Deutschland im 17. Jahrhundert und wieder einmal verzögerte Fröhlichkeit
Die Deutschen hatten schon beim Barock einen ziemlichen Spätstart hingelegt: Erste barocke Ausprägungen tauchten um 1575 in Frankreich auf, das mehr am Rand seines Herrschaftsgebiets Schlachten schlug und im Herz des Landes Baukunst feierte.
Italien schlug sich überhaupt nur wenig, ging direkt von der Romanik zum Renaissance-Bau über und konnte auch bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Vorboten des Barocken bewundern. Deutschland hatte wie üblich mehr mit Krieg zu tun, die Auseinandersetzungen des 30-jährigen Krieges (1618 – 1648) fanden hauptsächlich auf dem Boden des Reiches statt, mit zahlreichen „Nebenkriegen“, 1650 waren von rund 17 Millionen Einwohnern nur noch 10 Millionen übrig, viele Schlacht-Regionen brauchten lange, um sich von den Kriegsfolgen zu erholen.
Kaiser Ferdinand III. hatte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Jahrzehnt vor Kriegsende von seinem nicht sehr regierungsgeeigneten (kleinwüchsig, schwach, gutmütig bis gutgläubig auch gegenüber gewissenlosen Beratern, freigiebig bis zum Ende des Geldes) Vater übernommen und war in einer ziemlich angeschlagenen Position (dem Himmel sei heute noch Dank, sonst hätte es sicher keinen Westfälischen Frieden gegeben).
Er guckte sich gerne etwas von dem Können und der bewundernswerten Kunstfertigkeit ab, die Frankreich und Italien inzwischen entwickelt hatten – der prächtige Barock kam gerade recht, um seine Macht zu stärken.
Schmücken mit fremden Federn klappt nicht? Doch, schon immer, der ganze Barock war nur dazu da, um die Machtvollkommenheit von Herrschern und Kirchenfürsten zu betonen; und wer heute stolz „mein Haus – mein Boot – mein Auto“ vorstellt, hat auch meist weder das eine selbst gebaut noch die anderen zusammengeschraubt.
So entstanden erst mit rund einem Jahrhundert Verspätung in Deutschland viele prächtige Barockbauten, die in ihrer gesamten Raumkomposition darauf ausgerichtet waren, das Publikums durch gewaltige Höhen und viel Prunk und Pracht davon zu überzeugen, dass ihre weltlichen und kirchlichen Herrscher unvergleichbar und unvergleichlich mächtig seien.
Dieses Publikum bewunderte eine Weile pflichtschuldig, hatte dann aber irgendwann genug. Die barocke Baukunst verzückte nämlich nicht nur, sondern erinnerte den Betrachter ständig und vehement und in vielen Einzelheiten daran, dass er vergänglich sei und dass er betend bedauern müsse, wie schnell seine Zeit vorüber sein werde.
Bedauern konnte auch damals nützlich sein, beten war den Menschen wichtig; aber sie waren gerade dabei, sich von einem Generationen überschattenden Dauerkrieg zu erholen, und wollten einfach leben, fröhlich leben.
So wurden die Bauten im Spätbarock immer heller und immer fröhlicher verziert, ernsthafte Mahnung wich verspielter Aufforderung, dunkle Steinfluchten wurden durch strahlendes Gold und Pastellfarben ersetzt.
Ein gutes Beispiel ist die Münchner Asamkirche ( St.-Johann-Nepomuk, Sendlinger Straße), von den als Maler, Architekten und Bildhauer tätigen Brüdern Asam nach neuesten französischen Trends errichtet.
Überbordende Vergänglichkeitsfurcht und Düsterkeit verbreiten hier weder die Fassade (siehe Asamkirche in München), noch die innere Ausgestaltung (siehe Innenansicht der Asamkirche), der Gnadenstuhl (siehe Fotografie) oder die von geschwungenen Bögen und rosa Marmorsäulen umrahmten Bildnisse der Erbauer (siehe Fotografie).
Baubeginn war 1733, seit 1726 herrschte in Bayern der kunstinteressierte Karl Albrecht (von Bayern), der 1716 auf Bildungsreise in Italien war, am 5. September 1725 in Frankreich an der Hochzeit König Ludwigs XV. teilnahm und 1742 die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches aufsetzte, die er bis 1745 trug.
Ein Jahr später wurde die Asamkirche geweiht, der Bau begleitet also über ein Jahrzehnt der lebensfrohen kunstgeschichtlichen Spätphase des Barocks, die als Rokoko bekannt wurde und in Deutschland ab ca. 1730 datiert wird.
Rokoko – übermütiger, übertriebener Spät-Barock oder eigener Stil?
Dieser von Frankreich importierte aus dem Spätbarock entwickelte Stil hat seinen Namen Rokoko von einem Ornamentmotiv, der Rocaille (siehe Fotografie der katholischen Pfarr- und Klosterkirche St. Alto und St. Birgitta in Altomünster), eine aus den beiden französischen Wörtern roc = Fels und coquilles = Muscheln zusammengesetzte Felsenmuschel.
Ein im Rokoko überaus beliebtes Dekorationselement, das fast leichtfertig erstmalig Asymmetrie in die Baukunst bringt und damit die festen Vorbilder des Barock frech auflöst.
Wenn auch die Baukunst monumental blieb und nicht jeder bildende Künstler mit Muscheln spielte (weswegen das Rokoko in diesen Bereichen nur bedingt als eigene Stilepoche anerkannt wird), erteilten die verspielten Formen des Rokoko dem Pathos des Barocks eine variantenreiche, entschieden entzückende Absage.
„Nur“ ein Dekorationsstil, aber Deko ist das, was zuerst ins Auge fällt, im Fall Rokoko mit geradezu überbordenden Verzierungen an den Bauten, wie in Schloss Peterhof (siehe Fotografie) und in den Gärten davor, wie in Schloss Schwetzingen (siehe Fotografie).
Mit durchaus neuen Ideen, eines der wichtigen Elemente des Barock, die strenge Symmetrie, wurde vergnügt über Bord geworfen, zugunsten von Ranken und Lianen, Kreiseln und Kringeln, Schwüngen und Rundungen.
Und Verzierungen in Räumen, denen in Kirchen (siehe Fotografie) und denen bei Hof, mitsamt den Möbeln und den kunsthandwerklichen Gegenständen.
Hier leisteten Stuckateure, Schnitzer, Tischler, Sticker usw. usw. teils unglaubliche Feinarbeiten (auch wenn das Ergebnis heute schnell einmal etwas kitschig anmutet. Innenarchitekten und Kunstgewerbeschaffende sehen deshalb das Rokoko ganz entschieden als eigene Epoche, die streng vom Spätbarock abzugrenzen ist.
Insgesamt verliert die Architektur durch all diese Dekorationen viel von ihrem pompösen Charakter, die Schlösser werden kleiner, Hauptgebäude werden häufig von Dienstgebäuden getrennt.
Neben überreich verzierte Repräsentationsräume treten kleinere Privaträume oder Privatschlösschen mit leichtfüssiger Architektur und ebenso eleganten wie verspielten Details (obwohl man sich aus heutiger Sicht trefflich darüber streiten kann, ob ein Privatschlösschen wie dieses wirklich seinen pompösen Charakter verloren hat:
Ein Hauch von Freiheit ist zu spüren …
Mit der neuen Lust an der Dekoration litt auch die ernste Verehrung der Macht, die der höfischen Gesellschaft auch auf einmal gar nicht mehr so wichtig zu sein schien.
Die Herrschenden hatten den Pomp offensichtlich auch satt, sie wollten es einfach schön haben; und elegant, wie ein neues Modewort aus Frankreich vorgab – im Rokoko wurde das gesamte höfische Lebens ein gutes Stück „feiner“ und damit (manchmal) inhaltsreicher.
Noch Ludwig XIV. von Frankreich hatte in exaltiert barocker Art sein Leben als öffentliches Ereignis zelebriert. Mit Ziel und Zweck, er wollte seine Anhänger (den Adel) willfährig am Hof halten und wunschgemäß lenken, er führte seine Gefolgschaft durch Gunstbeweise oder durch Entzug der Gunst.
Also ein ganz ähnliches Modell wie es heute so mancher Facebook-Star abfeiert, der seiner Gefolgschaft Gunstbeweise oder Gunstentzug durch die Umgebung in Aussicht stellt, wenn diese (mit hormonell wirksamen, allergieauslösenden und krebsverdächtigen Inhaltsstoffen versehene) Schönheitsprodukte, (ausbeuterisch produzierte) Designerklamotten, (am Stück nur wenige Sek. betriebsbereite) Maschinen zur Produktion von Gemüsepampe und Utensilien zur Optimierung des eigenen Erscheinungsbildes (augenverstörend neonbuntes Plastik, Produktionskosten gen Null) kaufen/verwenden bzw. versäumen zu kaufen und zu verwenden.
Für solch plumpe Anbiederung und Beherrschung war man sich nun zu fein, im Rokoko zog man sich ins Private zurück, um eine kultivierte Lebensführung, ein feinsinniges Lebensgefühl, zarter Sinnlichkeit und galante Umgangsformen zu pflegen.
Zu dieser Kultur gehörten im intellektuellen Bereich auch schon die ersten Vorboten der Aufklärung, dem epochalen Projekt des herannahenden Jahrhunderts. Thomas Hobbes (1588 – 1679), John Locke (1632 – 1704), Montesquieu (1689 – 1755) und Immanuel Kant (1724 – 1804) hatten ihre entscheidenden Schriften vorgelegt, die sich langsam aber unaufhaltsam verbreiteten.
Ab etwa 1700 war das rationale Denken erlaubt, durfte man sich auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz berufen, nicht nur als Herrscher, sondern auch als Bürger – und als Baukünstler. Deshalb haben die neuen Ideen auch die Baukunst beeinflusst, die Werke der barocken Theater-Künstler wurden als Kirchen-Propaganda oder als Hilfe bei der Selbstdarstellung eines Herrscher abgelehnt, das Rokoko als Kunst der Aufklärung lehnte solche Verherrlichungen ab.
Neben Schnörkeln und Arabesken gibt es durchaus Skurriles zu entdecken, manche scheinbar vornehm verhaltene Mimik sagt bei genauem Hinschauen etwas ganz anderes, manche grotesk übertriebene Gestik kann getrost als pure Ironie gedeutet werden.
… aber Gestalt siegt vor Inhalt
Und überschreitet die Grenzen des Zumutbaren: Aufklärerische Ideen schwingen mit bei dieser neuen Lust am freier gestalteten Zierwerk, die Schnörkeln und Arabesken der Gestaltung übernehmen jedoch die Hauptrolle.
Ausschmückungen, Beiwerk, Dekor, Ornamente, Putz und Stuck, Rankenwerk, Verschnörkelung und was weiß ich noch für anderer Zierrat machen sich im Überfluss breit und begraben jeden Ansatz auf dem Weg zur Freiheit des Geistes unter sich.
Pastellfarben waren auch da, und der Stuck kroch langsam die Wand entlang, vielleicht noch ein wenig aufgelockert durch ein Spiegelscherbenkabinett mit unregelmäßig geformten Spiegelstücken an den Wänden und an der Decke.
An den Wänden sogenannter Spalierzimmer krochen artifizielle Pflanzen durch die Gegend, in Musikzimmern reihten sich üppig verzierte Porträts der am Hof wirkenden Schauspieler und Musikanten, das Schnörkel- und Rankenwerk nimmt nun genauso den Atem wie die schweren und drückenden Formen des Barock – Schwünge und Wölbungen verursachen Schwindel, wenn sie allgegenwärtig sind.
Hier ein paar der Auswüchse, die im täglichem Gebrauch/Anblick wahrscheinlich irgendwann schwer zur ertragen sind:
- Quadratisch, praktisch, gut
- Vor der Zierde noch ’ne Zierde noch ’ne Zierde
- Als Alltagskleidung eine Freude für brutwillige Vögel
- Nachdem die Vögel da waren (Bild 2)
- Unter der Zierde noch ’ne Zierde noch ’ne Zierde
- Auch Pastell kann bunt
Wenn Sie innerlich bereits schreien, haben sie sicher recht, irgendwann wird Verfeinerung zur Plattitüde, graziös zu kitschig, vielsagend zu nichtssagend, pikant zu schal, kapriziös zu banal, witzig zu abgedroschen, kokett zu manieriert und Amüsement zur Qual.
Je mehr die Ideen der Aufklärung diskutiert wurden, desto entschiedener fühlten sich denkende Menschen fehl am Platze in Salons wie diesem:
So ist es nur folgerichtig, dass das Rokoko rechtzeitig vor dem großen Sturm der durch die Aufklärung verursachten Umstürze um 1770 durch den Klassizismus abgelöst wird, mit ästhetischem Leitbild einer puren Formensprache.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse