Martin Kippenberger wurde 1953 in Dortmund geboren, mitten in eine Großfamilie mit vier Schwestern, die von einem ebenso künstlerisch ambitionierten wie dominanten Vater „in der Spur“ gehalten wurde. Kippenberger soll ein empfindsames und rebellisches Kind gewesen sein, das sich in der Schule schwer tat, samt einigen Ehrenrunden und einem unfreiwilligen Abgang vom Internat.
Genügend Aufmerksamkeit bekam er wohl in seiner Jugend, manche Betrachter sind später der Meinung, dass es auch zu viel Aufmerksamkeit gewesen sein könne. Künstlerisches Erleben wurde in der Familie großgeschrieben, es gab eine Familienregel, nach der jedes Erlebnis schriftlich oder mit einem Foto zu dokumentieren sei, und Zeichnen gehörte ebenfalls zum gelebten Alltag, auch für Martin.
Schon in Martin Kippenbergers frühen Zeichnungen erkennen spätere Kritiker einen Hang zur Selbststilisierung, und sein späteres durchgehend auffälliges Verlangen nach Aufmerksamkeit wird schon einmal zurückgeführt auf seine Stellung in der vielköpfigen Familie, in der der Einzelne nur an seinem Geburtstag eine wirklich auf ihn konzentrierte Anteilnahme genoss.
Wie auch immer, diese Empfindungen von ungenügender Beachtung auf der einen Seite, aber niemals auch nur angedeuteter Einsamkeit auf der anderen Seite konnte Kippenberger in seinem Künstlerleben gut umsetzen, in Bildern, Installationen, Performances, Skulpturen und Fotografien, die ihn inzwischen zu einem der angesehensten Künstlern der Welt gemacht haben – auf der weltweiten Rangliste der Kunst (nach Verkäufen) rangiert er auf dem ehrenvollen 18. Platz.
Kippenberger hat die Kunst studiert, bereits mit 19 Jahren schrieb er sich an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg ein. Er hatte angesehene Lehrer, den Hamburger Künstler Claus Böhmler, Arnold Hauser, der Kunst aus der Sicht einiger europäischer Länder und vieler Disziplinen betrachtete, und Franz Erhard Walther, der mit seiner „partizipativen Kunst“ heute zu den zentralen Figuren der zeitgenössischen Kunst nach den 1960er Jahren gezählt wird.
Kippenbergers Anfänge – Unruhige Zeiten
Überzeugen und fesseln konnten diese Lehrer Kippenberger auf Dauer nicht, 1976 brach dieser sein Studium ab und auf nach Florenz, wo er nach Postkarten und Fotografien schwarz-weiße Tafelbilder malte, großformatige Darstellung auf festem Untergrund, zu denen er in seinen letzten Lebensjahren zurückkehren wird, dann aber unter Ausschöpfung aller künstlerischen Möglichkeiten von schlichter Ölmalerei bis zu collagenartiger Verarbeitung verschiedenster Materialien.
1977 will er diese Bilder in Hamburg ausstellen, lernt dort den Maler Werner Büttner und vor allem Albert und Markus Oehlen kennen, hier war also bereits der Kern der Gruppe versammelt, die sich bald von der Konzeptkunst abwenden wird, die „Rückkehr“ der Malerei propagiert und in den 1980er Jahren als „Neue Wilde“ oder „Junge Wilde“ der Malerei bekannt wird.
Büttner lebte in Berlin und hatte dem lebenshungrigen Kippenberger die Stadt wohl schnell schmackhaft gemacht, er zog jedenfalls 1978 in die „anarchistische Frontstadt“ und gründete mit Gisela Capitain „Kippenbergers Büro“ für Ausstellungen junger Künstler.
Das war nicht alles, 1979 übernahm er von Klaus-Dieter Brennecke die legendäre Veranstaltungshalle SO36, die neben der Geschäftsführung auch unbekümmerten Zugang zu Alkohol und Drogen mit sich brachte, mit Gründung der Band „Die Grugas“ tauchte Kippenberger zugleich tief in die Welt des Punks ein.
Kippenbergers Aufbruch in die Welt und die künstlerische Vielfalt
Für den damals erst 25-jährigen Kippenberger war Berlin nicht mehr als eine Startrampe, 1980 ging er nach Paris, um Schriftsteller zu werden, arbeitete im Jahr darauf in Stuttgart und im Schwarzwald, 1983 in Köln und Wien, wo er den berühmten österreichischen Bildhauer Franz West kennenlernt.
Damals entstanden Ausstellungskonzepte und Buchprojekte, zusammen mit Werner Büttner und Albert Oehlen (z. B. „Wahrheit ist Arbeit“, verwirklicht 1984), erstmals Bilder in Farbe und die ersten Ideen und Entwürfe für Skulpturen.
1984 schloss der Künstler sich der Lord Jim Loge an, einem Zusammenschluss von Künstlern und Schriftstellern, Ende der 1980er geht Kippenberger mit Albert Oehlen nach Spanien, sie malten in Madrid und Sevilla, 1989 zieht es Kippenberger weiter, nach Los Angeles, wo er Bilder mit Latex-Überzug anfertigt.
In diesem Jahrzehnt wurde Kippenberger fast unaufhaltsam immer bekannter, während er in den 1970er Jahren eher als Geheimtipp der ungebändigten Jugend galt, wurde nun auch die erwachsene Kunstwelt auf ihn aufmerksam: Er wurde ab 1980 auf einigen interessanten Ausstellungen gezeigt, 1981 auf der Gruppenausstellung „Rundschau Deutschland“, 1984 war er in der Ausstellung „Tiefe Blicke – Kunst der achtziger Jahre …“ im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt zu sehen, im gleichen Jahr auf der Ausstellung „Von hier aus – Zwei Monate neue deutsche Kunst in Düsseldorf“.
1986 hatte er es zur ersten Einzelausstellung gebracht, „Miete – Strom – Gas“ im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, und 1988 wurde er zur legendären Ausstellung „Made in Cologne“ eingeladen, auf der er zusammen mit (späteren) Berühmtheiten wie Markus Lüpertz, Sigmar Polke, Isa Genzken, A. R. Penck, Georg Herold und Rosemarie Trockel ausstellte.
Kippenberger sucht Familie und findet Ruhm
Zwischendurch produzierte er mit Freundin Gabriele Hirsch 1989 Tochter Helena Augusta Eleonore, deren erstes Ultraschallbild Georg Herold sofort in eines seiner berühmten Kaviarbilder verwandelt hatte, so viel künstlerische Vorbestimmung zeigte Nachwirkungen, Tochter Helena beschäftigt sich heute mit Graffiti und Street Art.
Kippenbergers Wunsch, in der Kleinfamilie einen Ankerpunkt zu finden, sollte jedoch bald an am arbeits- und ortswechselreichen Aufstieg des Künstlers scheitern.
Ob die Kollegen der Lord Jim Loge ihr Motto „Keiner hilft Keinem“ wirklich einhielten, oder ob sie einfach nicht genug Einfluss hatten, spielte nun keine Rolle mehr, die Weichen für Kippenbergers Aufstieg waren gestellt, seit er im Umfeld der Kunstkennern wohlbekannten Namen in Köln aufgetreten war.
1988 konnte er mit dem Objekt „Laterne an Betrunkene“ an der Biennale in Venedig teilnehmen, 1990 wurde ihm eine Gastprofessur an der Städelschule Frankfurt angeboten, ab 1992 lehrte er an der Gesamthochschule in Kassel und gab im gleichen Jahr Gastvorlesungen an den Universitäten in Nizza und Amsterdam und an der Yale University im amerikanischen Connecticut.
1994 erstellt Kippenberger seine ersten Skulpturen aus Aluminium, 1996 bekommt er den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste (Berlin) und damit die „offizielle staatliche Anerkennung“, 1997 ist er auf der zehnten documenta in Kassel und auf der dritten Skulptur.Projekte in Münster zu sehen.
Weder auf der documenta noch auf der Skulptur.Projekte, die beide parallel von Ende Juni bis Ende September veranstaltet wurden, kann der Künstler jedoch sein Werk persönlich betreuen, er stirbt am 7. März an einer Krebserkrankung.
Der ewig unruhige Geist hatte gerade durch die Hochzeit mit der Fotografin Elfie Semotan ein wenig mehr Ruhe gefunden als bisher in seinem Netzwerk von Verwandten und Weggefährten, die Diagnose kam überraschend und führte sehr schnell zum Tod.
Kippenberger lebt weiter
Kippenberger Ruhm wuchs nach seinem frühen Tod noch: 1999 werden Arbeiten von ihm in den Deichtorhallen Hamburg ausgestellt, 2003 bestücken sein Werke zusammen mit Candida Höfers Arbeiten den deutschen Pavillon auf der 50. Biennale von Venedig und eine Ausstellung in Karlsruhe gezeigt, 2006 veranstaltet die Londoner Tate Modern die erste britische Retrospektive seines Werks, von 2008 bis heute ist Kunst von Martin Kippenberger im Museion in Bozen, im MoMA in New York, in der Hamburger Kunsthalle, im Museo Picasso in Málaga und bis August 2013 im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, zu sehen.
Seine Werke finden sich in zahlreichen öffentlichen Sammlungen, z. B. im Hessisches Landesmuseum Darmstadt, in der K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, im Frankfurter Städel Museum, im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie, im Kölner Museum Ludwig und in der Pinakothek der Moderne in München.
Im Ausland können Sie Kunst von Martin Kippenberger in Zürich (Migros Museum für Gegenwartskunst), Genf (Mamco), Amsterdam (Stedelijk Museum) und London (The Saatchi Gallery, Tate Britain, Tate Gallery of Modern Art) und in noch sehr vielen anderen Kunstsammlungen und Museen europäischer und amerikanischer Städte betrachten.
Provokation mit und ohne Humor
Wenn ein Kunstkritiker über Martin Kippenberger schreibt, schreibt er fast immer von Provokation. Sicher ist in Kippenbergers Werk genug Provokation zu finden, vor allem für Menschen, die bereits jedes Hinterfragen als Provokation ansehen.
Manchmal scheint es aber eher um reinsten Sarkasmus zu handeln, z. B. wenn ein viele dreidimensional gestapelte Balken darstellendes Bild den Titel bekommt „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken“, und manchmal sagt der Künstler im Titel eines Bildes wahrscheinlich einfach nur die Wahrheit über seinen Gemütszustand, wie beim Selbstporträt „Bitte nicht nach Hause schicken“.
Auf jeden Fall eignet sich die Kunst von Kippenberger auch heute noch, um heftige Diskussionen anzufachen. So hat z. B. seine 1990 entstandene Skulptur „Zuerst die Füße“, in der Kippenberger einem gekreuzigten Frosch einen Bierkrug und ein Ei in die Hände gelegt hat, noch 2008 für reichlich Trubel gesorgt, als sie zur Neueröffnung des Museions (Bozener Museum für Moderne Kunst) die moderne Kunst repräsentieren sollte.
Die Skulptur hing kaum im Museum, als der Präsident des Südtiroler Regionalrates sie schon für die Verletzung der religiösen Gefühle seiner Landesbürger verantwortlich machte, Papst Benedikt XVI. unterstützte ihn per Brief, und Präsident Pahl trat sogar in den Hungerstreik, damit der Frosch das Museum verließ.
Trotz „anspruchsvoller“ Mundart-Dichtungen in Südtiroler Regionalzeitungen („Der Frosch muaß ganz schleinigst weck fa unserem schianen Tirolerfleck!“ oder „Dö Kunst isch nix für unser Land, sie soll dorthin, von wo sie stammt!“) siegte zumindest bis zum Ausstellungsende die Kunstfreiheit, danach büßten allerdings sowohl Regionalratspräsident Pahl als auch Museumsdirektorin Diserenz mit ihrem Job. Pahl lehrte anschließend Literatur an einer Handelsschule, Diserenz machte weiter internationale Karriere im Kunstbetrieb.
Die jüngste Aufregung im Zusammenhang mit Kippenberger gab es im November 2011 im Museum Ostwall in Dortmund, als eine Putzfrau sein Kunstwerk „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ blankschrubbte und so zerstörte, eine echte Annäherung an Beuys also (der in der Kunstrangliste noch vor Kippenberger rangiert).
Kippenberger wurde und wird damals und heute von Künstlern und Kunstkennern verehrt, die in der Kunst auch das Schmutzige, Freche und Banale behandelt wissen wollen, die bei Begriffen wie „Dada“ und „Fluxus“ zu lächeln beginnen und die den Sprachwitz des Malers und Schriftstellers, Schauspielers und Musikers, Tänzers und Installationskünstlers, Bildhauers und Fotografen schlichtweg lieben.
Sprüche wie „Jeder Künstler ist ein Mensch“ (in befreiender Umkehrung von Beuys‘ „Jeder Mensch ist ein Künstler“), der eine Zeitlang zur Berliner Jugendsprache gehörende Vorschlag „Ich geh kaputt, kommste mit?“ oder selbsteinsichtige Zitate wie „Er wollte nach oben, aber er kam nur bis zur Mitte“ werden Kippenbergers Anhängern unvergessen bleiben.
Zahlreiche Kunstwerke auf Pinterest
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse