Nam June Paiks Leben und die Kunst: „Kunst denken“ und „Kunst machen“ vor Verkauf/Präsentation
Mit den Performances, die er zusammen mit Charlotte Moorman Anfang der 1960er Jahre erdachte und aufführte, hatte Nam June Paik seinen großen Durchbruch, der vielbeachtete Auftakt einer märchenhaften Karriere.
110 Solo-Ausstellungen, 41 bis zur Jahrtausendwende, 69 nach der Jahrtausendwende; 58 zu Lebzeiten des Künstlers, 52 nach seinem Tod. 711 Gruppenausstellungen, 174 bis zur Jahrtausendwende, 537 nach der Jahrtausendwende; 295 zu Lebzeiten des Künstlers, 416 nach seinem Tod.
Deutlich mehr Ausstellungen im neuen Jahrtausend als im letzten, besser kann man nicht belegen, dass Nam June Paik seiner Zeit weit voraus war.
Deutlich mehr Gruppenausstellungen als Solo-Ausstellungen, deutet auf einen Künstler hin, der lieber Kunst macht als Ausstellungsgelegenheiten und Käufer akquiriert.
Deutlich mehr Ausstellungen zu Lebzeiten des Künstlers als nach nach seinem Tod, bestätigt die These des vorigen Satzes und zeigt wie viel ein Nachlassverwalter erreichen kann, der zur engeren Familie des Künstlers gehört und mit seiner Witwe ohne jeden Streit zusammenarbeitet.
Diese Witwe, die japanisch-amerikanische Video-Künstlerin Shigeko Kubota, hat Paik 1977 geheiratet, sie lebten bis zu seinem Tod zusammen. Vermutlich eher ruhig und in Harmonie: Paik lebte als Buddhist, hat weder geraucht noch jemals in seinem Leben Alkohol getrunken; sogar den Straßenverkehr, vor dem er mit verunfallenden Robotern warnte, kennt er nur aus passiver Beteiligung, er hat niemals im Leben selbst hinter dem Steuer eines Auto gesessen.
An dieser Stelle würden die im vorangehenden Paik-Artikel „Nam June Paik und die Medienkunst“ im Zusammenhang mit dem Kinsey-Report erwähnten 100-%-Machos sicher sofort einhaken, um laut kundzutun, dass Paiks negative Prognose zu selbstfahrenden Autos ja kein Wunder sei, wenn er nicht Auto fahren könne …
Aber dazu wird es kaum kommen, 100-%-Machos lesen selten Kunstartikel (es sei denn, sie gehören zum neuen Schlag Gier-ist-Geil-Galeristen, aber dann lesen sie keine Kunstartikel auf einer kleinen unabhängigen Plattform wie Kunstplaza).
Dass Nam June Paik lieber an seiner Kunst gearbeitet hat als sich um deren Verkauf und Präsentation zu kümmern, belegt auch die Reihe der im Artikel „Nam June Paik und die Medienkunst“ vorgestellten Kunstwerke. Eine bunte und lange Liste, aber doch nur ein ganz kleiner Einblick in Nam June Paiks Werk (nicht mehr als genug Vorwissen, um die selbstbestimmte Entdeckung von Paiks Video-Art zu erleichtern), und ein Kunstwerk wie der „Electronic Superhighway“ entsteht wirklich nicht über Nacht …
Wahrscheinlich hat noch kein Kunstwissenschaftler errechnet, welchen Anteil die gedankliche Vorarbeit, die Recherche des technisch Machbaren und die Konzeption/theoretische Konstruktion der Installationen in Paiks Oeuvre einnehmen, aber dieser Anteil ist sicher nicht unerheblich.
Nichtsdestotrotz: Über die letzten 50 Jahre hat Nam June Paik in den berühmtesten Museen weltweit ausgestellt, 1977 im MoMA (Projects: Nam June Paik), 1982 im Whitney Museum of American Art (Nam June Paik) und im Centre Georges Pompidou (Nam June Paik), 1989 im San Francisco Museum of Modern Art (Nam June Paik), 1992 im National Museum of Contemporary Art Seoul (Nam June Paik Retrospective: Videotime), 2000 im Solomon R. Guggenheim Museum (The Worlds of Nam June Paik), und er hat 1993 Deutschland auf der Biennale von Venedig vertreten. 1977 nahm er an der documenta 6 in Kassel teil, 1987 an der documenta 8.
Paik hat unzählige Preise und Auszeichnungen erhalten, u. a. vom Guggenheim Museum, der Rockefeller Foundation und dem American Film Institute; den Will Grohmann Award, den Goslaer Kaiserring und die Picasso-Medaille der UNESCO. 1999 nahm ihn das ARTnews magazine in ihre Auswahl der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts auf. Seit 2002 vergibt die Kunststiftung NRW den „Nam June Paik Award für Medienkunst“ (auch: Internationaler Medienkunstpreis der Kunststiftung NRW).
Sein Werk ist in 87 öffentlichen Sammlungen rund um die Welt zu betrachten:
- Australien: Queensland Art Gallery + Gallery of Modern Art, Brisbane, QLD
- Belgien: Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Ghent
- Dänemark: KUNSTEN Museum of Modern Art Aalborg, Louisiana Museum of Modern Art Humlebæk, Museet for Samtidskunst Roskilde
- Deutschland: Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, Daimler Contemporary + Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin Kunstmuseum Bochum, Weserburg Museum für moderne Kunst Bremen, Museum Ludwig Köln, Museum Ostwall Dortmund, Lehmbruck Museum Duisburg, K21 Düsseldorf, Museum Folkwang Essen, Museum für Moderne Kunst Frankfurt/Main, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Kunsthalle zu Kiel, Kunsthalle Mannheim, Neues Museum – Staatliches Museum für Kunst und Design in Nürnberg, FLUXUS+ Potsdam,
Kunsthalle Weishaupt, Ulm, Museum Wiesbaden, Kunstmuseum Wolfsburg - Finnland: Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki
- Frankreich: Musée de l’Objet Blois, Musée d’Art Contemporain Lyon, Fondation Louis Vuitton Paris, Musée d’Art Moderne et Contemporain Strasbourg
- Griechenland: National Museum of Contemporary Art Athens
- Italien: Museum für moderne und zeitgenössische Kunst Bolzano, Museo Arte Contemporanea Isernia
- Kanada: Musée d’art contemporain de Montréal QC, National Gallery of Canada Musée des beaux-arts du Canada Ottawa ON
- Kroatien: Museum of Contemporary Art Zagreb
- Japan: Hiroshima City Museum of Contemporary Art, Benesse House Museum Naoshima, Hara Museum of Contemporary Art + Museum of Contemporary Art Tokyo
- Niederlande: Stedelijk Museum Amsterdam, Gemeentemuseum Den Haag
- Norwegen: Henie Onstad Art Centre, Høvikodden
- Österreich: Essl Museum Kunst der Gegenwart Klosterneuburg, Museum der Moderne Salzburg, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
- Portugal: Berardo Museum, Lissabon
- Schweden: Moderna Museet, Stockholm
- Schweiz: Kunstmuseum St.Gallen, Kunsthaus Zürich
- Spanien: Museo Vostell Malpartida de Cáceres, Centro Galego de Arte Contemporánea Santiago de Compostela
- Süd Korea: National Museum of Contemporary Art Korea Gwacheon, Wooyang Museum of Contemporary Art Gyeongju, Leeum Samsung Museum of Art Seoul, Amore Pacific Museum + Nam June Paik Art Center Yongin-si
- USA: Akron Art Museum OH, The Contemporary Austin TX, Albright-Knox Art Gallery Buffalo NY, Ackland Art Museum Chapel Hill NC, Museum of Art and Archaeology Columbia MO, Honolulu Academy of Arts Honolulu HI, Indianapolis Museum of Art Indianapolis IN, Castellani Art Museum Lewiston NY, DeCordova Sculpture Park and Museum Lincoln MA, Los Angeles County Museum of Art Los Angeles CA, MOCA Grand Avenue Los Angeles CA, Brooks Museum of Art Memphis TN, Cisneros Fontanals Art Foundation Miami FL, Museum of Contemporary Art North Miami FL, Walker Art Center Minneapolis MN, Storm King Art Center Mountainville NY, The Baker Museum Naples FL, Solomon R. Guggenheim Museum + Whitney Museum of American Art New York City NY, Chrysler Museum of Art Norfolk VA, Smith College Museum of Art Northampton MA, Joslyn Art Museum Omaha NE, Carnegie Museum of Art Pittsburg PA, San Francisco Museum of Modern Art San Francisco CA, San Jose Museum of Art San Jose CA, Everson Museum of Art + Point of Contact Gallery Syracuse NY, Arizona State University Art Museum Tempe AZ, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden + Smithsonian American Art Museum Washington DC
- United Kingdom: Zabludowicz Collection London
Nam June Paik ist auch heute präsent
Paik starb 2006 in Miami, Florida, an den Komplikationen eines Schlaganfalls, der Nachlass wird von seinem Neffen Ken Hakuta in engem Kontakt mit der Witwe Paiks verwaltet.
Nam June Paiks Leben, Kunst und Kunstschaffen wird heute in den Nam June Paik Studios (www.paikstudios.com) gewürdigt und reflektiert. Der Ort, an dem Paik sein Studio installiert hat und an den heute seine künstlerische Hinterlassenschaft gesammelt und verwaltet wird, liegt mitten im Silicon Valley, in Woodside.
Woodside liegt im Santa Clara Valley, hat nur 5000 Einwohner und ist so eine Art Künstlerdorf des Silicon Valley, wunderschön gelegen in der San Francisco Bay Area. Paik hatte sich hier in passende Gesellschaft begeben, Oracle-Gründer Larry Ellison und Intel-Mitgründer Gordon Moore haben hier ebenso ihren Wohnsitz wie Rockmusiker Neil Young und Flower-Power-Song-Legende Joan Baez.
Hier befindet sich das Nam June Paik Archiv, von Nachlassverwalter Ken Hakuta mit Einverständnis der Witwe des Künstlers aus der Erbmasse zusammengestellt. Ken Hakuta beschäftigt sich seit Nam June Paiks Tod damit, die kreativen Prozesse in den Vordergrund zu stellen, die Paiks Kunst entscheidend beeinflusst haben.
Er sortiert den sprunghaften, unsteten Weg des Künstlers von Asien durch Europa in die USA für den heutigen Betrachter, untersucht seine wechselnden Interessen und die Auswirkungen, die diese neuen Orientierungen auf Nam June Paiks Kunst hatten.
Ken Hakuta ist Nam June Paiks Neffe und bekannt als „Dr. Fad“, Gastgeber und Moderator einer amerikanischen TV Show über jugendliche Erfinder, die von 1988 bis 1994 lief. Er hat die „Fad Fairs“ organisiert, Erfindermessen für abgefahrene Ideen, die ihm den „Inventor of the Year“-Award des Franklin Institute in Philadelphia einbrachten, und hat den „Wacky Wall Walker“ populär gemacht, der in den 1980er Jahren sagenhafte 240 Millionen mal verkauft wurde (obwohl die USA zu dieser Zeit nur 225 Millionen Einwohner hatten).
Hier können Sie einem Wacky Wall Walker „bei der Arbeit“ zusehen:
Mit einem Teil der 20 Millionen, die ihm der Plastik-Wandläufer einbrachte, rettete Hakuta in den 1990ern die Sammlung der Mt. Lebanon Shaker collection vor dem Ausverkauf. Möbel und Hausrat der ältesten Shaker-Gemeinde der USA, historisch höchst wertvoll und nach Leitsätzen wie „every force evolves a form“, „order creates beauty“, und „beauty rests on utility“ gefertigt – ein Jahrhundert vor den „Form follows function“-Ideen Louis Sullivans und der Bauhaus-Architekten um Ludwig Mies van der Rohe. Heute ist die Sammlung wieder im Shaker Museum Mount Lebanon (New Lebanon. Columbia County, New York) zu besichtigen, siehe shakerml.org).
Dann folgte eine Phase des geschäftlichen Ausbaus von Hakutas langjährigem Interesses für medizinische Kräuter. Die 1998 ins Leben gerufene eCommerce-Plattform AllHerb.com war eine Zeit lang die „authentischste Resource für Medizin-Kräuter“, mit Schamanen und Kräuter-Medizinern aus dem Peruanischen Regenwald an Bord.
Bereits Februar 2000 hatte Hakuta keine Lust mehr, gegen qualitativ keinesfalls bessere, aber in Bezug auf Marktbeeinflussung besser gerüstete und skrupellosere Konkurrenten anzukämpfen und stellte die Geschäfte des Unternehmens ein.
Bis dahin war die anspruchsvolle Naturheil-Plattform ein Dauerthema in den bekanntesten amerikanischen Medien; die Harvard Business School beschäftigte sich in Fallstudien mit dem ungewöhnlichen Unternehmen. Ken Hakuta wurde danach Mitglied des „advisory board of commissioners“ für das Smithsonian American Art Museum in Washington D.C., das eine bedeutende Sammlung von Nam June Paiks Kunst beherbergt, und er übernahm das Management der Paik-Studios in New York City.
Im Jahr 2000 erschien das Buch „The worlds of Nam June Paik“ von John G. Harnhardt, Schriftsteller, Kunsthistoriker, Kurator für Film- und Medienkunst und einer der führenden Nam June Paik-Experten der Welt. Harnhardt war Kurator der großen Paik-Retrospektive „The Worlds of Nam June Paik“, die im Jahr 2000 im Solomon R. Guggenheim Museum in New York veranstaltet wurde.
Harnhardt will einen neuen Blick auf Paiks Karriere eröffnen und eine neue Generation von Künstlern anregen, Paiks Bedeutung für die Kunst des späten 20. Jahrhunderts und seinen Einfluss auf die Zukunft einer expandierenden Medienkultur wahrzunehmen.
Im Kapitel „The Seoul of Fluxus“ beleuchtet Harnhardt Paiks Position als ein in Korea geborener Künstler, dessen Interesse für die Kunst mit Komposition und Performance anfing. Das Kapitel „The Cinematic Avant-Garde“ ist eine Studie des unabhängigen Films der 1960er und 1970er, die als Hintergrund der Darstellung von Paiks Engagement in verschiedenen Künstler-Milieus in New York und seiner Entdeckung des elektronischen Bewegtbilds durch das Medium Video in der Mitte der 1960er Jahre dient.
Performance und Filme sind eng verbunden mit Paiks künstlerischer Entwicklung im Rahmen des institutionellen Kontextes von Fernsehen und Video. Das Kapitel „The Triumph of Nam June Paik“ dokumentiert und reflektiert Paiks heldenhafte Anstrengungen, die Ausdruckskapazitäten der elektronischen Bildkunst in Bezug auf Aussagekraft und Komposition zu entwickeln und zu verdeutlichen.
Seit 2015 werden Ken Hakuta und Shigeko Kubota von der wohl marketingaggressivsten Galerie der Welt in ihren Bemühungen um das Erbe des Künstlers unterstützt, der Gagosian Gallery. Zum Wohl des Künstlers, aber vermutlich eher zum Nachteil der interessierten Öffentlichkeit: Das Gagosian-Galerie-Imperium ist durch Kunsthandel zum Imperium geworden und nicht durch Bemühungen, Kunst öffentlich zugänglich zu machen. Gagosian-Kunst wird vor allem in den eigenen Galerien an den acht Gagosian-Standorten in den Kunstzentren der Welt und auf internationalen Kunstmessen gezeigt, der Normalbürger findet hier kaum einen Zugang.
Kleiner Trost für Kunstinteressierte, deren Vermögen nicht im Bereich „völlig abgefahren“ rangiert: Gagosian übernimmt nur die Vertretung von Künstlern, die sich am Markt lange durchgesetzt haben (und „schöpft die Sahne ab“, vielleicht unter Vermeidung von Steuern, 2003 klagte die amerikanische Regierung Larry Gagosian und drei seiner Geschäftspartner wegen Hinterziehung von 26,5 Mio.
Dollar Einkommensteuern an). Deren Werke sind aber bereits von den Staaten, die demokratisch genug für Kunst sind, in umfangreichem Maße aufgekauft worden, damit interessierte Bürger sie ansehen können.
Denn kaufen kann der normale Bürger diese Kunst höchstens als Kalender-Abbildung: Die Preise für Paiks Kunst bewegen sich heute im Millionen-Range, den Auftakt zu dieser Entwicklung lieferte 2007 ein Auktionsrekord bei Christie’s: 646.896 Dollar (578.463,46 Euro) für Paiks „Wright Brothers“ von 1995, die einem Propeller-Flugzeug ähnelnde Installation aus 14 TV-Monitoren.
Nam June Paiks Werk ist aber nicht nur in öffentlichen Sammlungen präsent, sondern er wird auch heute noch viel und gerne ausgestellt. Aktuell finden sieben Ausstellungen in vier Ländern statt, in denen Paik-Kunst zu sehen ist (mit Übernahme der Vermarktungsrechte durch die Gagosian Gallery könnten Teile von Paiks Oeuvre durch Verkauf an reiche und öffentlichkeitsscheue Sammler der Weltöffentlichkeit entzogen werden, aber öffentliche Sammlungen verleihen ihre Kunst auch für Ausstellungen):
- bis 29. Mai 2016: „Ich“, Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main
- bis 12. Juni 2016: „MashUp: The Birth of Modern Culture“, Vancouver Art Gallery, Vancouver, BC
- bis 26 Jun 2016: „Marcel Duchamp – Dada E Neodada“, Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona, Ascona
- bis 30 Oct 2016: „Not in New York: Carl Solway and Cincinnati“, Cincinnati Art Museum, Cincinnati, OH
- bis 11 Sep 2016: „Wolfsburg Unlimited – Eine Stadt als Weltlabor“, Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg
- bis 18 Dec 2016: „A Sense of History“, Nordstern Videokunstzentrum, Gelsenkirchen
- ab 01. Juni 2016: „Sammeln ist wie Tagebuch führen – Kleinskulpturen aus 50 Jahren“, Galerie Rainer Wehr, Stuttgart
Legendäre Geschichten um Nam June Paik
Immer wieder ist zu lesen, dass Paik 1965 das erste Video-Kunstwerk der Welt aufgenommen und vorgestellt habe. Er soll am 4. Oktober 1965 den ersten Sony Portapak (transportabler Videorecorder) gekauft haben, der in die USA ausgeliefert wurde. Am gleichen Tag soll er die Batterie aufgeladen haben und den Portapak im Sony-Shop zum Laufen gebracht haben, um sich dann im Taxi auf den Weg zu Freunden zu machen, die die Neuerwerbung mitfeiern und ausprobieren sollten.
Das Taxi sei im Verkehr stecken geblieben, der sich wegen des Papstbesuchs Pauls VI. staute, Paik filmte 20 Minuten aus dem Fenster und zeigte diese Aufnahme anschließend im Cafe á Go-Go in Greenwich Village seinen Freunden – die Videokunst war geboren.
Diese mythische Version über die „Geburt der video art“ soll laut Professor Tom Sherman der Syracuse University in Syracuse, New York nicht so ganz stimmen: Der Papst hat am 4. Oktober 1965 tatsächlich New York besucht, um mit den Vereinten Nationen über Geburtenkontrolle und die Schrecken des Vietnamkrieges zu beraten (erster Papst-Besuch überhaupt in den USA).
Nam June Paik hätte ihn auch filmen können, aber nicht mit dem ersten batteriebetriebenen, transportablen Portapak CV-2400, weil der erst 1967 auf den Markt kam. Oktober 1965 kam der CV-2000 auf den Markt, „the most portable video tape recorder ever designed“, aber mit einem Gewicht von 24,5 kg und extrem kurzzeitigem Batteriebetrieb kaum taxitauglich. Eine frühe Version des CV-2400 aus Japan konnte es auch nicht gewesen sein, weil der CV-2400 als erstes in den USA ausgeliefert wurde …
Wahr ist jedoch, dass Paik der erste Mensch war, der sehr früh von „electronic superhighway“ sprach. Der Ausdruck taucht bereits in dem Papier „Media Planning for the Postindustrial Society – The 21st Century is now only 26 years away“, das er 1974 für die Rockefeller Foundation verfasste.
Auch der Ausdruck „global village“ soll auf Paik zurückgehen und seinen Sinn für die Möglichkeiten der neuen Technologien in Bezug auf schnellere Kommunikation zwischen weit entfernten Kulturen belegen. Von dort bis zu dem ihm ebenfalls zugeschriebenen Begriff des „information superhighway“, der elektronischen Datenautobahn, ist der Weg nicht mehr weit; „the future is now“ soll auch von Paik stammen, einfach ein wahres Wort wenn man bedenkt wie weit er seiner Zeit voraus war.
Nam June Paiks Werk und die Zukunft: The future is now!
Paiks „Titel“ Vater der Videokunst war und ist nicht unumstritten. Er hat vor allem zwei ernsthafte Mitbewerber um die Ehre, als Begründer der Kunst mit und um die „öffentlichen Bilder“ gesehen zu werden:
Auch der amerikanische Künstler Les Levine (geboren 1935) gilt als Pionier der Video- und Medienkunst, erwarb wie Nam June Paik einer der ersten transportablen Videokameras, die auf dem amerikanischen Markt verfügbar waren, und begann etwa zur gleichen Zeit wie dieser (Mitte der 1960er Jahre), die neue Medientechnik und die von dieser Technik erstellten Ergebnisse in Kunst zu verwandeln: Levine war der erste Künstler, der 1968 eine Closed-Circuit-Installation (eine Art Vorläufer heutiger Videoüberwachungsanlagen) entwickelte und zur Kunstproduktion einsetzte, indem er sich von seiner Installation „Iris“ durch eine fish eye-Linse fotografieren ließ, während er gerade die Installation Iris fotografierte.
Levine hatte aber noch viel anderes vor, 1969 verband er Leben und Kunst in Levine’s Restaurant und gab einmal im Monat das Magazin „Culture Hero“ heraus. 1970 erfand er das „Museum of Mott Art, Inc.“, bekannt geworden durch die nützlichen Tipps für Künstler in den ab 1971 herausgegebenen „Catalogues of (After Art) Services“: ‚Art for Capital Gains‘, ‚How to Become an Artist’s Spouse‘, ‚Where to Be Seen‘, ‚How to Avoid Becoming an Artist’s Spouse‘, ‚Activity Selection Service for Artists‘, ‚How to Stop Being an Artist‘, ‚Language Services for Painters‘ und schließlich ‚How to Kill Yourself‘ …
Bei Levine folgten stattdessen ein paar Film-Happenings, „I am an artist, I have nothing to do with you. I am an artist, I don´t want to be involved“, 1975, auf Manhattans Bowery Street, ab Anfang der 1980er große Plakatkampagnen in den Innenstädten New Yorks, Dublins, Wiens, Münchens etc., Artikel für „The Village Voice“ und „Art in America“.
Außerdem hatte er Professuren an mehreren Universitäten, u.a. der New York University, nahm an der documenta 6, der documenta 8 und an der 49. Biennale von Venedig teil, spielte als Bassist mit „The Del-Vikings“ Doo Wop, arbeitete vier Jahre als „Artist in Residence“ an diversen Unis, gewann den ersten Preis der „Vancouver International Sculpture Biennale“ und gleich zwei Mal den „National Endowment for the Arts“.
Der deutsche Künstler Wolf Vostell hat in den Zeiten der entscheidenden Weichenstellungen in Paiks Karriere mehrfach mit Paiks zusammen gearbeitet, z. B. 1965 beim 24-Stunden-Happening in der Galerie Parnass in Wuppertal. Zum „Pionier der Videokunst“ war Vostell aber bereits 1958 aufgestiegen, als er seine dreiteilige Installation „Zyklus Das schwarze Zimmer“ mit den Teilen „Deutscher Ausblick“, „Auschwitz-Scheinwerfer“, „Treblinka“ vorstellte (heute Teil der Sammlung der Berlinischen Galerie), damit hatte er als erster Künstler ein Fernsehgerät in ein Kunstwerk integriert.
Ein weiteres frühes Werk mit einem Fernseher ist „Transmigracion I bis III“ aus dem Jahre 1958, 1963 zeigte Vostell seine erste Video-Art-Installation „6 TV Dé-coll/age“ in der Smolin Gallery in New York (heute in der Sammlung des Museo Reina Sofía in Madrid zu besichtigen). Die Smolin Gallery sponsorte nach dem Ausstellungserfolg zwei innovative Wolf-Vostell-TV-events.
Im ersten „Wolf Vostell & Television Decollage & Decollage Posters & Comestoble Decollage“ wurden Galerie-Besucher aufgefordert, ihre eigene Decollage auf Postern an den Galeriewänden zu verwirklichen; im zweiten, „TV Burying“, verwendet Vostell Decollage-Techniken, um den Bildschirm seines eigentlichen Zwecks zu entfremden; zum Einsatz kamen zum Beispiel Puddingcremeschnitten (zum Bewerfen) und Stacheldraht (zum Einwickeln); damit war er als Video-Art-Künstler zeitlich ebenfalls ganz vorne dran.
Das waren nicht Vostells einzige Ausflüge in die Kunst mit TV und Video, bekannt sind außerdem die „Heuschrecken“, 20 Monitore und eine Videokamera in einer Installation; die Installationen „TV-Schuhe“ und „TEK“ (Thermoelektronischer Kaugummi, eine Installation aus 30 Metallpfählen mit Stacheldraht, 5 Koffern mit Radios mit wärmeempfindlichen Mikrophonen, 5 Mikrophonkapseln mit Sendern, 5 warmen Lichtquellen, 5000 Kaugummis für 5000 Besucher, 2 Lautsprechern, 1 Verstärker 25 Watt, 1 Super-Radio und 13000 Löffeln und Gabeln, alle von 1970.
Damit war Vostells mit dem Thema TV- und Video-Art aber auch im wesentlichen durch, er hatte als Maler, Bildhauer und Happeningkünstler noch ein wenig mehr vor: Vostell gilt als Wegbereiter der Kunststile Environment, Installation, Happening, Video-Art und Fluxus ,und Erfinder der Techniken der Verwischung, Dé-coll/age und des Einbetonierens. Ab 1974 beschäftigte sich Vostell intensiv damit, im westspanischen Dorf Malpartida de Cáceres einen „Treffpunkt für Kunst, Leben und Natur“ einzurichten, seit 1976 das Museo Vostell Malpartida.
Beide „Mitbewerber um den Titel“ hatten also Besseres vor, als sich ihr ganzes Leben mit Bildschirmen zu beschäftigen, nur Nam June Paik hielt durch und kombinierte Musik, Videobilder und Skulptur-Arbeit in einer Art, die für künftige Video-Künstler stilbildend werden sollte.
So John Hanhardt, „durch eine Vielzahl von Installationen, Videokassetten, globalen Fernsehproduktionen, Filmen und Performances hat Paik unsere Wahrnehmung des vergänglichen Bildes in der zeitgenössischen Kunst neu geformt“, fügte er hinzu.
Nam June Paik ist 1932 geboren und kann doch manchen Bürger der „globalen Welt von heute“ mit seiner Karriere anregen und ermutigen. Er hat höchst lebendig bewiesen, dass Globalität nicht nur ein Begriff für Handelsunternehmen ist, die je nach moralischem Level neue spannende Produkte für ihre Kunden importieren oder den gleichen Konsumscheiss wie immer ausbeuterisch und unter Vermeidung jeglicher Steuerzahlung produzieren. Die weite Welt gehört vielmehr dem Individuum, das zugreift und sich seine Welt formt.
Das tat Paik, lange bevor die „weite Welt der Abenteurer“ durch das Internet zu einer globalen Welt für alle wurde, aber es geht um die grundsätzliche Denkweise: Nam June Paik musste noch Risiken und Entbehrungen auf sich nehmen, die ein vernünftiger Mensch, der sich nicht in einer Zwangssituation befindet, eher nicht eingehen würde.
Aber Nam June Paik schenkt jedem Menschen mit dem Beispiel seines Lebenswegs ein Stückchen Freiheit – man muss nicht unbedingt in einem Land bleiben, in dem Krieg herrscht und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Und den vielen Menschen, die unerträglichen Situationen nicht einfach entfliehen können, hat Nam June Paik mit seiner Kunst einen Ausblick gezeigt, der inzwischen noch weiter geht – heute können wir uns alle virtuell mit der Welt verbinden, unsere Meinung äußern, uns und andere informieren; mehr Wissen für alle als Chance, dass die Welt irgendwann ein bisschen besser wird.
Nam June Paik kann noch in einem anderen Bereich als Vorbild dienen: Er hat sich dem Medium Video in einer Zeit genähert, als die „Bilder für alle“ noch kaum laufen konnten. Und er hat sich dieses Medium angeeignet, untertan gemacht, anstatt auf jemanden zu warten, der ihm „eine passende App baut“.
Wie es Menschen in der Anfangszeit des Internets getan haben, neben einer bunten Reihe von schrecklichen Webdesigns sind viele tolle kleine und große Plattformen entstanden, über die wichtige Informationen oder mit Können und Herz produzierte Spezialitäten den Menschen zugänglich gemacht werden.
Heute sind ein paar Firmen dabei, die Vielfalt an Angeboten und Informationen auf das zu reduzieren, was ihr Filter oder Algorithmus an (bezahlter) Werbung oder Meinung nach oben spült … und wer da mitspielen will, muss richtig viel Geld in die Hand nehmen, wie uns selbst ernannte Experten in einer Art Farce eines Jungunternehmer-Coachings in Privatsendern erzählen.
Aber das Internet existiert unabhängig von diesen Firmen, es ist Zeit für eine Second Wave, für viele kleine Suchmaschinen, über die die Menschen zu vielen kleinen spannenden Websites und Firmen finden … es liegt an Ihnen, erkunden Sie das Netz, es gibt heute schon mehr als das große G; ob die endgültige Revolution der Aufklärung durch Wissens- und Informationsaustausch im Netz Wirklichkeit wird oder „von Profitgier gefressen wird“, liegt in der Hand der Internetnutzer.
Mit seinen Robotern hat Paik uns ebenfalls eine Reihe von kreativen Anregungen gegeben, man darf gespannt sein, was in der nächsten Zeit alles aus dem 3D-Drucker kommt …
Paik hat in unglaublichen Mengen neuer Konfigurationen mit Videobildern experimentiert und so den Kunstformen „Skulptur“ und „Installation“ völlig neue Dimensionen eröffnet. Er veränderte die übermittelten Aussagen des Mediums Video; in einem Prozess, der sein tiefes Verständnis der zugrunde liegenden elektronischen Technologien ebenso verdeutlicht wie seine Fähigkeit, den Kern des Mediums Fernsehen zu verstehen, von innen nach außen zu kehren und dadurch etwas vollkommen Neues zu kreieren.
Paiks Kunst wurde durch die übliche technische Bearbeitung von TV und Video nie beeinflusst oder beschränkt. Er verwendete vielmehr Material und Komposition der elektronischen Bilder und ihre Platzierung im Raum bzw. auf dem Bildschirm, um sie allesamt grundlegend zu verändern und so eine neue Form des kreativen Ausdrucks zu erschaffen.
Es ist erstaunlich und bewundernswert: Gleich zu Beginn der TV- und Video-Revolution in der 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts hat Paik die „Macht der bewegten Bilder“ intuitiv erspürt – und er hat ohne Zögern die Chance ergriffen, sich die aufkommende Technologie anzueignen und in eine Art neuer Kunst zu verwandeln, die die Welt noch nie gesehen hat.
Noch erstaunlicher ist, dass er schon bald Vorhersagen darüber treffen konnte, wie die aufkommenden Technologien unser tägliches Leben verändern würden. Jetzt ist es soweit, und es liegt an uns, die positiven Veränderungen mitzumachen und die negativen Erscheinungen durch Nichtbeachtung zu stoppen … damit das “global village” ein “global village” für alle Menschen wird und der “electronic super highway” allen Menschen etwas bringt.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse