Die Geschichte mit dem Weihnachtsmann wird gleich erzählt, hier soll jedoch sofort klargestellt werden, dass Paul McCarthy nicht nur Weihnachtsmänner zum Nachdenken bringt, beileibe nicht.
Der US-amerikanische Performancekünstler ist vielmehr berühmt für seine kritische und oft bissige, aufrüttelnde und manchmal verstörende, komische und nachdenklich machende Bildsprache, kein Künstler für gedanken- und gefühlsfreie Weicheier.
Diese Bildsprache drückt Paul McCarthy in vielen Materialien und Medien aus, in Malerei und Zeichnungen, Skulpturen und Installationen, Aktionen und Performances, Videos und Filmen, und manchmal eben auch in Weihnachtsmännern.
So viele Materialien und Medien, dass die Betrachter der Kunstwelt Schwierigkeiten haben, den Künstler Paul McCarthy in eine Kategorie einzuordnen, mal wird er als Konzeptkünstler beschrieben, mal als Aktionskünstler, mal ist vom Performancekünstler Paul McCarthy die Rede.
Wie auch immer, mit seiner Kunst hat Paul McCarthy beeindruckenden Erfolg: Er nimmt Platz 25 in der Liste der berühmtesten Künstler der Welt ein, und das bereits eine ganze Weile, mit eher aufwärts gerichtetem Trend. Vor der Geschichte mit dem Weihnachtsmann ein kurzer Überblick über seinen Aufstieg in die höheren Weihen der Kunstwelt:
Paul McCarthy findet früh in der Ausbildung seinen Weg
Paul McCarthy wurde 1945 in Salt Lake City, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Utah, geboren. Salt Lake City ist „das Mormonenzentrum“ der USA, ein Hort guter Staatsbürger mit einem rigiden Reinlichkeitsverständnis, die an den Dienst am nächsten und die Familie glauben. Sein Vater war jedoch Fleischer, für den jungen McCarthy waren deshalb auch Blut und Eingeweide ein täglicher Anblick.
Vielleicht haben diese widersprüchlichen Einflüsse dazu geführt, dass Paul McCarthy erst mit 24 Jahren ein Kunststudium begann, ab 1969 studierte er jedenfalls Kunst, zuerst in der Heimatstadt an der University of Utah, dann am San Francisco Art Institute. An dieser Hochschule wurden die Weichen zu McCarthys künstlerischer Identität gelegt, sie ist eine der ältesten (Gründung 1871) und gilt als eine der prestigevollsten Hochschulen für zeitgenössische Kunst, in den USA und in der Welt.
McCarthy erarbeitete an der SFAI seinen Abschluss als Bachelor of Fine Arts im Fachgebiet Malerei und zog dann weiter in den Süden Kaliforniens, an die University of California, Los Angeles. An der UCLA studierte er ab 1972 Film, Video und Kunst an der UCLA, und machte dort seinen Master of Fine Arts.
Nun startete McCarthy seine Karriere, die ersten Arbeiten beinhalteten in Video-Performances festgehaltene Aktionen, in denen er die Schwerkraft als metaphorischen Ausdruck einsetzte, mit schönen Namen wie „Thirty-Minute Moon“ (30-Minuten-Mond) und „In the Stomach of the Squirrel“ (im Magen des Eichhörnchens). 1973 nahm er mit solchen Aktionen an Gruppenausstellungen teil, „Conceptual Art“, in der Libra Gallery von Pomona, CA und „Festival of the Arts“, veranstaltet von der University of Southern California, Los Angeles.
Ab 1974 wurden McCarthy Arbeiten deutlich aggressiver, auch die sexuelle Provokation war nun immer wieder ein Thema, seine Performances beschäftigten sich hauptsächlich mit den Themen Brutalität und Selbstzerstörung.
Die Titel aus dieser Zeit sprechen ihre eigene Sprache: „Meat Cake, 1“, 2 und 3 (Fleischkuchen 1 2 3), „Sailor’s Meat“ (Das Fleisch des Seemannes), „Paid Stranger“ (bezahlter Fremder), „Political Disturbance“ (Politische Störung), „Class Fool“ (Klassenclown), „Grand Pop“ (Großer Knall), „Doctor“ (Doktor), „Contemporary Cure All“ (Der Zeitgeist heilt alles), „Deadening“ (Abgestumpft), „San Francisco, The Shithole of the Universe“ (S. F., das Scheißloch des Universums), „Pig Man“ (Schweinemann), „Pig Man-Pig Piper“ (Schweinemann – Schweinepfeifer), „Monkey Man“ (Affenmann), das „Penis Painting“ (Schwanzmalerei) und das „Death Ship“ (Todesschiff) tauchen gleich mehrfach auf.
Paul McCarthy entdeckt die Ironie
In den 1980er und 1990er Jahren hat Paul McCarthy die Zeit des Sturm und Drang überwunden, seine Performances (im damals internationalen Trend) waren von nun an von ironischer Distanz geprägt, wie beispielsweise der „Painter”.
In dieser Performance trägt Paul McCarthy eine blonde Perücke, die Knollennase eines Trinkers und riesige Latex aus Latex. In dieser Aufmachung torkelt er in einem kleinen holzgetäfelten Studio herum, mit einem riesigen Pinsel in der Hand, immer um sich selbst rotierend, und jammernd. „Ich kann es nicht tun, Ich kann es nicht tun“, und “ DeKooning , DeKooning , DeKooning“.
Drumherum liegen gigantische Farbtuben, von denen eine mit „Scheiße“ beschrift ist. Der tragische Maler-Clown McCarthy beginnt nun, mit der Grazie eines Messerstechers oder Holzhackers expressionistisch anmutende Streifen auf riesigen Leinwänden zu verteilen.
Zwischendurch gibt es ein paar Ausflüge in anliegende Räume, mit Gezeter gegen seinen Kunsthändler, absurde Unterhaltungen mit hochnäsigen, auch Knollennasen tragenden Gelehrten, ein kriecherischer Sammler schnüffelt ein wenig an McCarthy Arschloch – McCarthy lässt wirklich nichts aus in dieser bitteren Satire auf den aufgeblasenen Künstler im Allgemeinen und selbstverehrende „Aktion-und-Klecks-Künstler“ im Besonderen (auf zwei Mythen der Zeit, Installationskünstler Vito Acconci und den abstrakten Expressionisten und legendären Wegbereiter des Action Paintings Willem de Kooning spielt er auch ganz direkt an).
Und doch bekommt jeder, der schon einmal in seinem Leben selbst kreativ schaffend tätig war, Mitleid mit dem verzweifelt malenden Gecken. Wie er leidenschaftlich seine Farbe aufnimmt und verstört grunzt, hilflos im Kreis torkelt und wahllose Kritzeleien malt – dieser Auftritt erinnert jeden Mitfühlenden daran, dass der Drang, Kunst zu schaffen, auch immer etwas mit einer Art Trunkenheit zu tun hat, dass der Prozess der Annäherung an ein Kunstwerk den Künstler demütigen oder bis zur Gewaltbereitschaft aufregen kann, sexuell erregend, kindlich naiv und manchmal auch tragisch sein kann …
Auch die Titel der Performances aus dieser Zeit erzählen wieder eine Geschichte für sich, diesmal eine etwas fröhlichere: „God Bless America“ (Gott segne Amerika), „Baby Boy, Baby Magic“ (Baby-Junge, magischer Junge), „Mother Pig“ (Mutterschwein), „Popeye’s Automobile“ (Popeye’s Auto), „Popeye’s Driving School“ (Popeye’s Fahrschule), „Popeye, Judge and Jury“ („Popeye, Richter und Geschworene), „Popeye American“ (Popeye, der Amerikaner), „French Patisseries“ (Französische Konditoreien), „King for a Day“ (König für einen Tag), „Inside Out, Olive Oil“ (Innen und außen, Olivenöl), „Cultural Soup“ (Kulturelle Suppe), „Family Tyranny“ (Familientyrannei), „A Hoot“ (Ein Schrei), „Heidi“, „Pinocchio“, „Fresh Acconci“, „Tokyo Santa“ (Tokioter Weihnachtsmann).
Daneben hat Paul McCarthy in dieser Zeit viele andere Arbeiten in anderen Arbeitsformen vorgelegt, manchmal werden z. B. große Kulissen aufgebaut, in denen Akteure Szenen nach „Lust und Laune“ spielen, oft war in oder an diesen Kunstwerken McCarthys Sohn Damon beteiligt.
Zwischen 1973 und heute nahm Paul McCarthy mit seiner vielgestaltigen Kunst an stolzen 600 Gruppenausstellungen teil, konnte rund 100 Einzelausstellungen in allen wichtigen Kunstzentren der Welt bestücken, gestaltete etwa ebenso viele Performances und drehte Videos darüber.
Fröhliche und hintergründige Kunst für die Öffentlichkeit
McCarthy Kunst ist teilweise öffentlich zu besichtigen, dann macht sie häufig Spaß, wie die Sweet Brown Snail. Diese süße Schnecke hat Jason Rhoades in Zusammenarbeit mit Paul McCarthy ab 2003 angefertigt.
Rhoades hatte von 1991 bis 1993 bei Paul McCarthy an der UCLA studiert, die beiden haben Ende der neunziger Jahre zusammen die „Proppositions“ erdacht – entweder falsch geschriebene „Propositions“ (Vorschläge) oder eine Kumulation des „Prop“ (Eigentum) und der „Position“, also eine Positionierung des Eigentums. Eine dieser „Proppositions“ war eine Verkaufsveranstaltung, bei der die Künstler das komplette Nippes-Inventar eines Kiosks als Kunst verkauften, unter diesen Nippes war auch eine kleine „Sweet Brown Snail“, die bürgerliche Wohnzimmer gemütlicher machen sollte.
Als Jason Rhoades gebeten wurde, auf der Münchner Theresienhöhe für den Platz vor dem Verkehrszentrum des Deutschen Museums ein Kunstwerk anzufertigen, entschieden die beiden (vermutlich grinsend), die Gemütlichkeit der Schnecke im großen Maßstab an die Öffentlichkeit zu bringen.
Die Schnecke passte auch einfach zu gut zum ortsrelevanten Thema „globale Geschwindigkeit“, sowohl mit ihrer sprichwörtlichen Langsamkeit als auch mit ihrer vollkommenen Mobilität, globale „Wandergestalten unserer Zeit“ haben ja oft damit zu kämpfen, dass sie eben nicht ihr Haus auf dem Rücken mitnehmen können.
Die Schnecke aus bemaltem Fiberglas ist eine Riesenschnecke von 4,50 x 6,30 x 3,90 Meter, trotz dieser Ehrfurcht gebietenden Größe sieht sie immer noch niedlich aus, wenn auch die Passanten neben ihr so klein erscheinen, dass der Gedanke an die Gefahren einer zunehmenden Beschleunigung in unserem Zeitalter sich jedem ironisch begabten „Um-die-Ecke-Denker“ geradezu aufdrängt.
In anderen öffentlichen Arbeiten kommt mehr die boshafte Seite der Stichelei-Freude des Künstlers durch, so in „Henry Moore Bound to Fail“ von 2004, dieser „zum Scheitern verurteilte Henry Moore“ steht im Londoner Regent’s Park und ist eine ziemlich subversive Neuinterpretation der Bronzekunst des in den 1960er Jahren so verehrten Altmeisters.
Ob McCarthy auch Bruce Nauman’s Skulptur „Henry Moore Bound to Fail“ von 1967 auf die Schippe nehmen wollte – die dieser zwar zur Verteidigung Moores gegen eifersüchtige Jungbildhauer, aber überhaupt nicht Moores Stil entsprechend angefertigt hatte – bleibt offen, ist aber ohne weiteres vorstellbar.
Und der bereits mehrmals erwähnte Weihnachtsmann bringt die dritte der künstlerischen Leidenschaften vor das öffentliche Publikum, die sexuellen Anspielungen: Paul McCarthys „Santa Claus“ ist vordergründig ein richtig netter Weihnachtsmann mit einem kleinen Tannenbaum in der Hand, der Tannenbaum ist nur nicht wirklich ein Tannenbaum. Der Weihnachtsmann wurde 2001 von der Rotterdamer „Skulptur International“ in Auftrag gegeben, um einen Platz in der Stadt zu zieren.
Dieser Weihnachtsmann ist wie gesagt kein ganz gewöhnlicher Weihnachtsmann, er hält nämlich in der rechten Hand einen Buttplug, ein auch als „Po-Stöpsel“ bekanntes Sexspielzeug, diese sexuelle Anspielung soll eine Persiflage auf die Konsumgier sein. Die nicht jeder Niederländer begrüßte … an seinem ersten Aufstellungsort in der Innenstadt erregte die schlüpfrige Skulptur so viel Widerstand der umliegenden Ladenbesitzer, dass er in einer kunstgeneigtere Umgebung umziehen musste, etwas verschämt zog er sich zunächst in den Innenhof des Museums Boijmans Van Beuningen zurück.
Inzwischen haben sich die Niederländer mit dem unzüchtigen Santa Claus versöhnt, weil er ziemlich zwergenähnlich aussieht, bekam er den Spitznamen Kabouter (Kobold, Gnom), wegen dem „Ding in seiner Hand“ ist er nun der „Kabouter Buttplug“. Er darf jetzt sogar auf dem berühmten Eendrachtsplein im Zentrum von Rotterdam stehen, wo fast jeder Tourist ihn aufs Foto bannt.
Paul McCarthy für alle
Die Werke Paul McCarthys sind auf dem internationalen Kunstmarkt mehr als begehrt, er zählt zu den momentan einflussreichsten zeitgenössischen Künstlern, mit entsprechenden Preisen natürlich.
Wenn Sie dennoch Ihren „ganz persönlichen Paul McCarthy“ zu Hause haben möchten, könnten Sie sich jedoch in Auktionen umsehen: Da gibt es dann z. B. einen Paul McCarthy-Schokoladen-Weihnachtsmann mit Buttplug in der Original Box, für nur 3.500,- US-Dollar.
Ein bisschen teuer für eine Schoko-Figur? Na ja, immerhin wurden diese „Chocolate Santa with Butt Plug“ 2007 in der berühmten New Yorker Maccarone Gallery verkauft, sie waren offizieller Teil von Paul McCarthy’s Ausstellung „Peter Paul Chocolates“. McCarthy hatte damals die komplette, knapp 600 Quadratmeter große Ausstellungsfläche in eine voll funktionierende Schokoladenfabrik mit angeschlossener Verkaufsfläche umgewandelt.
Runder Tisch zu Paul McCarthy’s Werk „Chocolate Santa with Butt Plug“
Sehen Sie im nachfolgenden Video, wie das Kunstmagazin ARTILLERY zahlreiche enge Bekannte des Künstlers zum Gespräch und zur auf mehreren Ebenen sensorischen Prüfung des exzentrischen und provokativen Kunstwerkes am gemeinsamen Tisch lädt …lebhaft, unterhaltsam, bildend… so bekommt der Ausdruck „die Kunst dringt in uns ein…“ eine wahrlich neue Bedeutung… (mit Ezrha Jean Black, Carole Caroompas, Stephen Cohen, Tulsa Kinney, David E. Stone, Paige Wery und Mary Woronov). Gedreht wurde in der Stephen Cohen Gallery in Los Angeles (USA).
Wenn Sie nicht ganz sicher sind, ob ein über 6 Jahre alter Schoko-Weihnachtsmann nicht irgendwann von unangenehmen Mikroorganismen besiedelt wird und so etwas lieber nicht in Ihrer Wohnung haben möchten, müssten Sie entweder etwas tiefer in die Tasche greifen oder sich nach einer Paul McCarthy-Präsenz im öffentlichen Raum umsehen, die gibt es zur Freude vergnügter, aber kritischer Menschen immer wieder.
Dann wird es Paul McCarthy wieder einmal gelingen, uns Kunstwerke vorzustellen, die auf den ersten Blick ein Schmunzeln hervorrufen und auf den zweiten Blick ganz herbe Kritik offenbaren, an der Maßlosigkeit, die unsere Konsumgesellschaft so grausam und langweilig macht.
Der dritte Blick des amüsierwilligen Beobachters könnte durch kunstaffines Publikum erfreut werden – Es hat schon etwas, wenn zwei hörbar kunstgebildete, in Chanel und Hermès gewandete ältere Damen auf einer Berner Wiese leicht erregt über McCarthys „Complex Pile“ diskutieren, einen 36 Meter langen und 15 Meter hohen, luftgefüllten Sch…haufen aus Kunststoff.
Es handelt sich um keinen ganz unschuldigen Haufen, der „Complex Pile“ hat eine Menge Ärger verursacht, bevor er in der Freilichtschau „Jenseits von Eden“ (2008) auf der Wiese vor dem Berner Paul Klee Zentrums gebührend bewundert werden konnte: Damals machte sich der kolossale Haufen nach einer Sturmböe in einer Juli-Nacht auf den Weg, von der Wiese in Richtung Stadt, und legte auf diesem Weg zwei Strassenlaternen und eine Stromleitung, einen Nussbaum und ein Gewächshaus um, bis er genug Luft abgelassen hatte.
Gerade war der „Complex Pile“ auf einer Ausstellung öffentlicher Kunst in Hong Kong zu sehen, zusammen mit einem aufblasbaren Stonehenge und einem aufblasbaren Riesen-Spanferkel, vielleicht kommt die leichte, aber nicht leicht zu nehmende Kunst auch einmal in Ihre Nähe.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse