- Art-o-Gramm: Picasso – Der Künstler, das Leben und die Liebe – Szene 2
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Picassos Leben und seine Lieben – besonders in Bezug auf Picassos Verhältnis mit und zu Frauen ein endloses Thema, zu dem sich ernsthafte Kunstwissenschaftler und aufgeregte Feministinnen, empörte Kleinbürger und fantasiereiche Kochbuchautoren, verwirrte Sozialwissenschaftler und neidische Boulevardjournalisten aus wohl jedem denkbaren Blickwinkel erschöpfend geäußert haben.
Des Künstlers Lifestyle und seine Beziehungen zu Frauen wurden also bereits gründlich genug seziert, und so wichtig ist es wohl nicht, wer mit wem warum und wann welches Bettchen teilt.
Dennoch kommt eine Gesamtbetrachtung Picassos nicht ganz darum herum, einen Blick auf seinen Lifestyle und seine Liebe(n) zu werfen – beide sind Puzzleteile der „Person Picassos“, beide haben auch seine Kunst beeinflusst. Deshalb folgt eine Skizze in 7 Szenen über die private Seite des Künstlers – ein intensiv gelebtes Leben.
Szene 1: Ungewöhnlicher Lifestyle – immer ein gefundenes Fressen für einen Teil der Medien
Nicht nur It-Girls sind da, wo die Luft brennt
Sondern auch viele Künstler, und das wirklich nicht erst in unseren Jahrhundert. Pünktlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1900, besuchte Picasso das erste Mal die Stadt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sein häufigster Aufenthaltsort werden sollte: Er reiste mit seinem Freund Casagemas zur Weltausstellung nach Paris und fand dort, wie schon in den von ihm bis dahin bewohnten Städten Barcelona und Madrid, sofort den Teil der Stadt, in dem das Leben so richtig tobte und sich die Künstler der Avantgarde trafen.
Die „Exposition Universelle de 1900“, das globale Medien-Event der Zeit, lockte damals sagenhafte 48 Millionen Besucher nach Paris. Möglichst viele dieser Besucher drängten sich im Zentrum links und rechts von der Seine in die teils neu erbauten Hotels, ein großer Teil fand irgendwo auf dem Weg nach dem südöstlich von Paris gelegenem zweiten Ausstellungsgelände im Städtchen Vincenne sein Quartier.
Picasso dagegen fand zielsicher in den berüchtigten nördlichen Randbezirk von Paris, den Montmartre, Geburtsstätte der Pariser Kommune und Wohnort der Pariser Künstler im 19. Jahrhundert; er wird mit Casagemas eine Zeit lang ein Atelier dort teilen.
Dieser Auftritt des 19-jährigen Picasso in Paris zeigt etwas, was sich in Picassos Leben fortdauernd wiederholen sollte: Picasso findet, wo er sich auch hinbegibt, überall und immer schnell den urbanen „Hot-Spot“, in dem die jeweilige kulturelle Umwälzung stattfindet – er ist immer „mitten drin“.
Wenn er in Paris war und z. B. im Künstlerhaus Bateau-Lavoir auf dem Montmartre wohnte, war das dann alles andere als ein ruhiges Leben: Auf dem Montmartre lebten zahlreiche Künstler, frei und ungezügelt und billig, umzingelt von Kabaretts und Tanzlokalen und kleinen Restaurants, und in den Ateliers/Wohnungen der Künstler wurde gefeiert, häufig und recht ungezügelt.
So gab Picasso 1908 ein großes Fest zu Ehren Henri Rousseaus, über das so lange geredet wurde, dass es kunsthistorische Bedeutung erlangte. Eine beeindruckende Reihe von Künstlern lief in dem zur Scheune umgestalteten Atelier auf, „Jedermann soll schön blau gewesen sein“, und das Fest endete erst, als die Sonne schon am Himmel stand.
Die Medien malen die Bilder, wie sie wollen
Manchmal geriet nicht nur ein Fest ziemlich außer Kontrolle, sondern den Medien wurden Geschichten mit dem Zeug zum handfesten Skandal geboten. In irgendeiner nicht weiter abgesicherten Art und Weise beteiligte, wegen ihres „Bohèmelebens“ verdächtige Prominente wurden auch damals schon sehr gerne zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht.
So befand sich Picasso vor rund 100 Jahren unversehens und unverschuldet mitten in einem DER Skandale der Zeit, einem Skandal um den Diebstahl des wohl berühmtesten Frauenbildnisses der Welt, der als erschütterndstes Ergebnis zutage förderte, dass der Louvre damals für Diebe fast ein Selbstbedienungsladen war.
Im Sommer 1911 verschwand die Mona Lisa aus dem Louvre. Picasso und sein Freund Guillaume Apollinaire hatten sich vielleicht in Paris den Ruf erworben, schönen Frauen nicht widerstehen zu können; offiziell wurde Apollinaire jedoch verdächtigt, weil man bei ihm zwei aus dem Louvre gestohlene Steinmasken fand.
Diese hatte Apollinaire von einem Mitbewohner und Picasso von Apollinaire erworben. Apollinaire wurde auf jeden Fall verhaftet und sagte aus, dass Picasso beteiligt war, schon war der nun mitten drin im Medien-Rummel um den Jahrhundert-Diebstahl.
Es gab eine Menge hin und her, der Mitbewohner (Géry Pieret) klaute noch eine Figur im Louvre und übergab sie der Zeitung Paris-Journal – nur um zu demonstrieren, dass es mit der Sicherheit im Museum nicht zum Besten stand. Die Zeitung bot 50.000 Franc für jeden, der die Mona Lisa wiederbeschaffte, Apollinaire und Picasso übergaben ihre Skulpturen schließlich dem Paris-Journal.
Picassos wurde lediglich verhört, der Prozess gegen Apollinaire wurde irgendwann aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen. Der wahre Dieb war ein italienischer Bildereinrahmer, der im Louvre gearbeitet hatte, die Mona Lisa tauchte Dezember 1913 in Florenz wieder auf, bis dahin hatte die Presse eine Menge Spaß und Picasso eine Menge Ärger mit dem Fall gehabt.
Während der zweieinhalb Jahre, in denen die Mona Lisa verschwunden war, wurden insgesamt acht Mona-Lisa-Fälschungen an Sammler verkauft.
Es gibt Varianten der Story, nach denen die gesamten im Umfeld des Skandals verzeichneten Diebstähle nur begangen worden seien, um die gewaltigen Sicherheitslücken in der Diebstahlsicherung des Louvre aufzuzeigen.
Guillaume Apollinaire soll überhaupt nur beschuldigt worden sein, weil er zu der Gruppe von Künstlern gehörte, die heftige Kritik übten an der Art von abgestandener Museumskunst, die der Louvre repräsentierte – Apollinaire hatte einmal ein Manifest unterzeichnet, in dem gedroht wurde: „Burn Down The Louvre.“ (Brennt den Louvre nieder).
Die nächste Variante der Geschichte sah den italienischen Verglaser Perugia als engagierten Retter nationaler Kunst – er sollte die Mona Lisa gestohlen haben, weil er glaubte, dass sie von Napoleon widerrechtlich aus Florenz entführt worden sei, mit der „Rückführung“ wollte er nur seine Pflicht als Patriot tun.
TV Doku: Picasso und die Frauen – Der Meister des Spiels
Picasso und die Frauen – Der Meister des Spiels Ein Film von Jacqueline Kaess-Farquet Produktion: BR 1997, Reihe Lido Aufnahme: BR 27.06.2010
Die Medien und die Fremden
Viel interessanter als der wirkliche Skandal ist die – damals wie heute – manchmal bodenlos menschenverachtende und unsachliche Berichterstattung darüber.
Picasso wurde damals von der Presse hart herangenommen, sein Lebensstil wurde als völlig ungehemmt, ausufernd und gefährlich dargestellt. Und – es ist kaum zu glauben – deutliche Anklänge in dieser Richtung finden sich noch in heutigen Medien-Berichten über Picasso und Apollinaire und den Diebstahl der Mona Lisa.
So wird etwa festgestellt (im 21. Jahrhundert!), dass die Story rund um den Raub der Mona Lisa zwar sehr eigenartig sei, dies aber wahrscheinlich nicht für Menschen mit einem Avantgarde-Lifestyle wie Apollinaire und Picasso. Damit unterstellt der Autor einfach einmal, dass „Menschen mit einem Avantgarde-Lifestyle“ kriminelle Handlungen völlig normal finden. Arme Künstler, die neben so denkenden Nachbarn wohnen, und bis zur Wiedereinführung des Blockwarts ist es wahrscheinlich auch nicht mehr lange hin …
Nach dem Empfinden eines Wissenschaftlers, der – ebenfalls im 21. Jahrhundert! – einen Artikel über Picasso schreibt, führte dieser ein exzentrisches Leben, weil er sich in seiner freien Zeit mit Freunden in Cafés traf und über Malerei, Literatur, Musik, Philosophie und die neuesten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik diskutierte.
Wir fragen uns ängstlich, was für ein Leben eben dieser Wissenschaftler führt …
Picasso und Apollinaire wurden auch wirklich gehässig verspottet, weil sie einer Verhaftung durch die Pariser Behörden mit größter Angst entgegensahen. Der Hintergrund dieser Furcht ist vor allem dann wenig lustig, wenn man ohnehin entsetzt ist über viele Teile der heutigen Medien-Berichterstattung, in denen Flüchtlinge aus fremden Ländern verunglimpft werden.
Auch damals war das Phänomen bekannt, dass Mitglieder einer Menschengruppe sich ängstlich nach außen abschotten. Bei dieser Menschengruppe kann es sich um eine Nation handeln (eine durch das Merkmal der Staatsangehörigkeit zusammengehaltene Gruppe), um die Bevölkerung einer Stadt, die sich als Einwohner eben dieser Stadt definieren, oder um eine eingeschworene Dorfgemeinschaft (um einen Fußballverein, um das Stammpublikum eines Clubs, um die Schulklasse, um die Kleingärtner im „Wo-sich-Fuchs-und-Hase-Gute-Nacht-sagen-Eck“ …).
Schon damals waren es innerhalb dieser Menschengruppe entweder die besonders Privilegierten, die ihren Status durch Verunglimpfung neu Zugezogener erhalten wollen, oder die besonders Unterprivilegierten, die aus Angst vor dem Verlust der Reste ihres Besitzstandes auf keinen Fall Fremden Zugang zu ihrer Gruppe gewähren wollen. Schon damals gab es Medien, die beide Richtungen um der Schlagzeilen willen unterstützten.
So gab es im Paris des Anfangs des vorletzten Jahrhunderts ausgeprägte Züge von Rassismus, Apollinaire kannte den Spitznamen „Macaroni wog“ (wog = nicht weiße Person), alle Immigranten rund um Apollinaire und Picasso konnten über gelegentlich sehr bösartige rassistische Übergriffe berichten, die vor allem von der Presse und der „Creme de la Creme“ der Pariser Gesellschaft ausgingen.
Wenn Sie interessiert daran sind, mehr darüber zu lernen, wie und wie schnell sich solch eine der Menschenwürde widersprechende Haltung entwickelt, möchten wir Sie auf einen aufregenden und aufregend guten Beitrag hinweisen, der zum ersten Mal im Juli 2014 (und seitdem wiederholt) in ZDFNeo ausgestrahlt wurde:
„Der Rassist in uns.“ hilft auf Schaudern verursachende Art und Weise zu verstehen, anzusehen unter blog.zdf.de/.
Die Medien und die Tatsachen
Es gab noch viele Varianten der Geschichte um den Mona-Lisa-Raub, in denen Unmengen völlig verschiedener Wahrheiten niedergeschrieben und veröffentlicht wurden. Die Medien-Berichte von damals könnten deshalb auch gut als Anfang eines kleinen Lehrstücks über den Stellenwert der Wahrheit und sicher belegbarer Fakten in der Medien-Berichterstattung herhalten, und die Medien-Berichte von heute als Beleg darüber, dass sich dieser Stellenwert in den letzten 100 Jahren nicht verbessert hat.
Auch heutige Berichte über der damaligen Raub der Mona Lisa überraschen durch erstaunlich kritiklose Übernahme von „Faktendarstellungen“, wenn z. B. ein Artikel berichtet, dass Vincenzo Perugia sich im Louvre einschließen ließ, die Mona Lisa aus dem Rahmen nahm, in seiner Arbeitskleidung verbarg und unbehelligt aus dem Museum transportierte.
Die Mona Lisa ist nicht auf zusammenrollbarer Leinwand gemalt, sondern auf einer stabilen Tafel aus Pappelholz. Heute wird in solchen Fällen Pappelholz von mindestens 2 cm Stärke eingesetzt, in früheren Zeiten war man eher verschwenderischer mit Material, wenn es um solche Ausnahmeaufträge wie ein „Portrait für die Ewigkeit“ ging. Die Mona Lisa ist auch kein kleines Bild, wie häufig zu lesen ist, sondern allenfalls für die Malerei des 16. Jahrhunderts ein kleines Bild.
Nach heutigem Empfinden zählt die Mona Lisa mit knapp einem halben Quadratmeter Bildfläche sicher nicht mehr zu den Miniaturen, und vor allem sind diese 77 cm × 53 cm zentimeterdicke Holzplatte mit Ölfarbe auch einfach einmal ein mächtiger Brocken, von dem eher zweifelhaft erscheint, dass ihn jemand einfach im (gewöhnlich eng anliegenden) Arbeitsgewand verbirgt.
Die Medien und die Ereignisse
Eine weitere Parallele zur Presse von heute zeigt sich in der häufig geäußerten Vermutung, dass es genau der Rummel um diesen Kunstraub gewesen sei, der dafür gesorgt hätte, dass die Mona Lisa zum Kunstwerk mit absolutem Ausnahmestatus emporstieg. Es gibt einige Künstler, die noch heute in ihrem Hobbyraum werkeln würden, wenn sie nicht durch irgendein „event“, das mit ihrer Kunst recht wenig zu tun hatte, ein kräftiges Medienspektakel entfacht hätten (und die Kunst dieser Künstler ist auch oft genug mehr Spektakel als Kunst).
Schon zur ersten Biennale in Venedig, im Jahre 1895, mutmaßte ein italienischer Maler, das gesamte Festival „sei doch nur eine bösartige Spekulation, um Gastwirten und Eisenbahngesellschaften einen Gewinn zu verschaffen“, und eine derartige Vermutung wurde ganz bestimmt nicht nur zur Veranstaltung in Venedig geäußert.
„Event“ steht in Anführungsstrichen, weil es hier genau um den ursprünglichen Wortsinn geht – das englische Wort event heißt übersetzt einfach Ereignis, und ein entsprechendes Gefühl beschleicht kopfklare Beobachter eines events ziemlich häufig: Es geht darum, dass etwas passiert, irgendetwas, mit Sinn oder ohne, Hauptsache die Medien berichten darüber.
Aber immerhin machen die event-veranstaltenden Künstler noch Kunst, wenn der Medien-Rummel sie bekannt gemacht hat, während wir uns reihenweise mit nervigen Girls mit Hündchen auf dem Arm als Markenzeichen, nervigen Girls mit einer Handtasche als Markenzeichen, nervigen Girls mit blonden und dunklen Haaren und unterirdischer Sprachmächtigkeit als Markenzeichen, nervigen Girls mit fülligem Po als Markenzeichen, nervigen Girls mit Entenschnabel-Lippen als Markenzeichen und nervigen Girls mit langen Namen ohne Markenzeichen herumärgern müssen, die einfach nichts tun, außer da sein und uns fast unentrinnbar mit ihrem Anblick zu belästigen.
Sie empfinden es als feministischen Rückfall ins Mittelalter, dass eine Autorin hier keine nervigen Jungs nennt? Wollte sie, aber der Autorin ging es hier darum herauszustellen, dass man ohne jeglichen Anflug von Geist UND ohne jegliche Produktivität berühmt werden kann, und da ist ihr einfach kein männlicher Protagonist eingefallen – die werden alle Moderatoren, produzieren also etwas.
Die Medien und die Personenkenntnis
Erstaunlich ist auch, wie gut manche Autoren darüber Bescheid wissen, was Picasso wusste und was er nicht wusste:
Picasso habe sicher keine Neigung zur Mathematik gehegt, und ganz gewiss hätte er um 1907 von Einstein ebenso wenig gewusst wie alle anderen Künstler auch, weiß da jemand zu berichten.
Das erscheint zweifelhaft: Picasso war dafür bekannt, seine nicht dem Malen gewidmete Zeit in den Pariser Cafés rund um den Montmartre zu verbringen. Diese Cafés waren intellektuelle Zentren der Stadt, man ging dort nicht zum Kuchenessen (und auch nicht zum „Gesehenwerden“) hin, sondern es wurde Kaffeehauskultur gepflegt, im ursprünglichen Sinn des Wortes, stundeslanges Sitzen bei einem Kaffee, alle nennenswerten Zeitungen kostenlos verfügbar, lebhafte Diskussionen über die Tische hinweg.
Diese Kaffeehauskultur gehört als „Wiener Kaffeehauskultur“ seit 2011 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO, und auch wenn den Wienern auf jeden Fall die Ehre des lebendigen Erhalts dieser Kultur gebührt, waren sie nicht die Begründer dieser Kultur.
Die ersten Kaffeehäuser eröffneten im 12. Jahrhundert mitten auf der Arabischen Halbinsel in Mekka, 1554 war das Kaffeehaus in Istanbul und damit auf dem europäischen Kontinent angekommen. Um 1650 eröffneten Kaffeehäuser in Venedig, Oxford und London, 1685 in Wien und 1686 das erste richtige (feste) Kaffeehaus in Paris.
Dieses Café Procope war es, das mit seinem vornehmen, aber gemütlichen Ambiente und den zahlreichen Angeboten „rund um den Kaffee“ zum beliebten Treffpunkt der Gesellschaft und zum Diskussions-Forum von Literaten und Philosophen wurde, in Paris wurde die Kaffeehauskultur als Beobachtungsplattform des intellektuellen Lebens also eigentlich „erfunden“.
Picasso fühlte sich wohl auf dieser „Beobachtungsplattform“ und nahm die intellektuellen Anregungen begierig auf, zu seinem „Bande à Picasso“ genannten Zirkel gehörten nicht nur Avantgarde-Künstler, sondern auch Schriftsteller und Journalisten und Menschen mit Interesse ab Naturwissenschaften und Mathematik.
Die neuesten Entwicklungen in diesen Wissenschaften waren ebenso Thema wie die neuesten Ereignisse in der Welt der Kunst, die populärwissenschaftlichen Magazine der Zeit und Besprechungen naturwissenschaftlicher Bücher waren ebenso als Lesestoff verfügbar wie das ganze Spektrum der Tageszeitungen.
Dass auch die neuesten Entdeckungen in der Physik ein Thema in diesem Künstlerzirkel waren, ist sogar ausdrücklich belegt, der 1905 erschienene Bestseller von Gustav Le Bon, „L’Evolution de la Matière.“, in dem der Autor jede Art von Strahlung auf den Zerfall von Atomen zurückführte und die Existenz einer stabilen Materie anzweifelte, ist als Diskussionsthema mit Zitaten überliefert.
Genau in diesem Jahr 1905 legte Einstein vier Publikationen über verschiedene Themen vor, von denen jede einzelne nobelpreiswürdig war: Die Lichtquantenhypothese, die Bestätigung des molekularen Aufbaus der Materie durch die ‚brownsche Bewegung‘, die quantentheoretische Erklärung der spezifischen Wärme fester Körper und die zwei Arbeiten, die als spezielle Relativitätstheorie in die Geschichte eingingen.
Mit diesen Arbeiten hat Einstein das Jahr 1905 zum Annus mirabilis (Wunderjahr) der Physik gemacht, und auch wenn nicht sicher festzustellen ist, wann diese zur rückwirkenden Betrachtung gehörende Bezeichnung das erste Mal ausgesprochen wurde, war diese „Explosion von Genie“ unter interessierten Menschen ganz sicher ein Thema und wird ebenso sicher bereits ein gutes Stück vor dem Jahr 1907 bis nach Paris gedrungen sein – die großen Zentren der Wissenschaft und Kultur befanden sich damals meist in den großen Städten Europas und hielten engen Kontakt untereinander.
Wenn man das alles weiß, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass der an allem Neuen dringend interessierte Picasso im Jahr 1907 Einstein kannte als dass er ihn nicht kannte – und es ist auch wenig Grund ersichtlich, die weltoffenen und weltinteressierten Künstler in Picassos Umfeld als unwissende Ignoranten abzustempeln.
Die abschätzige Betrachtung der „Bande à Picasso“ lässt wohl eher ein deutliches Bild auf den Geist des Berichterstatters zu als auf Picassos Informationsstand.
Deshalb ordnen großzügigere Denker Picassos intellektuelle Fähigkeiten auch grundlegend anders ein, und sie sehen in den Diskussionen rund um Mathematik und Wissenschaft eine der Grundlagen für das Entstehen des Kubismus, für den Picasso mit seinem Bild „Les Demoiselles d’Avignon“ eben in diesem Jahr 1907 den Startschuss setzte, mehr dazu im Artikel „Art-o-Gramm: Picasso – Berühmte Kunst und ihr Geheimnis“.
Die Medien und die kreativen Unternehmungen
Es gehört zum Geheimnis des umwerfenden Erfolgs des Künstlers Picasso, dass er Kunst und Wissenschaft nicht als berührungslose Antipoden sah. Auch andere Kreative empfinden Kunst und Wissenschaft als nicht so verschieden im Denken, weil hinter dem Schaffen in beiden Disziplinen ein grundsätzlicher kreativer Vorgang steckt.
Um Neues zu entdecken bzw. zu erschaffen, muss jeder Schöpfer (ob Künstler oder Forscher) das Vorhandene analysieren und in den entscheidenden Grundzügen verstehen; erst dann hat er ausreichend Überblick, um wirklich neue Denkansätze entwickeln zu können.
Erst die allumfassende Neugier ermöglicht die Inspiration, die wirklich Neues schafft, ein Beispiel in diese Richtung gibt aktuell das 2011 aufgelegte “artist in residency”-Programm von CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung. CERN will Künstler und Physiker zusammenbringen und nimmt zu diesem Zweck Künstler aus aller Welt in den CERN-Laboratorien nahe Genf auf, die mit den Physikern kooperieren und Ideen austauschen.
Dass solche Ansätze in der üblichen Medien-Berichterstattung kaum auftauchen, ist Normalität. Beispiele für die Ergebnisse, die eher uninspirierte Entwicklung erbringt, sehen wir aktuell im Internet-Business zur Genüge, über sie und ihre Erfolge wird in den Medien eifrig und gerne berichtet:
Ein „Social Network“ (eine Selbstdarstellungs-Plattform mit ein paar Funktionen) war im September 2014 so viel wert wie 2/3 des deutschen Bundeshaushalts, ein Online-Schuhverkäufer immerhin noch 600 Millionen, und eine Art Popcorn-Maker für Start-ups, die weitere dieser monopolisierenden Verkaufsplattformen wie andere Menschen Popcorn produziert, soll nach ihrem Börsengang mehr wert sein als die Lufthansa.
Picasso hat zum Themenkreis „Lebensbewältigung durch Computernutzung“ geäußert:
„Computer sind nutzlos. Sie können nur Antworten geben“
(gefunden auf www.zitate-online.de/).
Das Zitat stammt aus dem Jahr 1946, und Picasso zeigte sich damit nicht nur sehr gut über die Neuheiten der Technik informiert, sondern mahnte eine grundlegend wichtige Sichtweise an – was die Medien, die dieses Zitat unter die „berühmten Fehlprognosen“ zum Computer einordnen (so z. B. „Computer sind nutzlos“, Sueddeutsche.de), wohl einfach nicht verstanden haben:
Computer können Aufgaben beliebiger Art (schneller als der Mensch) ausführen, aber der Mensch muss verantwortlich bleiben, er muss diese Aufgaben festlegen, inklusive der Ethik und Moral geschuldeten Beschränkungen, die stellt der Computer ebenso wenig selbsttätig auf wie eine Waffe.
Kommunikation über Social Networks kann sicher Menschen verbinden; die Möglichkeit, dem Computer zu sagen, was er mit bestimmten Daten wie zu tun hat, ist aber auch hier Voraussetzung dafür, diese Daten weiterhin zu kontrollieren – wer seine Daten fremden Unternehmen überlässt, die diese Daten in einer ihm nicht bekannten und für ihn nicht nachvollziehbaren Art und Weise verarbeiten, gibt die Kontrolle ab, je nach Datenfülle die Kontrolle über sein gesamtes eigenes Leben.
Picasso war natürlich nicht nur der Prototyp eines Menschen, der mit seinem Leben (und seinen Lieben, die Thema der nächsten Szenen dieses Artikels sind) den eher an Gewinn als an echtem Journalismus interessierten Medien prächtige Vorlagen lieferte.
Über ihn gibt es viel mehr zu berichten, auf Kunstplaza werden im „Art-o-Gramm: Picasso – Ein langes Leben für die Kunst“ sein Leben und im „Art-o-Gramm: Picasso – zum Künstler geboren“ seine Ausbildung zusammengefasst. Dass Picassos Leben leider nicht nur aus verrückten Festen bestand, wird im „Art-o-Gramm: Picasso – ein Künstler und drei Kriege“ beschrieben, im „Art-o-Gramm: Picasso – Berühmte Kunst und ihr Geheimnis“, „Art-o-Gramm: „Picasso – ein Garant für Top-Ranking“ und „Art-o-Gramm: Picasso heute“ geht es um seine Kunst und deren Nachwirkungen bis in die heutige Zeit.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse