Die Japanerin Yayoi Kusama ist eine der wirklich großen Künstlerinnen unserer Zeit, unter anderem weil ihre Kunst alle Menschen der Welt quer durch alle Ethnien und Kulturen erreicht.
Auch im tatsächlichen Sinn erreicht – kaum ein Künstler war in der Zeit von 1945 bis heute auf mehr Ausstellungen bis in die entlegensten Winkel der Welt präsent; jeder Kunst-Fan, dessen Kunstwelt mehr zu bieten hat als Leonardo da Vinci, Rembrandt und die Künstler, die letzte Woche medienwirksam Krawall veranstalteten, kennt die japanische Künstlerin und ihr Werk.
Warum Yayoi Kusama trotzdem kein Kunststar ist und auch nie einer werden wollte, sondern die Kunst als Überlebensstrategie etwa ebenso braucht, wie die Kunst ihre Ideen zur Belebung braucht, wird im Artikel „Yayoi Kusama: Eine Welt aus Kunst gebaut“ erzählt.
Jetzt geht es um Kusamas Werk, das bei einer Künstlerin, die am 22. März 2018 89 Jahre alt wurde und ihr ganzes Leben lang ununterbrochen arbeitete, einigen Umfang hat:
Kusama und Punkte und New York und Hippie-Zeit: Passt prima
Nach einer mehr als unerfreulichen Jugend und einer nicht viel weniger unerfreulichen Anfangszeit als Künstlerin hatte Kusama Anfang der 1950er die erste Gelegenheit ergriffen, um sich von Japan (ihren Eltern) in die USA abzusetzen. Nach kurzem Zwischenstopp (bereits mit Ausstellung) in Seattle hatte sie 1958 endlich die Hauptstadt der Kunst erreicht und war bereit, sie zu erobern. Was ihr gelang, sogar in recht kurzer Zeit:
Yayoi Kusama lebte zwischen 1958 und 1972 vorwiegend in New York, in dieser Zeit entstanden auch ihre bekanntesten Kunstwerke, Aktionen und Happenings.
Anfangs nicht gerade in Saus und Braus, als junger Zuwanderer ohne finanzielle Unterstützung in New York überleben ist auch für weniger zart besaitete Naturen kein Zuckerschlecken. Kusama lebte wohl mehr schlecht als recht vom Verkauf ihrer Bilder (sie soll in der New Yorker Kunstszene bekannt geworden sein, weil sie zu Fuß von Galerie zu Galerie ging, um nach Ausstellungs- und Verkaufsfläche zu fragen), aber sie lebte von ihren Bildern – für einen Mensch mit ihrem Geist und in ihrer geistigen Verfassung vermutlich wichtiger als der teure Trend auf dem Teller und die angesagte Marke auf dem Schuh.
Allerdings ist gerade die Kunstwelt für Frauen ein sehr brüchiger „Seelenretter“ bzw. mit Frustration sollte man als Künstlerin schon gut umgehen können. Denn begabte Künstlerinnen finden zwar in allen Kunstzentren genug fachkundige Menschen, die glaubwürdig die Begabung beurteilen und auch notorischen Zweiflerinnen dabei helfen, endlich an ihr Können und an ihre Kunst zu glauben; aber der finanzielle Erfolg bleibt trotzdem aus und wird oft von weniger begabten Männern eingeheimst.
Für jemanden, der ständig an der Schwelle seiner Belastungsgrenze arbeitet, sicher keine super günstige Situation, weshalb Yayoi Kusama auch in ihrer New Yorker Zeit 1961 erneut psychiatrische Behandlung in Anspruch nahm.
Die Arbeit ging trotzdem weiter, zu den Punkten erschloss sich Kusama 1961 Stoffskulpturen als künstlerisches Ausdrucksmittel. Möbel und andere Haushaltsgegenstände wurden lückenlos mit phallusartigen Stoffwülsten überzogen, die so weich waren, dass sie nichts und niemanden verletzen konnten.
„Accumulation No. 1“ ist von 1961 und wurde (u. a. zusammen mit Werken von Andy Warhol) 1962 in der Green Gallery ausgestellt: mo.ma/2Jb7jAv
„Accumulation No. 2“ ist von 1962, hier inklusive Künstler im Bild: bit.ly/2JkqUS5
Hier gibt es noch ein paar Penis-Posamente mit Künstler mittendrin: mo.ma/2xHA5Hk, im Vordergrund die Skulptur „Traveling Life“ von 1964. Diese Leiter wird von phallischen Formen überwuchert, die auf jeder Treppenstufe von Frauenschuhen bestiegen werden. Das wird gewöhnlich als symbolische Darstellung des beschwerlichen Werdegangs in einer von Männern dominierten Kunstszene interpretiert wird, könnte aber auch ganz andere Gedanken ausdrücken.
Ab Mitte der 1960er folgte eine fotografische Phase, oft mit reichlich exponierter Künstlerin, z. B. nackt und mit Punkten bemalt – sicher kein schlechtes Mittel, um ihre Arbeiten bekannter zu machen. Von dort aus war der Schritt zu Happenings, Events und Performances nicht mehr weit. Die waren ohnehin unbedingt Trend und für Kusama ein Mittel, an die Grenzen zwischen Kunst, Mensch und Umwelt zu gehen:
„Narcissus Garden“ von 1966, bit.ly/2LfM1lM, ist mit seinen 1500 spiegelnden Kugeln einfach nur traumhaft schön und brachte der Künstlerin außerdem die Gelegenheit, mit einer nicht von Zurückhaltung geprägten Aktion internationale Bekanntheit zu erlangen: Nachdem ihre Arbeiten nicht für die Biennale in Venedig ausgewählt wurden, obwohl sowohl Popularität als auch Qualität die Auswahl nahe gelegt hätten, baute Kusama „Narcissus Garden“ vor der Ausstellungshalle auf und verkaufte die Kugeln einzeln an Passanten.
Wer damals mit 1200 Lire (um 200 Euro) beim „Narcisium For Sale“ erfolgreich war, bevor die Polizei die Aktion beendete (Kusama war da bereits die bekannteste Künstlerin dieser Biennale), dürfte sich heute glücklich schätzen.
Es folgten Happenings in New York, Kusama auf dem Bürgersteig inmitten weißer Kissen mit roten Punkten (14th Street Happening) und Kusama im pinkfarbenen Kimono und einem mit Plastikblumen dekorierten Regenschirm auf einem Spaziergang durch New York (Walking Piece), beide von 1966.
1967 bemalte Kusama in den „Bodypainting Events“ lieber andere Menschen (nackt und in der Öffentlichkeit) mit Punkten oder übte sich in „Self Obliteration“, hier im Film anzusehen 1967 an der Brooklyn Bridge, mit echt tiefenentspannten Pferden, Fröschen, Katzen, Männern und ein wenig Kunst-Porno, wenn man bis zum Ende durchhält: bit.ly/2JkvrUz.
Dass die meisten dieser Veranstaltungen von der Polizei aufgelöst wurden, braucht wohl nicht extra erwähnt werden (bzw. gerade, für den unpolitischen Teil unserer Jugend, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie nicht bald aufwachen).
Ab Ende der 1960er-Jahre war für Kusama wie für viele Andere dann die Zeit gekommen, sich „nachdenklich auszutoben“: Sie übernimmt und erprobt Ideen der Hippiebewegung von Anarchismus bis Nudismus, vom Pazifismus bis zur freien Liebe.
Anfang der 1970er Jahre erprobt sie auch gleich noch den Kapitalismus, mit Gründung mehrerer Firmen, neben „Kusama Fashions“ auch das nicht jugendfreie Magazin „Kusamas Orgy“. Das gab der Künstlerseele den Rest, Anfang der 1970er beschloss Kusama, in ihre Heimat Japan zurückzukehren.
Zu Hause ist es nicht überall ruhiger
In Japan zog Kusama nicht in die Nähe ihrer Eltern in der wohltemperierten Kleinstadt Matsumoto, sondern ins brodelnde Tokyo, von New York war sie schließlich das Leben in einer Metropole gewohnt.
Tokyo hat allerdings damals wie heute noch rund 1,5 Mio mehr Einwohner als New York, die Metropolregion wird sogar von etwa doppelt so vielen Menschen bewohnt (37,5 zu 20 Mio). Auch die Hauptstadt in der vertrauten Heimat erwies sich deshalb schon bald als unpassende Umgebung für ihr erschöpftes Nervenkostüm, weshalb sich Yayoi Kusama 1977 in das ruhige, geschützte Ambiente einer Nervenklinik vor den Toren der Stadt zurückzog.
Von dort aus geht sie seitdem in einem benachbarten Atelier ihrer täglichen Kunstarbeit nach, offenbar eine gute Konstellation für Künstler, die in reizarmer Umgebung am besten arbeiten können.
Denn sie sollte mit den dort gefertigten/konzipierten Arbeiten noch viel berühmter werden, in der ganzen Welt, hier einige Beispiele:
1998, Wandgemälde im U-Bahnhof Oriente Metro Lissabon, Portugal: bit.ly/2kGA0dU
Wer einmal in die Nähe dieser U-Bahnstation gerät: Unbedingt Zeit einplanen und ansehen, dieser U-Bahnhof wurde anlässlich der Weltausstellung ausgestaltet und ist eine einzige Kunstausstellung.
2012 zeigt Kusama mit „Obliteration Rooms“, dass Auslöschung auch bunter geht, im nachfolgenden Video die Entstehung:
2009 gibt es Silberkugeln in Brasilien: bit.ly/2LSnftc
2015 ist Yayoi Kusama bei leuchtenden Punkten angelangt, „The Souls of Millions of Light Years Away“: n.pr/2kJe6qr
2015 wird sie wegen dieser leuchtenden Punkte in der Presse als berühmtester Künstler der Welt gefeiert: Huffpost.
Yayoi Kusama – Victoria Miro London Exhibiton (Infinity Mirrors)
Ausstellungs-Karriere
Zum berühmtesten Künstler der Welt wird man aber nicht nur durch Arbeit in Abgeschiedenheit, Yayoi Kusama kann auch auf eine atemberaubende Ausstellungs-Historie zurückblicken:
In 187 Solo-Ausstellungen war die Kunst von Yayoi Kusama bisher zu sehen, ab 1995 wurden jedes Jahr 5 bis 15 Einzelausstellungen in verschiedensten Ecken der Welt exklusiv mit den Werken der Künstlerin bestückt.
Gruppenausstellungen waren es fast 700, schon die Liste der Biennalen und Triennalen (wann kommen Quadronale und Quintonale?) flößt Ehrfurcht ein:
- 1993 Biennale di Venezia
- 1998 Taipei Bienniale
- 2000 12th Biennale of Sydney
- 2001 Yokohama International Triennale of Contemporary Art
- 2002 Asia Pacific Triennial of Contemporary Art
- 2003 7e Biennale de Lyon + Echigo-Tsumari Art Triennial 2003
- 2004 Whitney Biennial
- 2005 Biennale di Venezia
- 2006 Singapore Biennale
- 2007 International Incheon Women Artist’s Biennale
- 2008 Liverpool Biennial + Biennale Arts Le Havre
- 2010 Aichi Triennale + 17th Biennale of Sydney
- 2012 Echigo-Tsumari Art Triennale 2012 + ARSENALE = Ukrainian Biennale of Contemporary Art
- 2015 ArtZuid Biennale Amsterdam
- 2016 Setouchi Triennale
- 2017 Socle du Monde Biennale
2006 wurde Yayoi Kusama mit dem Praemium Imperiale (‚Nobelpreis der Künste‘) in der Sparte Malerei ausgezeichnet.
Seit 2009 ist Yayoi Kusama für die Japaner eine Bunka Kōrōsha, eine Person mit besonderen kulturellen Verdiensten, eine von 832 besonderen Personen, die in einem Land mit 126 Mio. Einwohnern quer durch alle Wissenschaften, Künste und Berufe in knapp 70 Jahren für diese Auszeichnung ausgewählt wurden.
Herbst 2017 eröffnete die Künstlerin in Tokyo ihr eigenes Museum. Es wird von einer Stiftung betrieben, die dafür sorgen soll, dass ihr Werk nach ihrem Tod der Menschheit erhalten bleibt, statt von den Geldhaien der Kunstwelt verspeist zu werden. Besser isses, Yayoi Kusama Arbeiten sind momentan gefragt wie nie.
Was noch alles daraus werden könnte
Yayoi Kusama macht Kunst, die international gefällt – laut Yasuaki Ishizaka (ehemaliger Chef Sotheby’s Japan) ist Kusama eine der ersten Japanerinnen oder vielleicht sogar die einzige Japanerin, die eine alle Altersgruppen umfassende große internationale Fangemeinde in Asien, Europa und den USA hat.
Deshalb kann sie auch auf der ganzen Welt neue Trends anregen, z. B. in der deutschen Wohnung oder im deutschen Design.
Polka-Dots in Mengen sind echt krass.
Und sie machen unzweifelhaft gute Laune, vor allem wenn es sich um so anarchistische und innovative Punkte handelt, wie Yayoi Kusama sie einsetzt.
Yayoi Kusama „Obliteration Rooms“ gibt es in vielen, vielen Gestalten, und all diese „beschreibbaren Räume“ waren knallweiß, als die ersten Museumsbesucher eintraten. Nun mag sicher nicht jeder den lustigen „Ballbad-Look“, die Gemeinschaftsarbeit lässt sich aber genau auch mit anderen Design-Ideen verwirklichen und ist überhaupt gut ausbaufähig: Heute stöhnt jeder, wenn das Streichen eines Raumes vor ihm liegt.
Stellen Sie sich eine Firma vor, die Folie, Pinsel, bunte Wandfarbe im Paket mit einer witzig gestalteten Einladung an die Freunde, zur Anstreich-Party, verkauft – oder, wenn nicht genug Freunde zusammenkommen, gleich noch künstlerisch begabte Studenten vermittelt. Unsere Wohnungen würden schöner werden, ob mit einer Wand in bunt, allen Wänden in ganz zart getönten Streifen oder verschiedensten Vögeln als Weiß-in-weiß-Muster an der Decke …
tothotornot.com: Kann man mit Kindern ansehen, aber auch mit Kindern (klein, aus Papier) basteln.
Was Yayoi Kusama mit ihren Punkt-Kosmen eigentlich einforderte bzw. anmahnte: davidzwirnerbooks.com/product/yayoi-kusama-give-me-love, stände unserer Zeit auch gerade wieder gut an …
Eine Auswahl an bemerkenswerter Kunst von Yayoi Kusama – gesammelt auf Pinterest:
(für die Anzeige des Pinterest Boards müssen Sie den Cookies zugestimmt haben)
Viel Vergnügen beim Durchstöbern und Entdecken!
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse