durch Schule und Erziehung dringend vermittelt werden muss. Denn wer nur Einheitsbrei hört und liest, kann auch nur in eingefahrenen Bahnen denken. Wer in eingefahrenen Bahnen denkt, hinterfragt wenig und nimmt vieles unkritisch hin …
Wenn Sie neugierig geworden sind: Sie können sich ein Stück von John Cage anhören, in der Burchardi-Kirche in Halberstadt. Sie brauchen sich auch nicht beeilen mit der Fahrt nach Halberstadt, das Stück wird noch bis zum Jahr 2640 aufgeführt, Sie haben also noch über 600 Jahre Zeit (Nein, das ist kein Witz, sondern ein wirklich atemberaubendes Projekt!).
Mehr soll hier nicht verraten werden, alle weiteren Informationen finden Sie unter www.aslsp.org.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse