Gute Voraussetzungen für künstlerisch begabte Logiker
Henri Robert Marcel Duchamp wurde 1887 in eine Familie hineingeboren, für die der Begriff „kunstgeneigte Juristen“ wohl wirklich gut passt:
Sein Vater Justin-Isidore Eugène Duchamp (1848–1925) war Notar, die Mutter Marie Caroline Lucie Duchamp (1856 – 1925, als Mutter von sechs Kindern wahrscheinlich nicht berufstätig) war die Tochter von Émile Frédéric Nicolle, der nach einem Berufsleben als Schiffsmakler zum bekannten Maler und Kupferstecher reüssierte.
Marcel war das dritte von sechs Kindern und wuchs nahe der französischen Kanalküste in Blainville-Crevon bei Rouen auf.
Die Kinder der Familie wurden in großen Abständen geboren, den ersten Sohn bekam Lucie Duchamp mit 19, den nächsten mit 20, Marcel mit 31, Suzanne mit 33, Yvonne mit 39 und Magdelaine mit 42.
Da die Abstände zu den beiden älteren und den beiden jüngeren Geschwistern jeweils rund ein Jahrzehnt betrugen, wuchs Marcel faktisch in der Gesellschaft einer Schwester auf, der zwei Jahre jüngeren Suzanne.
Das Erziehungsklima in Familie Duchamp war offensichtlich dazu angetan, die Nachkommen für Kunst zu begeistern. Ebenso wahrscheinlich herrschte aber auch in dieser Familie die übliche Tendenz, von den (männlichen) Nachkommen zumindest die Vorschaltung einer Ausbildung in einem „ehrbaren akademischen Beruf“ zu verlangen, beides zeigt der Werdegang der Duchamp-Brüder:
Marcels ältester Bruder Emile Méry Frédéric Gaston Duchamp studierte zunächst Rechtswissenschaften und arbeitete als Notar, bevor er sich 1894 an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris einschrieb, um in Folge unter dem Pseudonym Jacques Villon Maler und Grafiker berühmt zu werden.
Jacques Villon stellte auf der documenta 1 (1955), documenta II (1959) und (postum) auf der documenta III (1964) aus und erhielt zahlreiche Auszeichnungen für seine Kunst, u. a. den Großen Preis der Biennale Venedig 1956.
Der zweitälteste, Pierre Maurice Raymond Duchamp, zog zu seinem Bruder Jacques nach Paris Montmartre und studierte ab 1895 Medizin an der Sorbonne. Als er das Studium wegen einer chronischen Erkrankung abbrechen musste, wandte er sich der Bildhauerei zu und machte als „Raymond Duchamp-Villon“ Karriere (ein Pseudonym, das perfekte Abgrenzung zu den inzwischen beide als Künstler bekannten Brüdern Jacques und Marcel schuf und zugleich ein Bindeglied darstellte).
Der bedeutende Bildhauer des Kubismus begann gerade, mit Übertragung der kubistischen Prinzipien auf die Architektur zu experimentieren, als er eingezogen wurde und im Oktober 1918 Opfer des 1. Weltkriegs wurde.
Schwester Suzanne Duchamp durfte als Mädchen die künstlerische Laufbahn ohne Umwege einschlagen, sie besuchte ab 1905 (16. Lebensjahr) die École des Beaux-Arts in Rouen, wo sie erste Werke vorstellte, in denen sie sich mit Impressionismus und Kubismus beschäftigte. Mit 21 heiratete sie dann erst einmal einen örtlichen Apotheker, die Ehe wurde aber schnell geschieden, Suzanne zog nach Paris Montparnasse, um in der Nähe von Bruder Marcel ihre Künstler-Karriere auszubauen.
Die Karriere (als Künstler) war für eine Frau zur damaligen Zeit noch schwerer zu erreichen als heute. Auch wenn viele Frauen andere Erfahrungen gemacht haben oder gerade machen, ist die Zivilisation bis heute in dieser Richtung ein ganzes Stück vorangekommen: Es gibt Massen von Menschen, die unabhängig von ihrem Geschlecht an die Gleichheit aller Menschen glauben und außerdem Macht – im Verbund mit dem Bestreben, möglichst viele andere von Macht fernzuhalten – auch gar nicht mehr als ein erstrebenswertes Ziel ansehen.
Kleiner Einschub für die vielen optimistischen Frauen, die Feminismus als Gegenstand der Frühgeschichte und Gleichberechtigung als lange erreicht betrachten: Nach dem geltenden „Datenreport zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ verdienen Frauen – aktuell, im Jahr 2015 – in Deutschland bei ungefähr gleicher Arbeitszeit mindestens 20 Prozent weniger als Männer. Egal welche Daten zur Analyse der Erwerbseinkommen herangezogen werden, heißt im Klartext überall, in jeder Berufssparte.
Dieser Datenreport kommt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Logisch denkenden Menschen fällt bei diesem Namen des Ministerium auch gleich auf, dass im Namen neben dem kleinsten Verbund von Menschen in einer Gesellschaft (Familie) drei Gruppen von Individuen genannt werden, deren Anliegen offensichtlich im Zusammenhang mit diesem Kleinverbund politisch zu behandeln sind, Senioren, Frauen und Jugend. Schade eigentlich, dass für die Politik die deutschen Männer mit den Familien nichts zu tun haben …
Gegenstand der Frühgeschichte ist Gleichberechtigung auch nicht, sondern teils sehr junge Zeitgeschichte, wie die Einführungsdaten des Frauenwahlrechts in 20 europäischen Ländern beweisen: 1906 Finnland, 1913 Norwegen, 1915 Dänemark, 1915 Island, 1917 Estland, 1918 Lettland, 1918 Deutschland, 1918 Österreich, 1918 Polen, 1918 Luxemburg, 1919 Niederlande, 1921 Schweden, 1928 Großbritannien, 1931 Spanien, 1944 Frankreich, 1945 Ungarn, 1945 Slowenien, 1945 Bulgarien, 1946 Italien, 1952 Griechenland, 1971 Schweiz, 1984 Liechtenstein.
Ach so, auf der aktuellen „Weltrangliste der Kunst“ (artfacts.net) bestätigt sich das 20-%-Drama, nur 100 Frauen haben Zugang zum illustren Kreis der 500 gefragtesten Künstler der Welt, den Rest der vorderen Plätze nehmen 400 Männer ein, 80 %.
Wer jetzt noch behauptet, Feminismus sei nicht mehr zeitgemäß, sollte entweder noch eine Runde Nachdenken einschieben oder sich endgültig darauf beschränken, bei Youtube den neuesten Nagellack oder in den Medien sich selbst in High Heels zu präsentieren.
Für Suzanne Duchamp waren auf jeden Fall damals die Reihen der Mächtigen (samt der üblichen bewundernden Gefolgschaft, die gerne Macht erreichen will) fest geschlossen, wie alle weiblichen Maler konnte sie damit rechnen, nur schwer Beachtung zu finden. Und doch hatte Suzanne Duchamp mit 22 ihre erste große Ausstellung im „Salon des Indépendants“ in Paris, was von (männlichen) Berichterstattern gewöhnlich mit zunehmender Prominenz ihrer Brüder in der Kunstwelt und nicht mit einer außergewöhnlichen Qualität ihres Oeuvres begründet wird.
Nach kriegsbedingter Schaffenspause erstellte Suzanne Duchamp ihre ersten dadaistischen Kunstwerke, weitere und eine ihre Kunst anregende Ehe mit einem Schweizer Künstler folgten. Ihr Werk wandelte sich von Dadaismus über gegenständliche Kunst bis zu Abstraktion in hoher Qualität; sie hat in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, der Schweiz und den USA ausgestellt, ihre Werke hängen heute in öffentlichen Sammlungen im Philadelphia Museum of Art, im Art Institute of Chicago und im MoMA (Museum of Modern Art New York City).
Die zwei nächsten Schwestern Marcel Duchamps wurden fast bzw. gut ein Jahrzehnt nach ihm geboren, Yvonne (* 1895) und Magdelaine (* 1898) treten in der Berichterstattung nicht anders in Erscheinung als in den Gemälden, die ihr Bruder Marcel von ihnen angefertigte.
Früh übt sich
Marcel Duchamp ging nach der Grundschule ab 1897 erst auf ein Internat in Rouen und dann auf das Gymnasium „Lycée Corneille“, wo er 1904 das „Baccalauréat de philosophie“ (Abitur Schwerpunkt Philosophie) ablegte.
1902, mit 15 Jahren, begann Duchamp zu malen. Seine ersten Bilder waren impressionistisch, dieser Malstil war damals Mainstream. 1903 verging mit Portraitmalerei, Skizzen von Verwandten und Freunden der Familie entstanden.
Nach dem Abitur ging Duchamp für einige Monate an die private Kunstschule Académie Julian in Paris, er konnte dort bei seinem Bruder Jacques Villon wohnen.
In der Zeit an der Akademie begann er, sich mit der impressionistischen Malerei auseinanderzusetzen, es sollte noch einige Zeit und einige Umwege dauern, bis diese Auseinandersetzungen sich in seinen Werken niederschlugen.
Erst einmal stand noch der Militärdienst einer sorgenfreien Zukunft im Weg, und schon damals erdachten eher friedlich gesonnene Zeitgenossen Wege, um dem Gewalt-Drill zu entgehen oder die Zeit zumindest zu verkürzen: Duchamp meldete sich im Oktober 1905 freiwillig zum Militär und bezog sich auf ein Gesetz, das Ärzten, Rechtsanwälten, Facharbeitern und Handwerkern eine von 3 auf 1 Jahr verkürzte Militärdienstzeit zubilligte.
Duchamp hatte im Laufe seiner künstlerischen Übungen ab Mai 1905 eine Lehre in einer Kunstdruckerei absolviert und erfolgreich abgeschlossen, die ihm nun als Nachweis des Handwerksberufs gut zupass kam.
So konnte er bereits im Oktober 1906 nach Paris zurückkehren und weiterarbeiten, Juli 1908 zog er nach Neuilly in die Nähe seines Bruders Jacques Villon in Puteaux, den er in der Neuilly-Zeit bis Oktober 1913 häufig besuchte.
In dieser Zeit malte Marcel Duchamp viel, versuchte sich auch als Illustrator und zeichnete nebenher Karikaturen für mehrere Zeitschriften.
Erste Ausstellung und Puteaux-Gruppe
1909 stellte Marcel Duchamp 2 x auf dem Salon des Indépendants in Paris aus, mit zwei noch sehr impressionistischen Bildern auf der Frühjahrs-Ausstellung und mit drei Werken im Herbst, dem noch sanften und braven impressionistischen Werk „Auf den Klippen“ (1908), ayay.co.uk/, und dem schon ganz leicht kubistisch angehauchten „Saint Sébastien“ (1909).
Denn bei Jacques Villon in Puteaux (Sonntags, im Garten) hatte Duchamp eine ganze Reihe von Künstler und Schriftstellern – Albert Gleizes, Henri Le Fauconnier, Roger de La Fresnaye, Jean Metzinger, Guillaume Apollinaire, Francis Picabia, Juan Gris – kennengelernt und mit ihnen über den „neuesten Schrei in der Malerei“ diskutiert, die kubistischen Arbeiten Braques und Picassos.
Um 1911 folgte Marcel Duchamp wie seine Brüder und der Rest der diskutierenden Künstler endgültig dem, was die „moderne Zeit“ (und Picasso und Braque seit etwa 1908) von der Kunst forderte – sie wandten sich mit Haut und Haar dem Kubismus zu, die sogenannten Puteaux-Gruppe formierte sich.
Wie häufig bei den Künstler-Gruppen, gab es bei der bald Ärger: Das 1912 frisch gefertigte Werk „Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2“ (Nu descendant un escalier no.2, www.philamuseum.org/) wurde gleich darauf vom Salon des Indépendants zurückgewiesen, weil es den Kubisten um Gleizes und Metzinger zu kubistisch oder zu frech oder zu gut war („über ihr Programm hinausging“, nennt man das in Künstler-, Kuratoren- und noch anderen Kreisen).
Marcel Duchamp ist sich vermutlich vorgekommen wie ein heutiger (per Netz oder tatsächlich) durch die Welt reisender Mensch, der unvermutet in eine Sitzung eines patriarchalisch geführten Kleingarten-Vereins gerät (die soll es heute noch geben), er hat die Nase voll von „elitären Zirkeln“ jeglicher Provenienz: „Es war ein wirklicher Wendepunkt in meinem Leben“, zitiert ihn sein Biograf Calvin Tomkins, „Ich sah, daß ich mich danach nie mehr allzusehr für Gruppen interessieren würde“.
Alte Perfektion, neue Perfektion und künstlerischer Schock
Bei der Ausstellungstätigkeit in Paris hatte Duchamp unter anderen den deutschen Maler Max Bergmann kennengelernt. Aus dessen Vorschlag reiste Duchamp Ende Juni 1912 nach München, wo er etwa zwei Monate damit verbrachte, die „Alten Meister“ in der Alten Pinakothek zu studieren.
Die Gemälde Lucas Cranachs beeindruckten Duchamp, sie hatten Einfluss auf sein letztes kubistisches Gemälde „Die Braut“ (www.abcgallery.com/), das Sommer 1912 in München entstand.
Auch die ersten Studien für „Die Neuvermählte/Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar (oder: Großes Glas)“ (www.dada-companion.com/, 1915 bis 1923) sollen noch Anregungen von Cranach spüren lassen.
Im Herbst 1912 kamen Einflüsse der damaligen Moderne hinzu, die sein bisheriges Kunstschaffen beenden sollten: Duchamp besuchte mit Constantin Brâncuși und Fernand Léger die dritte Luftfahrtschau im Pariser Grand Palais, auf der die neuesten Flugzeuge vorgestellt wurden, mit den neuesten technischen Innovationen, die in den paar Jahren seit dem ersten Flug mit dem ersten, von Orville und Wilbur Wright entwickelten Flugzeug im Jahr 1903 entwickelt werden konnten.
Duchamp muss wohl zum ersten Mal mit Technik und deren Innovationen in Kontakt gekommen sein, die Wirkung war durchschlagend, er sagte zu Brâncuşi:
„Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?“
War sie nicht, aber das Leben des Malers Marcel Duchamp vollzog unter dem Eindruck der perfekten industriellen Form eine grundlegende Wende, deren Ergebnisse und gewaltigen Auswirkungen im zweiten Teil des Artikels „Marcel Duchamp: Ready to make Art“ beschrieben werden.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse