- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Altpaläolithische Kleinkunst
- Kunstgeschichte; Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Augenidol
- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Germanische Kunst; Oseberg-Stil
- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Der tatsächlich betrachtete Zeitraum
- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Der theoretisch betrachtete Zeitraum
Der Oseberg-Stil ist der erste erste von einigen ineinander übergehenden Kunststilen der Wikingerzeit, er ist ab etwa Ende des 8. Jahrhunderts in ganz Skandinavien verbreitet.
Der Name geht auf einen bedeutenden Fundort zurück: In Oseberg am norwegischen Oslo-Fjord wurde 1904 auf einem Landgut ein Schiffsgrab entdeckt, aus dem schwedische und norwegische Archäologen in Gemeinschaftsarbeit das „Oseberg-Schiff“ freilegten.
Zwei Jahre brauchten sie, um den reich bestückten Grabfund aus der Wikingerzeit zu heben (weil sie ihn nicht wirklich gehoben, sondern eher freigepinselt haben); das relativ gut erhaltene Langschiff ist heute im Viking Ship Museum in Oslo, Norwegen zu besichtigen.
Der Oseberg-Stil wurde zur Verzierung von Gebrauchsgegenständen und Schmuckstücken aus Holz und Metall eingesetzt, sein bestimmendes Motiv ist das Greiftier.
Das gibt es zwar nicht, aber sein Auftritt ist seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gut vorbereitet worden. Zu dieser Zeit bekam die im kultisch-religiösen erstarrte Bildkunst der nachchristlichen Germanen kräftige Inspiration durch Einfluss von Außen: Im westlichen Skandinavien war noch der Geist der spätantiken römischen Kunst unterwegs, und die Kelten entwickelten auch langsam eigene Kunstideen (die asiatische Steppenvölker wie Skythen und Sarmaten auch schon gehabt hatten und bei jedem Handelskontakt mit einbrachten).
Aus all dem, ein paar irischen und angelsächsischen Einflüssen und den eigenen Traditionen entwickelten die Germanen nun ihre Tierstile. Eine wilde und bunte Sammlung stilisierter Tierfiguren, „anatomisch weiterentwickelt“, bis sich die Proportionen ganz der ineinander verschlungenen Ornamentik angeglichen hatten.
Tierstil III (oder Vendel-E-Periode, nach einem großen Feld von Bootsgräbern, das im schwedischen Uppland gefunden wurde), vollendete sich gegen Ende des 7. Jahrhunderts. Danach lösten sich die ursprünglichen Tierformen gerade in überbordendem Rankwerk und kurvenreichen Verschlingungen auf, als das wundersame Greiftier die Bühne betrat und die Entwicklung des Osebergstiles einleitete.
Dieses Greiftier war ein tierartiges Wesen von einer derartigen Anpassungsfähigkeit, dass den Kunstwissenschaftler nach eigener Aussage keine nähere Bestimmung gelingen will. Kein Versagen, sondern vermutlich genau der Sinn der Sache bzw. eine logische Folge, wenn man auf der anderen Seite davon ausgeht, dass die Formen des Greiftiers fließend an die jeweiligen Erfordernisse angepasst wurden.
Das ebenso mystische wie praktische „Tier für alle Fälle“ hat sein Vorbild vermutlich in den Löwendarstellungen der karolingischen und angelsächsischen Kunst, die zur damaligen Zeit gerade vom fränkischen Reich aus in Nordeuropa verbreitet wurden. Das nehmen wenigstens die meisten in dieser Richtung tätigen Forscher an, andere Autoren sehen die Ursprünge des Greifs in den damals üblichen (englischen) Buchmalereien, die immer wieder eichhornartige Tiere abbilden.
Damit würde das stolze, mystische Jahrhundertwesen zum Nachfahren der ersten Buch-Illustrationen á la niedlich, schnell, billig (heute meist sexy, schnell, billig) diskreditiert, weil die damaligen Buchmalereien von Hasen und anderen possierlichen Kleintieren nur so wimmelten – das ist vermutlich auch etwas kurz gedacht.
Aber auch wenn die Minderheitsmeinung richtig wäre: Man kann man sich sehr gut vorstellen, wie die Nachfahren der stolzen frühmenschlichen Greiftier-Designer darauf reagieren, dass ihr Wappentier eine Art „Nackter-Busen-Ersatz“ zur Vorlage gehabt haben soll.
Damals wurden schließlich aus jedem mystischen Bild Mythen und weitere Mythen stilisiert, die Wappentiere übernahmen so fast staatstragende Aufgaben: Noch im Wappen von „Sissi“ tragen zwei Greife das Schild; die Herzöge von Pommern bilden die Greifen-Dynastie; 1884 stiftete Großherzog Friedrich Franz III. den mecklenburgischen Greifenorden, eine Auszeichnung in fünf Graden … Keine Chance; und es gibt natürlich noch viele weitere Mythen rund um den sagenhaften „Greif“, die dann etwas lächerlich wirken würden.
Dieser frühe Wikingerstil namens „Oseberg“, der nach einem bronzevergoldeten Zaumzeug-Beschlag mit Greiftier-Motiven aus einem Männergrab bei Broa/Gotland auch Broa-Stil genannt wird, überdauerte bis Mitte des 9. Jahrhunderts und wurde vom Borre-Stil abgelöst.
Danach entwickelten die Wikinger noch einige weitere Stile, den Jellingstil und den Mammenstil, den Ringerike-Stil und den Urnes-Stil, bis um 1.100 n. Chr. auch in diesem Teil der Erde die ersten Hochkulturen zur Blüte kamen.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse