Die Künstlerin Marina Abramovic und ihr Platz in der Kunstwelt
Marina Abramović ist serbische Staatsbürgerin, ihr Leben und ihre Arbeit als Künstlerin ereigneten sich allerdings bereits zu den Zeiten eher im Rest der Welt, als Serbien noch Teil von Jugoslawien war. Abramović wurde als Performancekünstlerin und Aktionskünstlerin bekannt, fertigte Installationen und Konzeptkunst.
Die „grandmother of performance art“ (Ausspruch eines ehemaligen Lebensgefährten, den die Künstlerin selbst nicht sehr schätzen soll) ist berühmt wie kaum ein anderer Künstler, und das nicht nur, weil ihre illustre Karriere in den 1960er Jahren begann und Marina Abramović bis heute immer wieder aufsehenerregend neue Kunst erdachte und vorstellte.
Sie hat die Performance Art umfassend und bemerkenswert beeinflusst, als Künstlerin und als Mentorin jüngerer Künstler; ihre außergewöhnliche und anspruchsvolle Art des Kunstschaffens beeinflusste Künstler ihrer eigenen Generation ebenso wie Künstler der nachfolgenden Generationen. Über die vergangenen fünf Jahrzehnte hat Abramovićs Kunst eine Reihe von Wandlungen durchgemacht, die die Weiterentwicklung der Künstlerin und der Person widerspiegeln.
Marina Abramović gehört zu den umstrittensten Künstlern unserer Zeit, weil es wenige Menschen gibt, die sie mit ihren Performances nicht anrührt und aufrührt.
Ihr nach Ausstellungs- und Verkaufserfolgen ermittelter Platz in der Kunstwelt spiegelt das ambivalente Verhältnis der internationalen Kunstkritik zur Künstlerin Abramović: 2005 wurde sie auf der Liste der erfolgreichsten Künstlerin der Welt auf Platz 36 gelistet, 2006 auf Platz 43, 2007 stieg sie auf Platz 31, 2008 war sie wieder auf Platz 36 angekommen, 2009 auf Platz 40 gefallen, 2010 auf Platz 29 geklettert, 2011 auf 33 abgesunken, 2012 auf Platz 35, 2013 auf 37, 2014 auf 31, im Moment ist sie wieder auf Platz 35 gefallen (siehe artfacts.net/en/artists/top100.html).
Eine schnell und oft vom Aufwärtstrend wieder ins Abwärts stürzende Zick-Zack-Linie, noch nicht einmal ein halbes Dutzend der auf die ersten 50 Plätze der Weltbestenliste der Kunst abonnierten Weltkünstler zeigen ähnliche Beweglichkeit in ihrer Kunst und deren Bewertung. Hier folgt die Geschichte dahinter, die auch die Geschichte einer Gesellschaft ist:
Marina Abramovic und die jugoslawische Geschichte
Marina Abramović ist am 30. November 1946 in Belgrad, Jugoslawien, geboren. Ein Nachkriegskind, das in der sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien unter der Herrschaft des „väterlichen Diktators“ Josip Broz Tito (1892-1980) aufwuchs.
Und doch ein Nachkriegskind, deren Weg zur Künstlerin und Ausdrucksweise als Künstlerin auch von den vergangenen Kriegen ihres Landes entscheidend und erschütternd beeinflusst wurde:
Abramovićs Eltern Vojo Abramović und Danica Abramović waren beide politisch hochaktiv und wurden durch ihre Erlebnisse derart geprägt, dass die Kindheit ihrer Tochter Marina durch die Erinnerungen an das Erlebte elementar gestaltet wurde.
Vater Vojo Abramović wurde am 29. September 1914 als Sohn armer Eltern in Cetinje, Montenegro, geboren. Er wuchs in Pec im Kosovo auf, ging zur Armee gegangen und brachte es zunächst bis zum General. ihre Mutter Danica Abramović wurde 1921 als Tochter von Varnava Rosić geboren, 1930 bis 1937 Patriarch der Serbisch-Orthodoxen Kirche.
Auch sie wurde jedoch Majorin in der Armee, beide Eltern sollen die Christlich-Orthodoxe Religion abgelehnt haben, in die sie hineingeboren wurden, klingt nicht nach einem herzlichen Verhältnis zum Großvater der mütterlichen Seite.
Beide Eltern, der Montenegriner und die Serbin, schlossen sich Titos Volksbefreiungsarmee an. Sie sollen von 1941 bis 1945 in einer Guerilla-Einheit gegen die Kroatischen faschistischen Ustascha im Einsatz gewesen sein, die Völkermord an Juden, Roma und Serben in hohen sechsstelligen Zahlen begingen.
Traumatische Erfahrungen, die Marina Abramović in ihrer Kinder- und Jugendzeit spürte und die ein ewiges Thema sind, wenn es um die Künstlerin Marina Abramović geht.
Ohne einen Blick auf die Geschichte Serbiens/Jugoslawiens ist ein Zugang zur Künstlerin Marina Abramović deshalb kaum möglich:
Der Balkan: Ein ewiger Kampf
Die heutige Republik Serbien im Zentrum der Balkanhalbinsel ist seit etwa dem Jahr 600 ein Staat, bis ca. 1000 unter Stammesführern namens Županen, wie so häufig bei Staaten mit vielen Nachbarn ging bald nach der Staatsgründung das Gezänke los: Um 1000 wurde Serbien von den Ungarn verwüstet und geriet bis Mitte des 12. Jahrhunderts unter byzantinische Herrschaft.
Ende des 12. Jahrhunderts stieg Serbien unter den Nemanjiden zur regionalen Großmacht auf, unter dem mächtigsten serbischen Herrscher Zar Dušan (1331–1355) erreichte das serbische Reich den größten politischen Einfluss und die größte Ausdehnung, 1345 wurde Dušan „Zar der Serben und Rhomäer“.
Seine Nachfolger mussten sich Ende des 14. Jahrhunderts gegen die Türken (Osmanen) verteidigen, die das letzte christliche Reich Südosteuropas dem Byzantinischen Reiches einverleiben wollten. In der sogenannten Amselfeldschlacht (1389, für die Serben ein nationaler Mythos) wurden die serbischen Fürsten derart geschwächt, dass sie die Oberhoheit der osmanischen Sultane faktisch anerkennen mussten.
1459 wurde Serbien dann endgültig erobert, seitdem kämpfte es um Unabhängigkeit, konnte sich aber erst im Ersten Serbischen Aufstand 1804 teilweise von der Osmanischen Herrschaft befreien.
1813 wurde Serbien erneut von den Osmanen erobert, durch den Zweiten Serbischen Aufstand (1815 – 1817) teilautonomes Fürstentum, 1867 durch Fürst Mihailo Obrenović von den letzten osmanischen Regimentern befreit.
Er weihte Belgrad feierlich zur freien serbischen Hauptstadt, auf dem Berliner Kongress 1878 erkannten die europäischen Großmächte und die Türkei die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro an, 1882 wurde das Fürstentum Serbien zum Königreich erklärt. König Milan Obrenović erklärte 1885 Bulgarien den Krieg und wurde besiegt, nur durch Eingreifen Österreich-Ungarns konnte das serbische Königreich im Frieden von Bukarest von 1886 bewahrt werden.
1912 erklärte Montenegro dem Osmanischen Reich den (1. Balkan-) Krieg, Serben, Bulgaren und Griechen traten bei, das Osmanische Reich verlor fast den gesamten europäischen Besitz (Londoner Vertrag 1913). Bulgarien, Serbien und Griechenland stritten nun um die Aufteilung Makedoniens, mit dem Angriff Bulgariens auf Serbien begann am 29. Juli 1913 der Zweite Balkankrieg, hier kämpften nun Serbien, Griechenland, Rumänien und das Osmanische Reich gegen Bulgarien, das schon im August 1913 verlor, Makedonien wurde aufgeteilt.
Im Ersten Weltkrieg war Serbien dann gut mit dabei: Schlechte Laune und immer schlechtere Laune in Europa war schon eine ganze Weile zu beobachten, aber der unmittelbare Kriegsauslöser war das Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger (Franz Ferdinand von Österreich-Este). Dieses Attentat hatte die „Schwarze Hand“ angezettelt, ein Geheimbund mit einigem Einfluss in der serbischen Regierung, der „großserbische Ideologien“ (Zerschlagung Österreich-Ungarns, ein Staat für alle südslawischen Völker, z. B.) vertrat.
Wenn Geheimbünde und Ideologien, Begriffe wie „Zerschlagung“ und „ein für alle“ im Spiel sind, folgen gewöhnlich allumfassende Desaster, wie auch hier: Die angespannte Lage kumulierte nach dem Attentat darin, dass Österreich-Ungarn Serbien ein „unannehmbares Ultimatum“ stelle, anstatt das gegenseitige Misstrauen abzubauen und vermeintliche Demütigungen zu klären, führte man lieber Krieg.
Wie in jedem Krieg (und jeder Bürger-Enteignung durch Finanzbetrug) war abzusehen, dass von den „Entscheidern“ nur wenige unter den 17 Millionen Toten (den vermögenslosen Bürgern) sein würden, die dieser Krieg verursachte.
Wenn ein paar großmannssüchtige Potentaten „Krieg spielen wollen“, ist jeder Pups eine Demütigung, und unannehmbar am „nahezu unannehmbaren Ultimatum“ waren die Punkte 5 und 6 des Ultimatums, in denen Österreich-Ungarn die Mitwirkung ihrer Staatsorgane an den Untersuchungen des Attentats forderte.
Belgrad sah das als „Verletzung der Verfassung und der serbischen Strafgesetze“ (heute meist selbstverständlich, vielleicht haben wir ja doch was gelernt) – die serbische Regierung akzeptierte dennoch mit einer Einschränkung alle Forderungen.
Aber egal, ab 28. Juli 1914 war Österreich-Ungarn im Krieg mit Serbien, und bald war Krieg in ganz Europa, Serbien verlor weit über 90 Prozent seiner Soldaten, galt aber als Verbündeter der Entente (UK + Frankreich + Russland, die eine der Kriegsparteien ggü. den Mittelmächten Österreich-Ungarn, Deutsches Reich, später auch Osmanisches Reich und Bulgarien) 1918 als Siegermacht.
Der serbische Prinzregent Alexander I. Karađorđević gründete nun das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das sich 1929 in Jugoslawien (= Süd-Slawien) umbenannte. Alexander I. fiel dann bald (zusammen mit dem französische Außenminister) einem Attentat einer neu erstarkten nationalen Bewegung zum Opfer, unter den Nachfolgern der Familie Karađorđević entwickelte sich eine weitgehend auf den serbischen Teil der Bevölkerung gestützte „autoritäre Königsdiktatur“, bis Peter II. Karadordjević als letzter König von Jugoslawien nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Jugoslawien (Balkanfeldzug April 1941) ins Exil fliehen musste.
Jugoslawien – das eigentlich neutral bleiben wollte – wurde innerhalb weniger Tage vollständig besetzt und von den Siegern aufgeteilt: Bosnien, Herzegowina, Syrmien wurden zu Kroatien, Banovina Zeta (fast gleich Montenegro + Kosovo) wurde von italienischen Nazis besetzt, Batschka fiel an Ungarn, Banat + „Rumpfserbien“ wurden von deutschen Nazis besetzt, Süd- und Zentralserbien wenig später von Bulgarien okkupiert.
Die Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) und König Peter II. im Exil organisierten den antifaschistischen Widerstand, mit der Folge eines Volksaufstandes in Serbien (Juli 1941, später auch in Montenegro, Bosnien und Kroatien); neben Widerstand gegen die Wehrmacht begann die von der KPJ kontrollierte Partisanenbewegung aber auch den offenen Kampf gegen die jugoslawische Monarchie.
Im Herbst 1941 konnten die serbischen Partisanen immerhin die befreite Republik Užice (Gebirgsregion) ausrufen und 73 Tage gegen die Wehrmacht halten, wurden dann vertrieben und verlegt, in Serbien wurde der wurde der Widerstand gegen die faschistischen Besatzer vor allem von den Tschetniks (volkstümliche, meist antikommunistische serbische Milizen) aufrechterhalten, mit denen die kommunistischen serbischen Partisanen mancherlei Reibungspunkte hatten und die auch gegen die Tito-Partisanen in Bosnien und Kroatien arbeiteten.
Diese Tito-Partisanen waren die Keimzellen der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee, der im Juni 1941 vom Zentralkomitee der KPJ unter Titos Führung gestellten Volksbefreiungsbewegung, bei der sich Abramovićs Eltern engagierten. Diese kommunistisch dominierte Volksbefreiungsarmee hatte im Juli 1941 den allgemeinen Aufstand ausgerufen, Tito hatte Partisaneneinheiten aufgestellt, nachdem Serbien Ende 1941 von den Besatzungsmächten erobert wurde, waren die Partisanen unter Tito nach Ostbosnien geflohen.
Dort wurde der anfänglich serbisch-montenegrinisch geprägte Aufstand in eine multinationale Volksbefreiungsbewegung verwandelt, 22 500 bis 600 Mann starke Kampfeinheiten kamen bis bis Ende des Jahres dazu, im November 1942 erhielten die Verbände die Bezeichnung „Volksbefreiungsarmee“.
Diese Volksbefreiungsarmee erkämpfte sich nun unter der Führung von Tito und im Schatten der alliierten Luftangriffe die Befreiung vom Faschismus und die Wiederherstellung Jugoslawiens, in der neuen Form eines sozialistischen Bundesstaats (Föderative Volksrepublik Jugoslawien).
Für die Partisanen ein mörderischer Kampf, anfangs mit schlechter Ausrüstung und gegen kaum identifizierbare Gegner, das änderte sich im Laufe des Kampfes durch erbeutete Waffen, Zugewinn von Überläufern und schließlich durch die Unterstützung der Alliierten, die Ausrüstung und Waffen aus der Luft abwarfen.
Die Partisanen haben Jugoslawien unter großen Verlusten befreit, deutsche Vergeltungsmaßnahmen an der Zivilbevölkerung, der Genozid der faschistischen Bewegung Ustascha und die restlichen Kampfhandlungen forderten insgesamt mindestens 500.000 Opfer.
1944 wurde unter Vermittlung von Großbritannien eine neue jugoslawische Regierung gebildet, in der die Kommunisten unter Tito die Oberhand hatten, die Volksbefreiungsarmee ging in der Jugoslawischen Volksarmee auf.
Die entscheidende Prägung einer Künstlerin?
Marina Abramovićs Eltern, Guerillakämpfer gegen faschistische Mörder, hatten physisch, aber nicht unbedingt psychisch unbeschadet überlebt.
Die Partisanen siegten, General Vojo Abramović wurde als Held des Widerstands verehrt, aber beide Eltern wurden stark durch die schrecklichen Leiden geprägt, die sie während dieser Zeit erlebt hatten.
Abramovićs Mutter Danica Abramović hatte vor dem Krieg Medizin studiert und stellte nun fest, dass er ihr nach ihren schrecklichen Erfahrungen unmöglich war, dieses Studium fortzusetzen. Stattdessen entschied sie sich für die bildende Kunst, studierte Kunstgeschichte und wurde in den 1960er Jahren Direktorin des Museums für Kunst und Revolution Jugoslawiens in Belgrad.
Vojo Abramović ging nach dem Ende des Krieges „mit der Volksbefreiungsarmee zur Jugoslawischen Volksarmee“ und arbeitete für die jugoslawische Luftwaffe.
Wenn es um die Künstlerin Marina Abramović geht, wird der Einfluss ihrer Erziehung durch die kriegstraumatisierten Eltern eher selten nicht in einer durchgehend negativen Art und Weise thematisiert; Grund für eine vielleicht etwas andere Sicht der Dinge:
Trotz aller Traumata: Eine starke Familie
Wenn Marina Abramovićs Erziehung in den Medien ein Thema ist (Marina Abramovićs Erziehung ist seit vielen Jahren und sehr häufig ein Thema in den Medien), werden gewöhnlich viele negative Einwirkungen angesprochen, die Abramović geformt haben sollen und unter denen sie ihr ganzes Leben lang litt.
Was ihr die Eltern im Zuge der eigenen Trauma-Bewältigung bei der Erziehung alles angetan haben sollen, füllt Buchbände von Medienberichten (und war ein Anlass zum Artikel „Der Künstler als öffentliche Person in den Medien: Beispiel Marina Abramović“).
Nach positiven Kindheitserinnerungen wird allerdings nie gefragt, auch nicht danach, inwieweit die Künstlerin sich im Zuge der Entwicklung ihrer „Abramović Methode“ (ein ganzheitlich Körper und Geist forderndes und vereinendes Übungsprogramm, das viele der Ideen der modernen Medizin aufnimmt oder vorweg nimmt, die gerade den Tunnelblick der traditionellen Schulmedizin öffnen) mit so manchem nur scheinbar negativen Einfluss aus ihrer frühen Entwicklungszeit inzwischen versöhnt hat.
Anstatt möglichst viele unangenehme Details zu sammeln und aneinander zu reihen, kann man die Kindheit der Künstlerin auch auf Grundlage der überlieferten Fakten angehen und fragen:
Ist das wirklich so?
War die Erziehung der Kinder Marina und ihres jüngeren Bruders Velimir nur vom „Trauma Krieg“ bestimmt, ohne Liebe, ohne Förderung und ohne Verständnis? Auch wenn man sich dem inneren Gefüge dieser Familie respektvoll fernhalten will – die Fakten sprechen dagegen.
Natürlich ist es richtig, dass sich Marina Abramovićs Kindheit und Jugend vor einem Hintergrund abspielte, der durch die Erinnerungen gefärbt war, die ihre Eltern an die Inhumanität des erlebten Krieges hatten („Abramović’s upbringing played out against a backdrop that was coloured by the memories her parents had of the war’s inhumanity“, aus einer Veröffentlichung von Mary Richards, Download unter Brunel University Research Archive)
Natürlich ist es richtig, dass Marina Abramović unter den Eindrücken litt, die ihr ihre Eltern vom Kriegsgeschehen vermittelten – sicher sehr anschaulich vermittelten, weil sie von persönlichen Erfahrungen berichteten.
Natürlich hat Marina Abramović diese Eindrücke in ihrer Kunst be- und verarbeitet, immer wieder, bis heute.
Aber ist nicht in Gesellschaften mit Interesse an Kriegsprävention die Unterrichtung der Kinder über die Schrecknisse des Krieges unverzichtbarer Teil der Erziehung eines jeden Kindes? Oft allein durch die Schulen zu schultern, weil es zu wenig engagierte Eltern gibt, die dieser Aufgabe nachkommen?
Und ist es wirklich notwendig, bei der Behandlung dieses Themenkreises irgendwelche Einzelheiten aus dem Erziehungsstil zu erwähnen, den Abramovićs Eltern praktizierten?
Diese Eltern haben Schreckliches erlebt und hatten trotzdem noch den Mut, Kinder in die Welt zu setzen. Der Vater hat nach der Zeit des Kampfes für die Befreiung seines Landes weiter in einem sicher recht gut bezahlten Beruf gearbeitet, um die Familie zu versorgen.
Die Mutter hat nicht nur die Kinder aufgezogen, sondern auch noch studiert, und mit dem Kunststudium ganz bewusst eine Disziplin gewählt, die ihre Gedanken von ihren schlimmen Erfahrungen wegführte. Karriere hat sie auch noch gemacht in dieser Disziplin, als Direktorin eines Belgrader Museums.
Tochter Marina wurde durch ihre Erziehung offensichtlich mit den Grundlagen an Wissen und Kreativität ausgestattet, die es ihr erlaubten, weltweit als herausragend angesehene Kunst zu erdenken und zu produzieren. Außerdem mit dem Selbstvertrauen, der Bildung und den sonstigen Fähigkeiten, die es braucht, um im internationalen Kunstbetrieb – und damit vor vielen sehr klugen Leuten – zu bestehen.
Der 1952 geborene Bruder Velimir Abramović bekam durch seine Erziehung ebenfalls die Basis für eine ebenso erfolgreiche wie ungewöhnliche Karriere vermittelt.
1985 promovierte Velimir Abramović, seine Doktorarbeit behandelte das Problem der Kontinuität in der Naturphilosophie von Leibniz und Boscovich“. 1989 wurde Dr. Abramović Professor für Filmtheorie an der Universität der Künste in Belgrad, 1990 Professor für Konzepte von Zeit, Raum und Materie in den Naturwissenschaften an der Belgrader Universität, 2004 bis 2007 Dekan der Fakultät „Academy of Art“ Belgrad.
Der Philosoph Abramović arbeitet aber nicht nur im akademischen Wissenschaftsbetrieb, sondern ist seit langem als Tesla-Experte bekannt.
Der Physiker und Elektroingenieur Nikola Tesla (1856 – 1943), ebenfalls serbischer Abstammung, war ein genialer Erfinder. Unter seinen 700 Patenten waren so viele entscheidende Neuerungen auf dem Gebiet der Elektrotechnik (vor allem elektrische Energietechnik, z. B. unser Wechselstrom), dass der Balkan seinetwegen als „Wiege der Moderne“ bezeichnet wird (kritisches-netzwerk.de).
Außerdem war Tesla eine der schillerndsten Wissenschafts-Persönlichkeiten des 19./20. Jahrhunderts, mit einer Biographie, die an dramatischen Entwicklungen ihresgleichen sucht. Wer sich mit seinem Lebensweg nur kurz beschäftigt, wird sich ewig fragen, warum Hollywood erst jetzt auf die “Unbelievable Number of Tesla Films to Be Made“ kommt.
Immerhin, jetzt geht es los, mit vier Filmen 2014, zwei 2015, und 2016 kommt „Tesla“, Kinostart geplant für Juli 2016 und unter „grateful acknowledgment“ Velimir Abramovićs (IMDB – Tesla; unter IMDB – Velimir Abramovic finden Sie die Filme, an denen der Professor aktiv mitgearbeitet hat).
Abramović hat bereits 1993 das „Tesliana scientific magazine“ gegründet und herausgegeben (siehe nachfolgende Videos), 2009 das Buch „The Light That Never Goes Out“ über Nikola Tesla geschrieben und 2010 das wissenschaftliche Seminar „Tesla Cosmological Studies“ in Belgrad ins Leben gerufen, das zum „Russisch-Serbischen Institut für Kosmologische Tesla-Studien“ in Belgrad und Moskau werden soll (in Arbeit).
Weiter hat er z. B. 2001 die private philosophische Schule „Institute for the Science of Time“ in Barajevo, Serbien, gegründet, wo er an der Formulierung der Grundlagen der Wissenschaft der Zeit arbeitet, mehr zu diesem spannenden Thema und zu Professor Dr. Velimir Abramovićs weiteren Aktivitäten können Sie auf seiner Website constantpresenttime.com lesen.
Im Bereich Kunst interessiert Abramović nicht nur die Filmkunst, 1967 gab er eine Gedichtsammlung namens „Smeop“ (Simply Made Electronically Operated Poems?) heraus, 2015 trägt er auf einem Theaterfestival in Dubrovnik „an educational talk to an audience“ über Nikola Tesla vor (lepetitfestival.com).
Das Stichwort „Kunst“ erinnert daran, dass es in diesem Artikel eigentlich um die Künstlerin Marina Abramović geht. Für die durch diesen Einschub vielleicht klar gestellt werden konnte, dass sie bei aller Konfrontation mit den schrecklichen Erlebnissen ihrer Eltern in einer außerordentlich starken und erfolgreichen Familie aufwuchs, die ihr sicher eine Menge mehr mitgegeben hat als eine tiefgehende Abscheu gegenüber kriegerischen Auseinandersetzungen.
Schon wieder Krieg
Marina Abramović ist in Bezug auf den Themenbereich „Mensch und Krieg“ nicht nur durch die Erlebnisse ihrer Eltern geprägt worden, denn in ihrer Heimat hielt der Frieden nicht sehr lange:
Serbien und die anderen jugoslawischen Republiken entwickelten in der Zeit von 1945 bis zum Zusammenbruch des Kommunismus 1990 im neuen Sozialistischen Jugoslawien ihre ganz eigene Form von halbindustrialisierter Gesellschaft, in der es sich durchaus leben ließ.
Dem allseits verehrte Partisanenführer und Staatschef Tito gelang es, den Kommunismus zur „Volksreligion“ und sich selbst zum Mythos zu verklären; er konnte die unterschiedliche Nationalitäten verbindende Volksrepublik Jugoslawien dadurch lange Zeit ziemlich konfliktfrei zusammenhalten.
Nicht ohne autoritären Regierungsstil und gewaltsamer Ausschaltung politischer Gegner, aber recht unabhängig von Russland und mit eigenständigen außenpolitischen Beziehungen zum Westen. Nachdem Tito 1953 zum Staatspräsidenten gewählt worden war, setzte er sich für Gleichberechtigung der Staaten in friedlicher Koexistenz und für Entwicklungsländer ein.
Tito engagierte sich zusammen mit dem ägyptischen Präsidenten Nasser, dem indischen Premier Nehru und dem indonesischen Präsidenten Sukarno für politische Blockfreiheit, auf ihre Initiative wurde 1961 die internationale Bewegung (Organisation) der Blockfreien Staaten gegründet.
Staaten, die keinem der beiden Militärblöcke des Kalten Krieges angehörten und auch neutral bleiben wollten, die damals 25 Mitglieder (Jugoslawiens war eines der angesehensten) setzten sich für friedliche Koexistenz und Abrüstung ein.
Mit Auflösung des Warschauer Paktes Anfang der 1990er Jahre verlor die Organisation zwar ihren Gründungszweck; übrig blieb aber ein Bündnis, das sich Gleichberechtigung zwischen den Staaten und eine positive wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt hat.
Mit inzwischen immerhin 120 Mitgliedern, heute vertreten die Staaten der Blockfreien-Bewegung rund 55 Prozent der Weltbevölkerung und halten knapp zwei Drittel der Sitze in der UN-Generalversammlung.
Innenpolitisch verfolgte Tito einen autoritären Regierungsstil, der Agrar-Besitz wurde sofort verstaatlicht, 1948 auch das Handwerk; es folgte eine rasante Industrialisierung und Verstädterung der agrarischen Gesellschaften auf Kosten der althergebrachten Dorfgemeinschaften. Im Landesinneren entstanden Schwerindustrie, Stahlwerke, Kraftfahrzeugproduktion, gigantische Blei-Zink und Kupfer-Gruben und Elektroindustrie.
Serbien besaß bis Ende des Fünfjahresplanes 1965 eine Fahrzeug- und Motoren-, Maschinen- und Petrochemie-Industrie; bedeutende Infrastrukturprojekte wie die knapp 1200 km lange Transit-Autobahn, der Donau-Theiss-Donau Kanal, das Wasserkraftwerk Derdap und das Eisenbahnenverkehrsnetz wurden in Angriff genommen und vollendet. Als 1965 das System der Planwirtschaft abgeschafft wurde, hatte die jugoslawische Gesellschaft einen bedeutenden zivilisatorischen Umbruch erfahren.
Titos Regierung blieb auch danach autoritär, nach Absetzung des Regimegegner verfolgenden schließlich des Machtmissbrauchs beschuldigten Sicherheitschefs Aleksandar Ranković kam es 1966 jedoch zu einer deutlichen Liberalisierung der jugoslawischen Gesellschaft, mit relativ freien Entfaltungsmöglichkeiten für Kunst und Kultur beispielsweise. Nicht gut für den Bundesstaat, die Kulturbehörden verfolgten nationale Programme, mit Separierung der Sprache wurde die Kultur nach der ersten Novellierung der Verfassung 1963 zum Sammelbecken nationaler Ambitionen.
Parallel zeigten sich auch in anderen Bereichen die ersten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Nationalitäten, der Bundes-Fond für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten musste 1970 wegen Streitereien zwischen Slowenien und Kroatien, Serbien und Montenegro eingestellt werden. 1971 zeigten sich die nationalistischen Bestrebungen im „Kroatischen Frühling“, von Tito unter Berufung auf „Bratstvo i Jedinstvo“ („Brüderlichkeit und Einheit“, den „Kern des jugoslawischen Sozialismus“) abgefangen, allerdings gewaltsam und unter Massenverhaftungen.
Die daraufhin durch Titos 1974 initiierte neue Verfassung stärkte zwar seine Stellung als Staatspräsident, betonte aber auch den Föderalismus stärker, ein weiterer Schritt in Richtung Auflösung des Bundesstaates Jugoslawien in separate Staaten. Und eine innere Schwächung des Bundesstaates, die der altersschwache und gesundheitlich stark angeschlagene Tito nicht mehr rückgängig machen konnte, auch nicht durch den 1978 vollführten Versuch, die Einheit Jugoslawiens durch seine symbolische Wahl zum lebenslänglichen Präsidenten zu bewahren.
Nach Titos Tod 1980 löste sich der jugoslawische Gesamtstaat in zunehmendem Tempo auf, die Wirtschaftskrise der 1980er begünstigte nationalistische Bewegungen und Programme in gleichem Maße, wie die „Flüchtlingskrise“ sie zur Zeit begünstigt. Auch in Jugoslawien ließ die Krise schnell die brandgefährlichen „starken Männer/Bewegungen“ auf den Plan treten, die durch Vorspiegeln einfacher Lösungen die Macht an sich reißen wollen, aber bei genauerem Hinschauen/Hinhören nicht den geringsten brauchbaren Vorschlag zur Bewältigung einer komplizierten Konfliktsituation anzubieten haben.
In Jugoslawien klappte das, was sämtlichen europäischen Staaten im Zuge der Bewältigung der aktuellen Migrationsbewegung hoffentlich erspart bleibt, mit schrecklichen Folgen für alle Nationalitäten im Bundesstaat:
Serbien wurde um und mit seinem neuen „starken Mann“ Slobodan Milošević „wiedergeboren“, die Autonomie des Kosovo wurde ab 1987 beschnitten und 1989 aufgehoben. 1990 verschärfte sich der Konflikt durch Austritt Sloweniens aus dem Bund der Kommunisten, parallel planten die Krajina-Serben in Opposition zur kroatischen Unabhängigkeitsbewegung eine militärische Loslösung der Krajina von Kroatien, mit der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens im Frühsommer 1991 befand sich Jugoslawien im Krieg.
Der Jugoslawienkrieg dauerte bis 1995, mit ethnischen Säuberungen, Massakern, Völkermord, unzähligen Kriegstoten, Besetzungen und Vertreibungen, Not wegen der durch UNO-Handelsembargo gestoppter Zufuhr lebenswichtiger Güter und einem Serbien, das „von einem Prekariat aus Kriminellen und Schlägertypen“ (de.wikipedia.org) aus dem Miloševic-Milieu regiert wurde.
Die mehrheitlich von Albanern besiedelte Provinz Kosovo blieb ein Unruheherd, den die serbische Führung unter Slobodan Milošević mit restriktiven polizeilichen und schließlich militärischen Eingriffen vergeblich zu beruhigen versuchte. Es folgte von 1998 bis 1999 der Kosovokrieg: Ein unter schweren Menschenrechtsverletzungen auch an Zivilisten geführter Kampf der serbischen Führung gegen die UÇK („Befreiungsarmee des Kosovo“), der mit dem (in Einzelheiten umstrittenen) Eingreifen der westlichen Staaten unter Führung der USA durch militärischen Druck der NATO beendet wurde.
Seit dem Ende der Jugoslawien-Kosovo-Kriege bewegt sich Serbien (und Albanien, Mazedonien, Montenegro) in Richtung Mitgliedschaft in der Europäischen Union, neben der Türkei sind die Balkan-Staaten Albanien, Mazedonien, Montenegro und Serbien die letzten Staaten auf dem europäischen Kontinent, die als EU-Beitragskandidaten noch nicht dauerhaft in einer demokratischen Staatengemeinschaft verankert sind.
Wie traurig, dass sich zur Zeit fast die gesamte EU so benimmt, als wenn sie die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Verbindung zur Konflikt-Prävention u. a. Hohn strafen wollte. Es ist dringend zu hoffen, dass dieser zivilisatorische Rückschritt in längst vergangen geglaubte Zeiten kleinstaatlicher Zänkereien/Petitessen nur einer momentanen Überforderung geschuldet ist.
Besonnene Politiker, die unabhängig von den in der Medien-Berichterstattung systemimmanenten „News“-Schreckensmeldungen einfach ihre (europäische Verhandlungs-)Arbeit machen, äußern sich allerdings fast durchgehend zuversichtlich.
Kunst in ihrer vornehmsten Aufgabe: Als Mahnmal gegen Krieg
Marina Abramović hatte auf jeden Fall nicht nur die Kriegsschilderungen ihrer Eltern zu verarbeiten, als sie mit der Performance „Balkan Baroque“ 1997 (aufgeführt auf der 47. Biennale di Venezia, ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen) ihr berühmtestes Zeichen gegen Krieg setzte.
„Balkan Baroque“ lief vier Tage, vier höllische Tage, an denen die Künstlerin täglich sechs Stunden lang auf einem Berg saß, der aus 1500 frischen und noch blutigen Rinderknochen aufgetürmt worden war. Abramović reinigte die blutigen Knochen, mit einer Metall-Bürste und Wasser (aus einem Kupfereimer oder einer Kupferwanne) wusch sie Blut und Fleischreste ab, dabei sang sie (durchgehend, sechs Stunden lang) Totenlieder, jeden Tag ein anderes Volkslied aus einer der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken.
Im Hintergrund lief eine Video-Installation, Marina Abramovićs Eltern mit teils verstörenden Gesten, und ein von der Künstlerin selbst aufgenommenes Video, das als Schleife ausgestrahlt wurde. Man sieht Marina Abramović im weißen Laborkittel; sie erklärt uns, wie man im Balkan kannibalische „Wolfsratten“ zur Rattenvernichtung heranzieht: Wenn man friedliche Ratten lange genug zusammensperrt und aushungert, werden sie zu Kannibalen.
Igitt? Was für furchtbare Tiere? Menschen sollen Ähnliches fertigbringen, und der Mensch ist das einzige Tier auf der ganzen Welt, das Individuen der eigenen oder anderer Spezies derart in Not bringt, dass sie sich grausam verhalten. Das aber tut der Mensch oft und gerne – laut Abramović heißt die Performance „Balkan Baroque“, weil die Menschen im Balkan eine Mentalität voller Widersprüche hätten, die kaum jemand von außerhalb verstehe; Hass und Liebe, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Verehrung von Helden und Bildung von Helden-Legenden, ein Hang zu billiger, fast pornografischer Unterhaltung …
Der normal emphatische Europäer würde diese Wesenszüge knapp zwei Jahrzehnte später sicher nicht auf den Balkan beschränken, er sieht Hass eines sogenannten Islamischen Staates gegenüber jedem anders Denkenden, in ganz Europa Grausamkeiten gegenüber Flüchtlingen, Helden-Verehrung für die Führer rechtspopulistischer Parteien, den Hang zu zu billiger, fast pornografischer Unterhaltung im allabendlichen Fernsehprogramm, und hoffentlich noch ein bisschen Liebe und Zärtlichkeit in seinem privaten Umfeld.
Die „Allgemeingültigkeit der Botschaft“, die Abramović damals so wichtig war, bewahrheitet sich gerade aufs Schrecklichste; wie damals Abramovićs zweite Rolle im Video, tanzende Schönheit mit blutrotem Tuch, nehmen eher sensible Menschen die alltäglichen Volksbelustigungen unserer Tage nur noch als Gleichnis auf eine Welt voller Irrwitz und als Trauerspiel wahr.
Zu „Balkan Baroque“ ist viel Interpretations-Schrifttum entstanden, in dem alle Aspekte der Performance analysiert und betont werden.
Bevor Sie sich mit Beiträgen über „Balkan Baroque“ beschäftigen, sollten Sie sich aber sicher das Werk selbst ansehen, im obigen Video finden Sie einen knapp zehnminütigen Ausschnitt mit Aufnahmen der Vor- und Nachbereitung, im nachfolgenden Video „Балканское барокко | Balkan Baroque“ einen etwas längeren Film über ein Remake, 2009 im Moskauer Solyanka-Club, sowie danach den Dokumentarfilm „Balkan Baroque“, den Filmregisseur Pierre Coulibeuf 1999 über Marina Abramović und mit ihr selbst als Mitautorin und Darstellerin herausbrachte.
„Balkan Baroque“ wirkt unmittelbar, die Performance braucht keine Interpretation. Dass Killerratten und Knochenputzen auf die „ethnischen Säuberungen“ in den Jugoslawienkriegen anspielen, ist nicht schwer zu ergründen.
Dass die ganze Performance „Balkan Baroque“ ein Versuch der Künstlerin ist, den durch eine grauenhafte Abfolge kriegerischer Auseinandersetzungen verursachten Zerfall ihres Heimatlandes und die damit zusammenhängenden Gräuel zu verarbeiten, begreift jeder Mensch, der über das jüngere Zeitgeschehen informiert ist und die Grundzüge der Biographie der Künstlerin als gebürtige Jugoslawin und Kind kriegstraumatisierter Eltern kennt.
Rezipienten nachfolgender Generationen, die die jüngere Zeitgeschichte der nahegelegenen Balkanstaaten nicht vor Augen haben, werden im Video eingeführt: „Balkan Baroque“ sei schwierig zu realisieren gewesen, weil weder offizielle Organisationen noch Menschen mit politischem Einfluss bereit waren, Abramovićs künstlerisches und politisches Statement zu den Jugoslawienkriegen zu unterstützen.
Abramović sollte auf der Biennale erst Serbien und dann Montenegro im jugoslawischen Nationalpavillon vertreten. Serbien sagte ab, nachdem die Künstlerin ihren Entwurf vorgestellt hatte, Montenegro war lange unentschlossen. Nachdem auf den zugesandten Entwurf der Kunst-Aktion monatelang keine Antwort kam, war in den Zeitungen zu lesen, wie sich der Kulturminister von Montenegro geäußert hatte: Es sei alles ein Missverständnis, Abramović sei gar nicht eingeladen worden.
Die Kosten für das Kunstwerk wären so groß, dass die armen Rentner in Montenegro nichts mehr zu essen hätten, wenn der Staat die Aktion unterstützen würde; es gäbe wichtigere Künstler in Montenegro, ihr Werk rieche schlecht …
Nach der Einladung Attacken auf die Künstlerin, dabei gleich noch verschiedene Gruppen der Gesellschaft gegeneinander ausspielen, eine selten peinliche politische Aktion. Abramović führte die Performance schließlich „im Exil“ auf, das ihr im italienischen Pavillon gewährt wurde.
In der Einführung zum Video heißt es weiter: „Balkan Baroque“ sei ein Beitrag zur Reinigung des Gewissens, weil der Weg in die Zukunft nur den offenstehe, die nicht davor zurückscheuen, die Schrecken der Vergangenheit und der Gegenwart zu sehen …
Als Marina Abramović „Balkan Baroque“ inszenierte, war sie bereits eine anerkannte und berühmte Künstlerin, einen Überblick über die Entwicklung ihres künstlerischen Schaffens gibt der Artikel „Marina Abramović: Kunst für destruktive Gesellschaften“.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse