- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Altpaläolithische Kleinkunst
- Kunstgeschichte; Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Augenidol
- Kunst der Vor- und Frühgeschichte: Betrachtungszeitraum
- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Der tatsächlich betrachtete Zeitraum
- Kunst der Ur- und Frühgeschichte: Der theoretisch betrachtete Zeitraum
Wer sich einem Wissensgebiet nähert, will zunächst die Grundlagen wissen: Worum geht es?
Es geht um Kunst, wie auch immer die definiert wird. Kunst der Vor- und Frühgeschichte, also die Kunst, die unsere Vorfahren hinterlassen haben, bevor die eigentliche (schriftliche) Geschichtsschreibung begann.
In welchem Zeitraum hat sich dieses Wissen entwickelt (anders ausgedrückt für alle, die das Gelernte später im Rahmen einer Ausbildung brauchen: Wie viel muss ich wohl lernen)?
Wenn es um die Vor- und Frühgeschichte der Kunst geht, gibt es letztendlich nicht sehr viel „Stoff“: Die Vor- und Frühgeschichte der Kunst beginnt mit der Menschheitsgeschichte; die Menschheitsgeschichte beginnt mit der Steinzeit; die Steinzeit beginnt zu der Zeit, zu der sich die Gattung Homo durch Nutzung von Feuer und Werkzeug von den Affen abgrenzt. Die ersten Homo-Zeugnisse in Mitteleuropa sind 600.000 Jahre alt, weshalb für die Kunstwissenschaft genau diese “paar Jahre” der offizielle Betrachtungszeitraum der Ur- und Frühgeschichte der Kunst sind.
Klingt nach mächtig Materie, über die man als Kenner der Kunst-Urgeschichte informiert sein sollte … ist aber tatsächlich etwas harmloser. Konkret kann die Ur- und Frühgeschichte der Kunst nämlich erst werden, wenn ein Kunstwerk da ist. Die ältesten aus Europa bekannten Höhlenmalereien des anatomisch modernen Menschen sind gerade einmal schlappe 40.000 Jahre alt, das älteste Kunstwerk, das wir kennen, auch nur 43.000 Jahre – macht 43.000 Jahre Kunst der Vor- und Frühgeschichte in Europa.
So war es auf jeden Fall bisher, so wird es auch heute noch in der Schule gelehrt; aber wohl nicht mehr lange: Februar 2018 hat ein internationales Forscherteam vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie aufgedeckt, dass Neandertaler in Europa schon mehr als 20.000 Jahre vor der Ankunft anatomisch moderner Menschen (die vermutlich vor rund 40.000 Jahren Europa erreichten) Höhlenkunst geschaffen haben.
Die Forscher hatten mit Hilfe der Uran-Thorium-Datierung 60 Proben von Karbonat-Krusten auf den Pigmenten der Malereien in drei spanischen Höhlen analysiert: der Cueva de La Pasiega im Nordosten, der Maltravieso-Höhle im Westen und der Höhle von Ardales im Süden.
Diese frühen Gemälde sind rot und manchmal auch schwarz eingefärbt, enthalten Tiergruppen, Punkte und geometrische Zeichen, weiter wurden bei der Gestaltung positive und negative Handabdrücke und Felsritzungen eingesetzt. „Wie eine Bombe“ hat die Analyse des Funds unter den Fachleuten aber aus einem anderen Grund eingeschlagen: Die modernen Methoden ergaben, dass die Malereien mindestens 64.800 Jahre alt sind.
Eine Entdeckung, die die menschliche Kunst ganz plötzlich um gut 20.000 Jahre früher beginnen lassen würde, wenn wir die Neandertaler als Menschen ansehen. Gehören die Neandertaler zu den Menschen? Im weiteren Sinne auf jeden Fall – die Homo neanderthalensis haben sich parallel zum anatomisch modernen Homo sapiens entwickelt und gehören wie er zur Gattung Homo, von der wir (Homo sapiens) inzwischen als einzige übrig sind.
Wenn es um Anerkennung der Höhlenmalereien um menschliche Kunst geht, ist aber viel entscheidender, dass sich Homo neanderthalensis und Homo sapiens zwar parallel aus dem afrikanischen Homo erectus entwickelt haben, aber nicht getrennt: Homo sapiens entwickelte sich in Afrika, Homo neanderthalensis entwickelte sich in Europa, er besiedelte zeitweise große Teile von Süd-, Mittel- und Osteuropa. Und man weiß heute, dass Homo sapiens und Homo neanderthalensis teilweise über zehntausende Jahre eng nebeneinander lebten.
Auch die DNA des Neandertaler-Erbguts wurde inzwischen sequenziert und ergab Hinweise darauf, dass zwischen Neandertaler und Homo sapiens mehrfacher Genfluss stattfand – wenn sexuell noch nicht sehr gehemmte, kompatible Lebewesen so lange „Tür an Tür“ leben, liegt die Annahme, dass sie sich eifrig paarten, auch nicht wirklich fern.
Die Nachkommen dieser „Kontakte mit Ausländern“ fragen auch nicht danach, ob diese hübschen Augen (Brüste, Penisse) zum eigenen Stamm gehören, wir Europäer tragen also alle mehr oder weniger Gene eines Neandertalers in uns.
Man weiß überhaupt schon ziemlich lange Zeit, dass die Stammesgeschichte des Menschen etwas komplizierter ist, als die frühen Anthropologen annahmen – zur Out-of-Africa-Theorie gesellt sich auf jeden Fall viel „Out of Europe“, und es ist zu vermuten, dass sich noch viel mehr frühe Menschen quer durcheinander vermehrten, wo immer sie aufeinandertrafen. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zeigen damit als Erstes, dass die Menschen, die sich da irgendwie abgrenzen wollen, keine Ahnung von Nichts haben.
Wenn Europäer (heute: Menschen, weil auch Europäer sich über die Welt vermehrten) also mehr oder weniger Gene eines Neandertalers in uns tragen, könnten wir auch diese Höhlenmalereien in die menschliche Kunstgeschichte aufnehmen, die damit mindestens 64.800 Jahre alt wird.
Vor allem die Deutschen könnten das tun, das Neandertal liegt immerhin mitten in Nordrhein-Westfalen. Man darf sich vermutlich schon darauf freuen, dass die Nachricht von dieser bahnbrechenden Entdeckung esoterisch angehauchte deutsche Kunstwissenschaftler in Ekstase versetzt: Endlich sei der Grund dafür gefunden worden, dass sich die Kunstgeschichte in Deutschland entwickelt habe …
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse