Nam June Paiks Status in der Kunstwelt: Ganz weit vorne, eine feste Bank
Nam June Paik ist 1932 im damals noch vereinten Korea geboren, lebte aber von 1964 bis zu seinem Tod im Jahr 2006 in den USA. Obwohl der Künstler den größeren Teil seines Lebens (hauptsächlich) in New York lebte und die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, kann er nicht nur als amerikanischer Künstler begriffen werden; Paik verband bewusst das Denken in asiatischen Traditionen mit Avantgarde-Ideen des westlichen Kulturkreises.
Paik entwickelte sich vom studierten Musik- und Kunstwissenschaftler mit Schwerpunkt Komposition zum ungemein aktiven und produktiven bildenden Künstler, der auf dem Gebiet der Video- und Medienkunst einen der führenden Ränge einnimmt. Paik gilt gemeinhin als „Vater der Videokunst“, obwohl es andere Pioniere der Video- und Medienkunst gibt, die auf außergewöhnliche Künstler-Karrieren zurückblicken können, z. B. den amerikanischen Künstler Les Levine (Jahrgang 1935) und den deutschen Künstler Wolf Vostell (wie Nam June Paik Jahrgang 1932).
Auf jeden Fall gehörte Paik zu den ersten, der die allgemeinzugänglichen Medien Video und Fernsehen für sich entdeckte; zu einer Zeit, zu der die „Bilder für alle“ gerade erst dazu ansetzten, ihren Siegeszug um die Welt anzutreten.
Und er war einer der ersten, der die Besonderheiten und Potenziale einer erstmals für alle Menschen rezeptiv, aber auch aktiv produktiv verfügbaren Welt der bewegten Bilder genauer untersuchte und durch künstlerische Verarbeitung hinterfragte.
Und Nam June Paik nimmt auch heute noch einen der führenden Plätze in der Weltrangliste der Kunst ein, weil er damit nie aufgehört hat; er griff fortwährend neue Impulse aus Musik und bildender Kunst und auch technische Innovationen auf, um sie zu analysieren, zu katalysieren und in Kunst umzusetzen.
Während Vostell irgendwo zwischen Platz 220 und 320 gelistet wird und Levine irgendwo zwischen Platz 2200 und 3200 „herumdümpelt“ (wogegen beide sicher nichts einzuwenden haben, weil sie in ihrem Leben ganz andere Schwerpunkte gesetzt haben), liegt Nam June Paik aktuell (2016) auf Platz 40 der Weltbestenliste der Kunst (die nach Präsenz in der Öffentlichkeit und Verkaufserfolg sortiert).
Paik lag 2006 bis 2008 plus/minus auf Platz 50 der Kunst-Weltrangliste, stieg 2009, 2010 bis auf Platz 25 und bewegt sich seitdem langsam abwärts, 2016 hat er Platz 39, 40 erreicht. Ein wenig Hin und Her mit nicht genau erklärbaren Zwischenhochs. Ein leichter Anstieg von Ausstellungen, in denen Paiks Werk exklusiv oder innerhalb einer Gruppenausstellung zu betrachten ist, ist ab 2007, 2008 zu beobachten; möglicherweise ebenso wie der plötzliche Aufstieg in der Bestenliste das Echo eines Auktionsrekordes, den das Auktionshaus Christie’s 2007 mit einem Werk Paiks aufstellen konnte.
Aber insgesamt ein Hin und Her auf sehr hohem Niveau, Paiks hat sich einen Platz innerhalb der 50 besten Künstler der Welt gesichert, den er angesichts der aktuell anstehenden Ausstellungspräsenzen demnächst sicher nicht räumen wird.
Nam June Paiks Weg zur Kunst: Von „Alter Musik“ zu „Neuer Musik“, von „Alter Welt“ zu „Neuer Welt“, von Geisteswissenschaft zu Elektronik
Nam June Paik ist am 20. Juli 1932 in Korea geboren, damals noch vereintes Land und japanische Kolonie. Paik war das jüngste von fünf Kindern einer wohlhabenden Familie, seinem Vater gehörte eine große Textilfabrik.
Paik sollte klassischer Pianist werden und erhielt während seiner Jugend entsprechenden Unterricht. Der Zweite Weltkrieg und die 1948 auf Betreiben der konkurrierenden Besatzungsmächte Sowjetunion und USA folgende Teilung Koreas kamen dazwischen. 1950 eskalierte die Spaltung des Landes im Koreakrieg, weil beide koreanische Regimes sich als einzig rechtmäßige Nachfolger des 1910 von Japan annektierten Kaiserreichs Korea verstanden.
Nordkorea wollte mit Unterstützung Chinas die Wiedervereinigung Koreas unter eigener Führung erzwingen. Das westlich orientierte Südkorea wehrte sich, unterstützt durch Truppen der Vereinten Nationen unter Führung der USA. Paiks Familie war wohlhabend genug, um dem Kriegstreiben gleich 1950 den Rücken zuzukehren, sie gingen erst nach Hong Kong und dann nach Japan.
Nam June Paik studierte in Tokyo ab 1952 westliche Ästhetik, Musikwissenschaft und Kunstwissenschaften und graduierte 1956 mit einer Arbeit über den Komponisten Arnold Schönberg. Danach (dadurch angeregt) ging Paik nach Deutschland, um an der Münchner Universität Musikgeschichte zu studieren, darüber hinaus lernte er Komposition bei Wolfgang Fortner an der Hochschule für Musik Freiburg.
Während des Studiums lernte er die Komponisten Karlheinz Stockhausen und John Cage und die Konzept-Künstler Joseph Beuys und Wolf Vostell kennen, von 1958 bis 1963 arbeitete er mit Stockhausen im WDR-Studio für elektronische Musik in Köln. Stockhausen und Cage inspirierten ihn zur Arbeit auf dem Gebiet „electronic art“.
Nam June Paik schloss sich der Kunst-Bewegung des Neo-Dada (Fluxus) an, die sich gerade um John Cage formierte und alltägliche Klänge und Geräusche in ihre Musik einband. 1962 nahm er im Verbund seiner Mentoren an den „FLUXUS: Internationale Festspiele Neuester Musik“ im Museum Wiesbaden und dem „Kleinen Sommerfest“ in der Galerie Parnass Wuppertal teil.
Seinen ersten großen Solo-Auftritt hatte Paik 1963 in seiner Ausstellung „Exposition of Musik – Electronic Television“ in der Galerie Parnass in Wuppertal. Er verteilte Fernseher über die gesamte Ausstellungsfläche, deren Bilder er durch die Einwirkung von Magneten veränderte oder zu verfälschte.
1964 ging Paik nach New York, wo er die klassische Cellistin Charlotte Moorman kennenlernte, Absolventin der berühmten Juilliard School (Pina Bausch, Miles Davis, David Garrett, Nigel Kennedy, Sophie von Kessel, Val Kilmer, James Levine, Barry Manilow, Thelonious Monk, Itzhak Perlman, Leontyne Price, Christopher Reeve, Kevin Spacey, Robin Williams, Pinchas Zuckerman, zum Beispiel) und gerade am Start einer traditionellen Konzertkarriere.
Die eher extrovertierte Moorman war ebenso wenig wie der unruhige und überaus neugierige Nam June Paik für ein Leben in den Tiefen eines Konzertgrabens gemacht und fand die multimediale Performance-Kunstszene des New York der 1960er Jahre faszinierend; 1963 gründete sie das New Yorker Avant-Garde-Festival (im Central Park und an der Staten Island Ferry, fand mit wenigen Unterbrechungen bis 1980 statt). Sie arbeitete bald eng mit Paik zusammen und tourte viel mit ihm, sie kombinierten seine Videokunst mit Musik und Performance.
In New York fand Paik genau die Arbeitsumgebung, das Entwicklungsstadium an Technologie und das Publikum, um seine Ideen von Kunst zu entwickeln und mit diesen Ideen Erfolg zu haben.
Die hat jeder schon mal gesehen: Medienkunst von Nam June Paik
Kein Einzelkunstwerk Nam June Paiks, aber so unmittelbar mit dem Auftakt seiner Karriere und den künstlerischen Initiatoren der Paikschen Kunstidee verbunden, dass es hier vorangestellt werden muss:
Das legendäre „24-Stunden-Happening“ von 1965 in der Galerie Parnass in Wuppertal.
Das Happening begann am 5. Juni 1965 um 0 Uhr, endete um 24 Uhr und übertraf in seiner Intensität und Medienwirksamkeit alles, was sich in der Galerie Parnass bisher ereignet hatte.
In der Galerie Parnass hatte sich bisher einiges ereignet: 1950 Jean-Paul Sartres „Huit Clos“, 1951 die erste Le-Corbusier-Ausstellung Deutschlands, 1952 Jean Cocteaus „La voix humaine“, eine Architektur-Ausstellung Ludwig Mies van der Rohes und die erste deutsche Einzelausstellung von Alexander Calder, abstrakte Kunst des Tachismus, der École de Paris und des Informel, 1956 die Ausstellung „Poème Objet“ mit Werken von 50 Künstlern aus Deutschland und Frankreich, 1962 das „Kleine Sommerfest – Après John Cage“, mit dem ersten öffentlichen Auftritt des amerikanischen Fluxus-Gründers George Maciunas in Deutschland, dem weitere Fluxus-Aktionen in der Galerie folgten, 1963 die bereits erwähnte Paik-Ausstellung Exposition of Music und eine Ausstellung von Wolf Vostells Décollagen, die mit dem sechsstündigen Happening „9-Nein-Décollagen“ eröffnet wurde, 1964 die „Vorgartenausstellung“ der Gruppe Kapitalistischer Realismus (u. a. Gerhard Richter und Sigmar Polke); das „24-Stunden-Happening“ bildete 1965 den krönenden Abschluss:
Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit und Wolf Vostell führten in den verschiedenen Räumen der Villa Parnass ihre Aktionen auf und durch:
Wolf Vostells lag in den „Folgen der Notstandsgesetze“ erst auf dem Boden und markierte rohes Fleisch und Innereien mit Stecknadeln, um sich dann mit einer Gasmaske in einen Glaskasten mit zerstäubtem Mehl zu setzen, das von einem Staubsauger verwirbelt wurde. Neben dem Glaskasten stand ein Holzkäfig mit Fleisch behängter Studenten der Werkkunstschule Wuppertal, die an Fleischstücken kauten.
Joseph Beuys führte „und in uns … unter uns … landunter“ auf, er hockte oder lag auf einer Apfelsinenkiste mit einem weißen Wachstuch und streckte sich gelegentlich (verzweifelt oder sehnsüchtig, mit minimalen Bewegungen) nach Objekten aus, oft außerhalb seiner Reichweite.
Die Objekte – Tonbandgerät, Plattenspieler, Lautsprecher, Zinkkiste mit Fett, Wecker, Stoppuhren, Kinder-Boxhandschuhe seines Sohnes – sollten dem Betrachter sicher ebenso viel sagen wie Beuys‘ Bewegungen – Kopf über einen Fettkeil gestreckt, Füße, die knapp über dem Boden schweben, Gemeinschaftsspaten (von ihm hergestellter Spaten mit zwei Stielen) vor die Brust -, soll aber hier uninterpretiert bleiben bis auf die Bewunderung dafür, dass Beuys seine Aktion als Einziger volle 24 Stunden durchhielt.
Joseph Beuys und Wenzel Beuys beim 24-Stunden-Happening: www.medienkunstnetz.de/werke/und-in-uns/bilder/2
Bazon Brock stellte im Haushalt von Galeriebesitzer Jährling gesammelte Alltagsgegenstände als „Spuren des Lebens“ aus und brachte es in den 24 Stunden zum literarischen Text „Nach experimentellen Ergebnissen tötet ein Gramm Kobragift 83 Hunde, 715 Ratten, 330 Kaninchen oder 134 Menschen“, indem er vor zwei langsam rotierenden Scheiben Kopf stand, deren Fenster alle 15 Minuten einen Buchstaben enthüllten.
Eckart Rahn machte „Geräuschmusik“, mit Kontrabass, monoton gespielter Blockflöte vor Mikrofon und Lautsprecher, dabei las er den Kinsey-Report. Für die jüngeren Leser: Der Kinsey-Reports besteht aus zwei Büchern des US-amerikanischen Zoologen und Sexualforschers Alfred Charles Kinsey, die 1948 das „Sexual Behavior in the Human Male“ (1955 in deutsch mit dem Titel „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ erschienen) und 1953 das „Sexual Behavior in the Human Female“ (1954 in deutsch mit dem Titel „Das sexuelle Verhalten des Frau“ erschienen) enthüllten.
Wer die Ergebnisse von Kinseys vollkommen ernst und biologisch durchgeführten Forschungen kennt – die englischen Originaltitel heißen wörtlich übersetzt „Sexualverhalten des menschlichen Männchens“ und „Sexualverhalten des menschlichen Weibchens“ – wundert sich nicht mehr darüber, dass das Buch über die Frauen ein Jahr nach Erscheinen bei uns erschien und das Männer-Buch erst 7 Jahre nach Erscheinen in den USA.
Und ihm wird klar, warum „Starke-Männer-Bewegungen“ von der politischen Partei bis zum Baumstamm-Weitwurf-Verein zur fast hysterischen Abneigung von Homosexualität neigen: Schlichte Angst, weil die Realität ihr ganzes Weltbild zerstört. Knapp die Hälfte der Männer hatten sich heterosexuell, aber auch homosexuell betätigt oder zumindest auf Personen beiderlei Geschlechts reagiert, etwa 60 % der vorpubertären männlichen Kinder können auf freiwillige Erfahrungen mit gleichgeschlechtlichen Aktivitäten zurückblicken; etwa die Hälfte der Bevölkerung (Männer und Frauen) ist zu einem gewissen Grad bisexuell.
Eigentlich nichts überraschendes, sondern etwas, was wir genau so (über das Sexualleben im engeren Sinne hinaus) jeden Tag erleben: Menschen mit einer homosexuellen Seite in sich sind nicht 100 % Mann oder 100 % Frau; oder anders ausgedrückt: Nicht ausschließlich testosteronbestimmte „Männchen“ haben nicht den ganzen Tag Lust auf Aggression, sondern haben zärtliche, fürsorgliche (weibliche) Züge. Nicht ausschließlich östrogenbestimmte „Weibchen“ haben nicht den ganzen Tag Lust auf Harmonie und Liebe, sondern können sich auch mal durchsetzen, mit kühler Argumentation oder auch mal mit einer gehörigen (männlichen) Portion Aggression.
Die restlichen 50 % sind natürlich auch nicht alle pure Machos oder Kuschelmäuschen, aber in der Mehr-Macho-Ecke finden sich ganz sicher überdurchschnittlich viele Manager von Großkonzernen und Militärbefehlshaber (den Verdacht, dass die meisten von denen auch noch Psychopathen sind, mal ganz außen vorgelassen, dazu siehe www.zeit.de/), in der Mehr-Kuschelmäuschen-Ecke sind sicher mehr unermüdlich soziale Arbeit Leistende und bis aufs Hemd ausgezogene Scheidungsopfer zu finden.
Wobei der Macho eher, aber nicht nur als Mann daherkommt und das Kuschelmäuschen eher, aber nicht nur als Frau … Diskriminierung von Homosexualität ist schon einfach deshalb nicht richtig, weil es besser für unsere Gesellschaft ist, wenn sie aus möglichst vielen Menschen besteht, die gut verteilt „beide Seiten Mensch in sich tragen“.
Zurück zum 24-Stunden-Happening: Thomas Schmit agierte „ohne Publikum“, mit 24 Eimern im Kreis, aus denen er Wasser so lange umschüttete, bis es verschwunden war, und Unterbrechung, sobald Publikum den Raum betrat.
Nam June Paik und Charlotte Moorman gaben ein Konzert mit Stücken von Ludwig van Beethoven, John Cage, Morton Feldman und La Monte Young. Paik schien auf den Tasten des Klaviers einzuschlafen; Moorman spielte Cello im transparenten Cellophankleid, das sie ab und zu frisch durchnässte, traktierte gelegentlich einen Spiegel und ihr Cello – dieses Halbnackt-Konzert erzeugte von allen Aktionen das größte Aufsehen.
Nam June Paik und Charlotte Moorman beim 24-Stunden-Happening: www.medienkunstnetz.de/werke/24-h-happening
Obwohl Eva und Joseph Beuys den Jährlings am nächsten Tag beim Aufräumen der Villa halfen, Wolf Vostells schon leicht müffelndes Fleisch im Garten vergraben wurde und eine befreundete Autorin die hochgiftigen Jacutin-Fogetten gegen Ungeziefer zum Ausräuchern der Räume beisteuerte, lösten die Jährlings die seit 1949 bestehende Galerie Parnass im September 1965 auf, um mit einem VW-Bus durch Afrika zu reisen. Vermutlich auf der Suche nach einem ungefährlicheren Leben …
Nam June Paik dagegen hatte am nächsten Morgen noch etwas vor, eine ganze „Robot Opera“: In der Moltkestraße 67 in Wuppertal-Elberfeld, vor der Galerie Parnass, hatte K 456 seinen ersten öffentlichen Auftritt in Europa. K 456 war ziemlich talentiert und ziemlich vollständig, 185 cm groß, er konnte sprechen (Reden von John F. Kennedy), laufen, den Kopf schütteln, Arme und Hände unabhängig voneinander bewegen und verdauen; warum er bei dieser Verdauung weiße Bohnen ausschied, ist wahrscheinlich ähnlich schwer zu ergründen wie die Benennung des Roboters nach Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur, Köchelverzeichnis 456.
Mozarts 18. Klavierkonzert
Der Roboter bzw. die Robotine – die mannshohe Figur aus Holz, Draht und Elektronik hat nicht sehr detailverliebt geformte und ein wenig gelbe, aber unmissverständlich weibliche Merkmale – ließ sich fernsteuern und sollte nach Willen seiner Erbauer Nam June Paik und Fernsehtechniker Shuya Abe (mit dem Paik öfter zusammenarbeitete) der erste nicht-menschliche Aktionskünstler werden.
Also bei allen zukünftigen Straßenaktionen eingesetzt werden, vielleicht hatte Paik deshalb darauf bestanden, dass K 456 Brüste bekam und diese Brüste (zum Neid der weiblichen Bewunderer?) auch noch einzeln bewegen konnte.
Hier können Sie Robot K 456 in Berlin auf der Straße sehen, wie er 1965 als „Tribute to John Cage“ Passanten zum Staunen bringt, ganz wie von Nam June Paik intendiert:
und hier zeigt sie fröhliches Brust-Kreisen:
1982 ließ Paik K 456 auf den Straßen New Yorks spazierengehen, mit dem nicht überraschenden Ergebnis, dass der Roboter Ecke Madison Avenue/75. Straße von einem Auto überfahren wurde. Das war allerdings zwischen Paik und dem Fahrer abgesprochen, die staunenden Passanten erlebten in Folge, wie K 456 in einer Rettungsfahrt zum Museum befördert wurde, wo sie es sich nach Instandsetzung wieder auf ihrem Podest gemütlich machte.
Paik hatte schon damals begriffen (als mit „Knight Rider“ Hasselhoffs KITT das selbstfahrende Auto gerade erst die Leinwand eroberte), dass Roboter im Unterschied zu Menschen der Komplexität des Straßenverkehrs nicht gewachsen sind, die Gefahren weder einschätzen noch flexibel genug reagieren können.
Im Gegensatz zu den meisten heutigen Autobauern war Paik auch nicht der Ansicht, dass sich das jemals ändern sollte. Ausgerecht der technikverliebte Electronic-Art-Künstler stellte sich in deutliche Gegenposition zur damals aufkommenden Vorstellung des im Vergleich zur perfekten Maschine fehlerhaften Menschen.
Dass ein absoluter Kenner feinster elektronischer Befehlsverkettung nicht dem Menschen, sondern dem Roboter den ersten Ausfall in einer komplizierten Prozesskette zutraute, sollte uns wahrscheinlich noch eine ganze Weile davon abhalten, dem Computer im Kühlschrank unsern Einkauf zu überlassen. Zumindest solange, bis wir vor plötzlichen Netzausfällen sicher sind, wenn wir die 5994 zu viel bestellten Himbeerjoghurts wieder abholen lassen wollen …
Wieder zurück zum „24-Stunden-Happening“: Verewigt wurde das Happening in der Publikation „24 Stunden“, einer fotografischen Dokumentation von Galerist Rolf Jährling und Foto-Künstlerin Ute Klophaus (die dafür von den Akteuren zu Mitautoren und Aktionsteilnehmern befördert wurden). „24 Stunden“ erschien noch im Jahr 1965 im Verlag Hansen & Hansen Itzehoe-Vosskate, neben den Fotografien enthält das Buchobjekt Aufzeichnungen und Texte der Akteure: Joseph Beuys „Energieplan“, Charlotte Moormans „cello“, Rolf Jährlings „Mittelwort“ und Nam June Paiks „Pensée“, in dem er sich über Kybernetik und Drogen auslässt und den Sieg der konzeptionellen Kunst über die populäre Massenkunst vorhersagt.
Bazon Brocks hat sich mehr für die Aufmerksamkeit des Publikums interessiert und notiert lakonisch: „bei Vostell 5 Leute, bei Beuys alle, bei mir keiner.“
Lediglich Wenzel, der Sohn von Joseph Beuys, habe sich „so sichtbar als einziger seiner erzählten Geschichte ausliefert“, das aber auch nur um die Mittagszeit bis 13 Uhr, danach musste er vermutlich wieder zu Papa auf der Apfelsinenkiste, um ihm Durchhalteparolen zuzuraunen. Hinten im Buch waren mehrere Seiten quadratisch ausgestanzt, um ein mit Mehl gefülltes Plastiksäckchen von Wolf Vostell aufzunehmen, nach dessen Entnahme man lesen konnte: „Beschäftigen Sie sich 24 stunden mit Mehl!“. Heute vermutlich mit Mehlwürmern, wenn man denn noch eines der inzwischen um 700,- Euro teuren Exemplare ergattern kann.
Im Anschluss an dieses Happening machte Paik durch eine Reihe von Performances von sich reden, bei denen er weiter mit Charlotte Moorman zusammenarbeitete:
»Opera Sextronique« von 1967, während der die barbusig agierende Charlotte Moorman verhaftet wurde (der Skandal um ihre anschließende Verurteilung sollte zu einem neuen liberaleren Gesetz mit mehr Freiheit bei künstlerischen Darbietungen führen): www.medienkunstnetz.de/werke/opera-sextronique.
1969 folgte Paiks „TV Bra for Living Sculpture“, den Moorman mit zwei kleinen Fernsehgeräten an ihren Brüsten aufführte, oder in folgendem Video:
1972 bis 1991 überdauerte das „TV Bed“ für die von Paik zutiefst bewunderte Charlotte Moorman.
1975: „Video Fish“, mehrere Aquarien nebeneinander, in denen Fische vor einer gleichen Anzahl von Monitoren herumschwimmen, auf denen Videos von schwimmenden Fischen laufen.
Heute bereits übertroffen durch Videos for your Cat:
(Videos für die Hauskatze, Thema Aquarium).
1976 war wieder Moorman mit dabei, in „TV Cello“ spielt sie das aus Fernsehern gebaute Cello, das bei jedem Bogenstrich andere Cello spielende Musiker auf den Bildschirm zaubert:
Während der Periode der Zusammenarbeit mit Moorman war Paiks Ziel, die Musik auf eine Entwicklungshöhe mit Kunst und Literatur zu bringen und Sex zu einem Thema zu machen, das in der Öffentlichkeit keinen Anstoß mehr erregt. In einem seiner Fluxus-Werke wird der Performer angewiesen, in die Vagina eines lebenden Pottwals zu klettern (die Reaktion des Pottwals ist leider nicht überliefert).
1986 war die „Family of robot“ fertig, mit Familienmitgliedern aus drei Generationen, Großmutter und Großvater, Mutter und Vater, Tante und Onkel und Kinder. Die Generationen unterschieden sich durch das Material und erzählten so eine Familiengeschichte, verschiedene Stadien der Medienentwicklung während des 20. Jahrhunderts. Paik stellte hier Technologie als Produkt des menschlichen Erfindungsgeistes vor, die zugleich eine mögliche Ursache dafür ist, dass der Mensch den Bezug zur Realität verliert.
Er vermenschlicht die Technologie, um ihr zu widerstehen: „Man muss Technologie sehr gut kennen, um in der Lage zu sein, sie zu überstehen“ (Zitat Paik). Hier das „Baby“, eine Ein-Kanal-Video-Skulptur aus 13 Fernseh-Monitoren im Aluminiumgerüst, farbig und ohne Ton, Nr. 9 von 9 einzigartigen Skulpturen dieser Robot-Serie.
1988, zu den Olympischen Sommerspielen in Seoul, präsentierte Paik „The More The Better“, einen beachtlichen Medienturm aus 1.003 Monitoren.
1989 installierte Paik den „TV Buddha“, auf dem Bildschirm und davor, über Sinn und Unsinn der Buddhas auf dem Bildschirm erfahren Sie auf dem Youtube-Kanal des Museum Kunstpalast Düsseldorf mehr:
1990 entstand der „Pre-Bell-Man“, eine Auftragsarbeit im Rahmen der Neueröffnung des Deutschen Postmuseums, Paik stellte die Collage des modernen Ritters aus verschiedensten Teilen von Radio- und TV-Geräten her, fast ausschließlich aus Objekten der Sammlungen des Deutschen Postmuseums.
Nur das Pferd des Ritters erwarb Paik in einem venezianischen Trödelladen, der Pre-Bell-Man steht vor dem neueröffneten Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main.
1990 bis 1997 folgte dem K 456 und der Family of robot eine dritte Roboterwelle, in der er z. B. einige seiner Helden nachbaute.
Wie „Gertrude Stein“ (1990) oder „Beuys Voice“ (1990) und den Watchdog II (1997), nur echt mit Überwachungskamera am Schwanzende und Lautsprecherohren.
Zu Ehren des 1992 verstorbenen John Cage entstand 1993 das „Piano Piece“, Videos über einem Klavier, manche mit Bildern von Paik, manche mit Bildern von Cage, manche mit Bildern von der Welt – und einer Überwachungskamera, die den Klavierspieler aufnimmt und auf sechs der Bildschirme zeigt.
Ebenfalls 1992 entstand das „Brandenburger Gate“ (heute Sammlung Museum Ludwig Köln), eine Multi-Monitor-Installation aus 200 größeren und kleineren Fernsehgeräten in Form des Brandenburger Tores in Berlin.
1995 materialisierte Paik den „Electronic Superhighway“ von 1974 in einer grotesken Mammut-Installation voller ebenso sinnloser wie langweiliger Bilder, umrahmt von einem Augen und Geschmacksempfinden verstörenden Neon-Gewusel. Kulturkritik vom Feinsten und subtil genug, dass gerade die adressierten Serien-Junkie-Flachdenker und Blinky-Shiny-Fans nicht mitbekommen, dass sie gemeint sind (grinst da in der Mitte nicht Trump aus dem Bildschirm?).
Hier noch ein wenig „Paik zum Ansehen“ durch die (frühen) Jahre:
- Participation TV (1963)
- TV Crown (1965)
- Magnet TV (1965)
- Moon Is the Oldest TV (1965)
- TV Chair (1968)
- 9/23/69, Experiment with David Atwood (1969)
- TV Cello (1971)
- Global Groove (1973)
- TV Garden (1974)
- Candle TV (1975)
- Video Fish (1975)
- Video Buddha (1976)
- Real Fish/Live Fish (1982/1999)
- Good Morning, Mr. Orwell (1984)
- Swiss Clock (1988)
Paiks kreative Beschäftigung mit den neuen Medien war damit nicht zu Ende, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat er die Lasertechnologie in seine Arbeit involviert. In seiner jüngsten Installation projizierte er Laserstrahlen auf Baumwoll-Leinwände, fließendes Wasser und rauchgefüllte Raumstrukturen; in diesem „post-Video-Projekt“ führte er die Artikulation das bewegten Bildes wieder ein Stück weiter.
Das „post-Video-Projekt“ ist am Ende dieses einstündigen „Exhibition talks“ Nam June Paiks mit Kurator John Hanhardt anlässlich der Ausstellung „The Worlds of Nam June Paik“ im Guggenheim Museum zu sehen, in der diese Installation auch vorgeführt wurde.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends gibt uns Paik einen Ausblick darauf, wie Kino und Video mit elektronischen und digitalen Medien in neuen Ausdrucksformen und Bildtechniken verschmelzen können. Er lässt uns ahnen, dass wir im 21. Jahrhundert das Ende von Video und Fernsehen in der uns bekannten Form erleben werden, dass uns eine Transformation unserer visuellen Kultur bevorsteht.
Wiederum ein Ausblick in die Zukunft: Paik hat die vernetzte Welt, in der die Menschheit digitale Filmdokumente über den ganzen Globus hinweg austauscht, nur in ihren allerersten Anfängen erlebt. Er konnte die sich andeutende Möglichkeit einer „endgültigen Revolution der Aufklärung“, in der Bewegtbild (Wissen, Information) im Handumdrehen von jedem an alle weitergegeben werden kann, in seiner Kunst aus Altersgründen nicht mehr kommentieren.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse