Auf jeder documenta gibt es einen Liebling. Einen Künstler, dessen auf der documenta vorgestelltes Kunstwerk ganz besonders auffällt und ganz besonders gemocht wird, einen Künstler, den die Besucher ganz besonders toll finden, einen, über den die Medien im Vorfeld und im Nachfeld ganz besonders viel berichten, einen, der einfach das allgemeine Interesse in besonderem Maße erregt.
Auf der documenta 13 war wohl William Kentridge dieser Künstler, der ein Höchstmaß der allgemeinen Aufmerksamkeit auf sich vereinen konnte, und das “Lieblings-Kunstwerk” aller war sein Werk „The Refusal of Time“.
Wie wird man eigentlich zum Liebling der documenta?
Wenn man jetzt daranginge, diesen Weg wirklich zu erkunden, würde hier wahrscheinlich ein komplizierter Abriss über wirtschaftliche Beeinflussungen, kunsttheoretische Querelen und Netzwerke zwischen Kunst und Wirtschaft folgen, um die üblichen Bewegungen im Vorfeld der documenta zu skizzieren.
Eine solche Skizze wäre interessant für Menschen, die mit dem Kunstbetrieb finanzielle Interessen verbinden und von einer Vorausschau auf den Verkauf profitieren.
Nicht so interessant ist sie für einen ganz normalen Kunstliebhaber, höchstwahrscheinlich wäre eine solche Betrachtung sogar eher geeignet, ihm den Kunstgenuss zu verleiden.
Der ganz normale Kunstliebhaber muss sich aber auch nicht mit solchen Untersuchungen beschäftigen, er hat vielmehr die Freiheit, sich die Kunst einfach anzusehen. Ob sie auf der documenta zu finden ist oder ob sie nur ganz woanders betrachtet werden kann.
Wenn dieser Kunstliebhaber einen Künstler ganz besonders liebt, wird er sich höchstens fragen, warum dieser Künstler eigentlich nie zur documenta eingeladen wird. Weiß von außen keiner, da müsste der Kunstliebhaber schon bei den Veranstaltern der documenta nachfragen.
William Kentridge, der Liebling der documenta 13, wird wahrscheinlich auf die Frage, wie genau er zum Liebling wurde, auch keine Antwort geben können. Sicher ist wohl, dass er nicht mit irgendwelchen Beziehungsspielen im Vorfeld in Verbindung gebracht werden kann, er kommt von weit her und gehört entschieden nicht zu den Künstlern, für die ein Höchstmaß an Marketing ein persönlicher Gewinn sein kann.
William Kentridge – ein kritischer Geist
William Kentridge ist am 28. April 1955 in Johannesburg, der Hauptstadt Südafrikas, geboren. Er stammt aus einer engagierten Familie, seine Eltern gehörten zum gehobenen Bürgertum und sahen es als Rechtsanwälte als Gewissensaufgabe, benachteiligte Schwarze in Apartheid-Prozessen zu verteidigen.
Kentridge lebte in wohlhabenden Verhältnissen, aber er erfuhr die ganze menschliche Schizophrenie der südafrikanischen Gesellschaftsform durch das Leben seiner Familie zwischen der Welt des weißen Bürgertums und der Welt der ausgegrenzten schwarzen Bürger.
Seine Erziehung hatte demgemäß zunächst wenig mit Kunst zu tun, er begann nach Abschluss der High-School an der University of the Witwatersrand (Johannesburg) ein Studium der Politik und Afrikanistik, von 1973 bis 1976.
In der Zeit des Studiums entdeckte Kentridge jedoch seine Leidenschaft für kreatives Schaffen, Theater und Kunst, nach seinem Abschluss in Politik/Afrikanistik begann er deshalb ein Kunststudium an der Johannesburg Art Foundation. 1978 schloss er dieses Studium ab und ließ sich anschließend bis 1982 an der “Ecole Internationale de Theatre Jacques Lecoq” in Paris zum Pantomimen ausbilden.
Seine Betätigung in zahlreichen Künsten, als Schauspieler, Designer und Theaterregisseur, bestimmte von nun an seinen Lebenslauf, ab den 1980er Jahren konnte er als Regisseur für die legendäre Handspring Puppet Company aus Kapstadt arbeiten.
Seine Kunst war für ihn immer auch ein Ventil zum Angriff der überkommenen südafrikanischen Gesellschaft, so griff er in seinen Inszenierungen auf literarische Vorlagen zurück und übertrug diese in einen überraschenden und erschreckenden südafrikanischen Kontext.
Die Company ging auf Tourneen, die Stücke wie „Woyzeck on the Highveld“ und „Ubu and the Truth Commission“ in den 1990er Jahren weltbekannt machten.
Kentridge fuhr fort damit, desillusionierende politische Ereignisse in Zeichnungen und Skulpturen, Animationen, Filmen und Performances in starke poetische Allegorien zu verwandeln. Die Geschichte und Politik Südafrikas war immer Bestandteil seiner Kunst, die Verbrechen des Apartheid-Regimes werden immer wieder thematisiert, neben der Auseinandersetzung mit persönlicher Verantwortung und kollektiver Erinnerung, vor allem in seinen kurzen Filmen.
In seiner späteren Entwicklung vereinfacht Kentridge zunehmend, er arbeitet manchmal nur noch mit Zeichenstift und Radiergummi, die Geschichten werden durch Ausradieren und Neuzeichnen erarbeitet.
Zwischen 1996 und 2008 wurden Beiträge von Kentridge auf der Prospect.1 in New Orleans gezeigt und er war jeweils zweimal auf der Biennale von Sidney und auf der documenta vertreten. 2003 erhielt er den Goslarer Kaiserring und 2008 den Oskar-Kokoschka-Preis, 2005 wurde Kentridge bis 2007 als erster Professor an die Max-Beckmann-Stiftung in Frankfurt berufen.
Der Künstler bestückte von 2004 bis 2009 Ausstellungen im Metropolitan Museum of Art New York, dem Moderna Museet in Stockholm, dem Philadelphia Museum of Art und dem San Francisco Museum of Modern Art, 2010 war er mit der Ausstellung „William Kentridge: 5 Themes“ wieder im Museum of Modern Art in New York zu sehen.
Der sympathische Publikumsliebling Kentridge
2012 war William Kentridge nun das dritte Mal auf der documenta zu sehen, und er wollte nicht der Liebling des Publikums sein, er war es einfach. Seine ganze zurückhaltende und kluge Art macht ihn sympathisch, und ganz besonders sympathisch macht ihn ein Kunstwerk wie „The Refusal of Time“, ein Kunstwerk, das uns alle angeht und berührt.
Wie „The Refusal of Time“ im Detail aussieht und funktioniert, wird hier nicht verraten – bei einem solch ungewöhnlichen und überraschenden “Stück Kunst” wäre es wirklich schade, Ihnen die Überraschung zu verderben.
Es soll aber kein Geheimnis bleiben, dass Kentridge mit seiner “Zurückweisung der Zeit” eine Arbeit geschaffen hat, in der die Geschichte der Zeitmessung und die Missbilligung darüber, dass Zeit gemessen wird und gemessen werden kann, den bestimmenden Angelpunkt bildet.
“Audiovisuelle Oper” wurde „The Refusal of Time“ auch betitelt, und tatsächlich gibt es Musik und Schauspiel und eine Art Bühnenbild und Kostüme, und mit all diesen Zutaten geschehen in dieser Video-Installation des Südafrikaners die erstaunlichsten Dinge.
Das Kunstwerk „The Refusal of Time“ hat ja auch stattliche 28 Minuten ZEIT, um seinen Ausdruck der Aversion gegen Zeitberechnung und gegen den Ablauf der Zeit überhaupt zu entwickeln, und in diesen 28 Minuten werden Sie Stummfilm-Szenen sehen und Freudentänze, Messgeräte jeglicher Art und Papier und Karten und englische Sätze auf großen Leinwänden und auch William Kentridge selbst, der durch die Zeiten wandert.
Deutsche Kunstbetrachter freuen sich über das Wort Torschlusspanik, welches nur in der deutschen Sprache die Angst davor ausdrückt, dass das Leben eher endet als die Träume. Akustisch ist auch viel los: Choräle und Fanfarenstöße sind zu hören und zarte Stimmen, die den Rezipienten mit geheimnisvollen Anweisungen wie “Hold your breath“ oder “Undo, Unsay“ verwirren, und natürlich das unerbittliche Ticken der Zeit, in vielfacher Gestalt.
Wer möchte, kann die zahlreichen Fragen entdecken, die das Multimedia-Schauspiel aufwirft, und versuchen, sie zu beantworten, zum Beispiel die Frage, ob es überhaupt etwas bringt, die Zeit so exakt wie möglich zu messen, oder ob uns dieses Tun nicht im Gegenteil wichtige Lebenszeit kostet.
Da auch „The Refusal of Time“ sich schließlich der Erkenntnis beugen muss, dass die Zeit nie anzuhalten ist und die Unordnung in der Welt nie weniger wird, können Sie all diese Fragen beim Betrachten aber auch einfach einen Moment nach hinten schieben und das Medienkunstwerk schlichtweg genießen (solange Sie später in einen Zustand der Verantwortung zurückkehren).
Insgesamt nimmt Kentridge eine mächtige Zeitströmung auf, mit den Fragen nach persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung und mit der Visualisierung des Gefühls, über die eigene Zeit nicht mehr verfügen zu können, ob sich diese Defizite in der stillen Hinnahme gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten ausdrücken oder in der Unverfrorenheit eines Arbeitgebers, der seine Mitarbeiter immer über ihr Handy verfügbar haben möchte.
Lehnen Sie sich mit auf, gegen die Zeit und gegen ununterbrochene Erreichbarkeit und gegen gefühllosen und verantwortungslosen Umgang mit Menschen!
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse