WTAWT (What the Artist wants to tell) soll eigentlich Spaß machen, ein paar übermütige Kapriolen von Gedanken zu berühmten Kunstwerken der Welt schlagen, um den Leser zu weiteren gedanklichen Kapriolen anzuregen – freie Kunst, freie Kunstbetrachtung und freie Kunstauslegung, für alle Menschen.
Also passt Edvard Munchs „Schrei“ eigentlich überhaupt nicht in diese Kategorie, immerhin zählt der „Schrei“ zusammen mit Picassos Kriegsdrama „Guernica“, Damien Hirsts diamantenbesetztem Totenkopf „For the Love of God“ und anderen bekannten Scheußlichkeiten zu den Werken, die den Betrachter mindestens das Gruseln lehren können.
Aber Gruseln und Tod ist ja ein Quotenrenner, wie ganze Fernsehabende beweisen, an denen nicht anderes zu sehen ist als Krimis oder Reality-Dokus einer Qualität, die noch hoffnungsloser stimmt als Tod und Gruseln.
Und die Kunst-Vorführer schwimmen selbstverständlich voll im Mainstream mit, wie die Ausstellung „Lust am Schrecken – Ausdrucksformen des Grauens“ gerade aktuell bewiesen hat, 70 besonders grauenvolle Gemälde, Graphiken und Skulpturen, die vom 12.12.2014 – 15.03.2015 in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien zu sehen war (ein Teil der Sammlungshighlights kann während der gerade laufenden Umbauten weiter besichtigt werden, falls Ihnen Munchs „Schrei“ nicht reicht).
Gleichzeitig gebührt dem „Schrei“ aber unbedingt ein Platz in dieser Kategorie, weil es sich immerhin um eines der berühmtester Bilder unserer Welt handelt. Ein Mensch der heutigen Zeit kann dem „Schrei“ nicht entgehen, wenn er mit Menschen über „Big-Brother-Niveau“ kommuniziert, er drängt sich von vielen Seiten ins Bild, wie bei den Menschen, die sich hier über WTAWT Gedanken machen:
Freie Kunstbetrachtung
Mia hat sich nach reiflicher Überlegung entschlossen, Freie Kunst zu studieren. Ingenieure und IT-Fachkräfte sollen zur Zeit am meisten gefragt sein und werden wohl auch in Zukunft gute Aussichten haben, ihre Eltern drängten in diese Richtung, sie habe ja immerhin in MINT-Fächern immer gute Noten erreicht.
Leider war ihren vielbeschäftigten Eltern vollkommen entgangen, dass auf ihrem Gymnasium MINT-Fächer bis auf kleine Ausnahmen von Männern unterrichtet wurden, die tatsächlich – nach der Jahrtausendwende – immer noch der Meinung waren, dass Mädchen von Natur aus kein Talent für MINT-Fächer haben. Stimmt zwar nicht, aber zumindest haben es diese Männer geschafft, dass Mia nicht die Leidenschaft für eines dieser beiden zukunftsbestimmenden Fächer entwickeln konnte, die es für die Berufswahl braucht.
Macht nichts, inzwischen hat Mia eine leise Ahnung davon, dass Kunst sich genauso in Ingenieurs-Kunst und IT-Kunst ausdrücken kann wie in Ölfarben und Aquarell, Ton oder Bronze. Außerdem hat sie inzwischen eine leise Ahnung davon, dass sie eher zu breit gefächertem Interesse als zu eng spezialisierter Leidenschaft neigt. Ihr Weg wird wohl sein, mit Spezialisten zusammenzuarbeiten und von einem Fachgebiet jeweils so viel zu lernen, dass sie die Kenntnis eines leidenschaftlichen Spezialisten bewundern kann und von ihr profitieren kann.
Sie hat auch eine Ahnung davon, dass ein richtig genutztes Internet ihr immer dann bei der Kenntniserlangung helfen kann, wenn ein bestimmtes Fachgebiet in der Schule eher „Interesse abgewöhnend“ behandelt wurde.
Nach Abkehr von der Idee „Ingenieur oder IT“ schlugen die Eltern BWL und Jura vor, für die politisch interessierte Mia zur Zeit unmögliche, „unmoralische“ Studienfächer. Mia wählte die Kunst, weil sie nach gründlicher Info über viele Studiengänge nicht viele andere Studien gefunden hatte, die ein freies Studium mit Erprobung der eigenen Talente ermöglichte, deshalb Freie Kunst, „frei“ auch im Sinne des Mottos: „Wenn ich sowieso damit rechnen muss, einen guten Teil meiner beruflichen Tätigkeit in unbezahlten Praktika oder schlecht bezahlten Teilzeit-Jobs zu verbringen, kann ich auch gleich studieren, was mir richtig Spaß bringt“. Aber immerhin, Freie Kunst macht auch Tätigkeiten im Handwerk oder in der Lehre möglich, und diese Berufe steigen gerade wieder im Ansehen.
Mia gefällt ihr Studium, aber gerade hat sie sich im Seminar „Freie Kunstbetrachtung“ einen dicken Brocken aufhalsen lassen, eine Betrachtung eines der berühmtesten Gemälde der Welt, Edvard Munchs „Schrei“, mit ausdrücklicher Anweisung, nur Fakten wiedergebende Quellen zu nutzen, die Arbeit mit bewertender und beschreibender Sekundärliteratur ist untersagt.
Zusammen mit den Kommilitonen Leon, Finn und Noah, sie unterteilten zunächst die Betrachtung, in „reine Wahrnehmung“ (Noah) und „reine Empfindung“ (Mia), „Wahrnehmung vor dem Hintergrund der ermittelten Fakten“ (Finn) und „Empfindung vor dem Hintergrund der ermittelten Fakten“ (Leon).
Noah und Mia haben in einer ersten Runde die Vorlagen erarbeitet, Finn und Leon haben Fakten erarbeitet. Im ersten Treffen werden Fakten, Empfindungen und Wahrnehmungen ausgetauscht, Noah und Mia werden nun die reine Wahrnehmung und Empfindung um die aus den Fakten gewonnen Eindrücke separat ergänzen, Finn und Leon werden ausgehend von ihrer Hintergrund-Arbeit ihre Wahrnehmung und Empfindung niederlegen, sodass Fakten, Wahrnehmungen und Empfindungen vierfach gespiegelt werden, nach erneutem Austausch wird in abschließender Diskussion alles zusammengefügt.
Noahs war in der „reinen Wahrnehmung“ zunächst ziemlich irritiert, weil er ganz verschiedene „Schreie“ gefunden hat. Auf allen schreit eine mehr oder weniger akzentuierte Gestalt, aber beim „Schrei 1“ gehen die zwei Menschen im Hintergrund auf den Schreienden zu, in „Schrei 2“ schauen sie ins Wasser, in „Schrei 3“ agieren die beiden Menschen im Hintergrund unterschiedlich, in „Schrei 4“ entfernen sich die beiden Menschen vom Schreienden. Dann findet er noch einen „Schrei“, eine Lithographie, die sieht wieder ein wenig anders aus, nur die zwei Menschen im Hintergrund entfernen sich auch vom Schreienden.
Mia hat das natürlich auch bemerkt, konnte den verschiedenen „Schreien“ in Bezug auf Empfindung jedoch keine großen Unterschiede abgewinnen.
Eher der Tatsache, dass Edvard Munchs „Schrei“ nicht ein „Schrei“ ist, sondern dass er gleich vier davon gemalt hat. Da Mia getreu der Aufgabe zunächst die reinen Empfindungen sammeln wollte, weiß sie noch nicht, das Edvard Munchs Gedanken geschlagene 17 Jahre um das Malen von Schreien kreisten … Aber 4 x „Schrei“ reicht ihr auch so, dieser Maler würde auch ohne irgendeine Kenntnis seiner Lebensumstände (die Mia natürlich bereits hat) Niemanden vermuten lassen, dass er die freundliche Seite dieser Welt kennt.
Sicher gibt es für alle Menschen, die einen genauen Blick auf die Welt wagen, damals wie heute genug zu schreien – aber der normale Mensch wird irgendwann wieder einmal fröhlich und kümmert sich um die angenehmeren Dinge im Leben.
Mia schreibt eine lange Abfolge von emotionalen Stichworten rund um Krankheit, Tod, Neigung zur Schwindsucht, Übernervosität, wahnsinnige pietistische Frömmigkeit, Schuldgefühle, Todesgedanken, Halluzinationen, Melancholie, Eifersucht, unglückliche Liebe, rheumatisches Fieber, Krise, Dreiecksverhältnis, schlechte Kritik, Schock, Verfolgung, Nervenkrise, immer schlimmer, Alkoholismus, Industrialisierung, moralische Entartung, Gewalt, gemalte Delirien, Verbrecher, Schande, verschmäht, Außenseiter, politisch radikal, gefährlich, Trauer, Isolierung, Einsamkeit, Verlorenheit, depressive Stimmung, Schwermut, Spannung zwischen Illusion und Wirklichkeit, Problembereich, Drohendes, Beklemmendes, innerer Aufruhr, geheimnisvolle Gestalten, Liebeskummer, Blut, Zungen aus Feuer, Totenkopf, Lebensangst, Depression, Angstgefühl, Maskengesichter, katzen- und vampirartige Eigenschaften, Skelettarm, Verlust, Sehnsucht, Furcht, riesige höhlenartige Augen, Fremdkörper, unergründlich, unberechenbar, Leid, Blutblume, Eingeschlossensein, Bedrohung, Verwesung, Qualen, Schmerz, Sünde, dunkle Bedrohung, Verzweiflung, Mörderin, steif, erstarrt, gierig, enttäuscht, verhärmt, Leidensweg Christi, Hohn, dämonisch, verzerrtes Gesicht, geschlechtslos, Entfernung, Verfolgungsangst, Hölle, emotionale Störung, Schicksalsschläge, düster, Schrei nach Hilfe, dunkles Seelenleben, alles nur aus einem Aufsatz über den „Symbolismus“ im Werk Munchs und – hat keine Lust mehr.
Sie erstellt noch eine Liste aller bekannten Phobien von der hier sehr passenden Achluophobie, Angst vor der Dunkelheit, über die Nomophobie (zur Aufheiterung, das ist die Angst, ohne Mobiltelefonkontakt zu sein) bis zur Zoophobie, der Angst vor Tieren; danach muss sie erst einmal eine Phase mit durchweg fröhlichen bis albernen Empfindungen einschieben, um nicht selbst den Rest ihres Lebens missgelaunt zu werden.
Finn legt die Fakten vor und ordnet damit zunächst die „Schreie“ (die Noah aus nicht bekannten Gründen in die richtige Reihenfolge gebracht hat, was alle für ein gutes Zeichen für das Gelingen der Kunstbetrachtung halten):
1. „Der Schrei“, Edvard Munch, 1893, Pastell auf Holz, 74 × 56 cm, hängt heute im Munch-Museum Oslo. Bei diesem Schrei sind die Augen nur angedeutet, der Mund ist leicht nach links geneigt, die zwei Menschen im Hintergrund gehen auf den Schreienden zu.
2. „Der Schrei“, Edvard Munch, 1893, Tempera auf Pappe, 91 × 73,5 cm, hängt heute in der Norwegischen Nationalgalerie in Oslo. Bei diesem Schrei sind die Augen rund und leer, aber mit Blick, der Mund ist schräg nach links geneigt, die zwei Menschen im Hintergrund schauen nach rechts auf das Wasser.
3. „Der Schrei“, Edvard Munch, 1895, Pastell auf Holz, 79 × 59 cm, ist heute in Privatbesitz. Bei diesem Schrei zeigen die Augen einen deutlichen Blick, der Mund ist leicht nach links geneigt, die zwei Menschen im Hintergrund vollführen getrennte Aktionen, einer lässt den Blick schweifen, einer ist über dem Geländer zusammengebrochen.
Diese Pastellversion wurde wahrscheinlich 1895 von Arthur von Franquet in Auftrag gegeben, dem eifrig teure Kunst sammelnden und Munch verehrenden Großneffen eines Braunschweiger Zichorienkaffee-Fabrikanten. Schon damals konnte man offensichtlich mit einem billigen Ersatz für ein begehrtes Lebensmittel stinkreich werden, wie heute z. B. mit „Milch-„Schnitten anstatt einer anständigen Stulle für die Pause.
Diese Pastellversion wurde am 2. Mai 2012 von Petter Olsen (Reederei Fred. Olsen & Co.) über Sotheby’s New York für die interessante Summe von 119.922.500 US-Dollar versteigert, das freudlose Bild wurde damit zum sechstteuersten Gemälde der Welt.
Der Käufer Leon Black – Apollo Global Management, Investment- und Beteiligungen – scheint jedoch zu den Kunstsammlern mit Gefühl für Verantwortung für die Gesellschaft zu gehören, er zeigte das Bild schon vom 24. Oktober 2012 bis zum 29. April 2013 im Museum of Modern Art in New York City wieder der Öffentlichkeit.
4. „Der Schrei“, Edvard Munch, 1910, Tempera auf Pappe, 83 × 66 cm, hängt heute im Munch-Museum Oslo. Bei diesem Schrei sind die Augen groß und leer, der Mund ist klein und leicht nach links geneigt, die zwei Menschen im Hintergrund entfernen sich vom Schreienden.
Das sind die vier bekannten Variationen des Schreis in Gemäldeform, nur vier Bilder aus Munchs sogenanntem Lebensfries, einer ganzen Serie von Bildern mit den Themen Angst, Liebe und Tod.
Der Lithographie-Schrei ist wieder von 1895 und ziemlich klein (49,4 × 37,3 cm), er hängt heute in der Gundersen Collection Oslo. Bei diesem Schrei sind die Augen weit aufgerissen mit deutlichem Blick, der Mund schmal und gerade und weit aufgerissen, und die zwei Menschen im Hintergrund entfernen sich vom Schreienden.
Es gibt aber mehrere Lithographien vom Schrei, je eine Lithographie der Pastellversion von 1895 hängen z. B. in der Staatsgalerie Stuttgart und in der Hamburger Kunsthalle.
Die „Serie“ oder das „Fries“ umfasst insgesamt 22 Werke in vier Abschnitten:
- Keimen der Liebe: Sternennacht, Rot und Weiß, Auge in Auge, Tanz am Strand, Der Kuss, Madonna
- Blühen und Vergehen der Liebe: Asche, Vampir, Tanz des Lebens, Eifersucht, Die Frau in drei Stadien, Melancholie
- Lebensangst: Angst, Abend auf der Karl Johans gate, Roter Wein, Golgatha, Der Schrei
- Tod: Am Sterbebett, Tod im Krankenzimmer, Leichengeruch, Stoffwechsel, Das Kind und der Tod
Schon die Titel deuten es an: Edvard Munch gehört zu den Vorfahren, bei denen man froh sein kann, dass sie Vorfahren und keine Zeitgenossen sind. Nach Sammlung dieser ersten Fakten hat nun auch Finn genug, die Kommilitonen beschließen eine einwöchige Arbeitspause, mit richtig viel Party.
Trauerarbeit
Christine hat ihren Mann verloren, den Mann, den sie nach gut 40 Jahren Suche nach einem wirklichen Partner kennen- und liebengelernt hatte und mit dem sie gut ein Jahrzehnt zusammen gelebt und gearbeitet hatte. Auf engem Raum, mit recht wenig getrennt verbrachter Zeit, nicht ohne Konflikte, aber ohne Probleme.
Seitdem trauert sie, in einer verzweifelten, wütenden und zugleich verlorenen Form der Trauer, die sich so gar nicht an die vier vorgeschriebenen Phasen der Trauerbewältigung hält. Weil diese Trauer zu lange dauere, drängen wohlmeinende Freunde sie, doch eine Therapie zu beginnen, auch Trauerbewältigung brauche mitunter Hilfe. Dem gibt sie irgendwann nach, schon um ihre Ruhe zu haben, wohlmeinende Freunde können sehr hartnäckig sein, wenn sie meinen, den richtigen Weg entdeckt zu haben.
Die erste Therapeutin hält eine Art Unterricht ab. Sie lehrt Christine die vier Phasen der Trauerbewältigung – die diese schon kennt -, sehr ausführlich und ohne sich unterbrechen zu lassen. In Phase 1 sei Leugnen die ganz typische erste Reaktion, auf die erschütternde Nachricht:
Das kann nicht sein, es ist bestimmt ein Irrtum“.
Wir wollen nicht wahrhaben, dass wirklich das Unvermeidliche eingetreten ist. Der erste Schock versetzt uns in eine Art von Trance. Wir schützen uns damit selbst. Und es dauert eine Weile bis wir erkennen, dass die Realität stärker ist, als das Leugnen.
Dass Christine wegen ihrer beruflichen Beschäftigung mit Realitätsbezug nicht zum Leugnen in der Lage ist – obwohl sie es vorziehen würde, eine Zeitlang ganz bewusst und aktiv zu verdrängen, was ihr anders geübtes und damit auch tatsächlich anders aufgebautes Gehirn leider nicht zulässt -, interessiert sie nicht.
Christine steht beruflich mit Barbara Fredrickson, Psychologin am Positive Emotions and Psychophysiology Laboratory der University of North Carolina at Chapel Hill, in Kontakt.
Sie hat über deren Arbeit rund um „Discovering the best in people“ (ein ganzes Feld von Experimenten und Studien rund um positive Emotionen und optimistische Grundeinstellungen) schon vor jedem Gedanken an irgendwelche Trauerarbeit einige Artikel geschrieben und seitdem – selbstverständlich – nicht damit aufgehört.
Das interessiert die Therapeutin auch nicht, mehr als ein spöttisches „Ach, die deutschen Psychologin reichen wohl nicht?“ ist von ihr nicht zu hören. Zuhören fällt unter solchen Bedingungen Christine schwer, die wahre Flut von Gefühlen (Phase 2), hat sie ebenso hinter sich wie die Akzeptanz, sie braucht nur etwas Hilfe bei der Neuorientierung (Phase 3), ein wenig Unterstützung beim Empfinden von Freude und Dämpfen des manchmal überbordenden Schmerzes.
Die zweite Therapeutin setzt auf Sport und will nicht akzeptieren, dass der seelische Schmerz bei Christine psychosomatische Symptome hervorgerufen hat, die dazu führen, dass ihr Körper mehr als ausgedehnte Spaziergänge im Moment nicht verträgt. Auf Dauer helfe nur richtiges Laufen, das könne Christine sich im Film „Lauf gegen die Trauer“ selbst ansehen.
Im Film bricht ein einst legendärer Marathonläufer im Alter und in Ermangelung anderer Ideen in hektisches Training aus, Ziel Berlin-Marathon, und als seine Frau stirbt, auch Ziel, seiner Trauer davonzurennen. Dass Christine Wettbewerb zwischen Individuen für eine in der Jugend nützliche Betätigung, aber in reifem Alter weder körperlich, noch geistig oder gesellschaftlich nutzbringend hält, interessiert sie nicht.
Dass Christine sich nicht in ihrer Trauer suhlt, sondern ganz viele neue Projekte angefangen hat, bloß eben nicht Joggen, interessiert sie auch nicht. Sie ist die Fachfrau, und Laufen hilft, und andere Ideen hat sie so lange nicht, bis Christine auf ihre Betreuung dankend verzichtet.
Die dritte Therapeutin spricht mit ihr, lange und interessiert, sie ist höchst interessiert an ihrer Arbeit und regt Christine zu allem Möglichen an. Manchmal geht es nur um kleine Gedankenbewegungen, einen Schritt in die richtige Richtung, den Christine möglicherweise schon selbst angedacht hatte.
Mit Rückhalt durch einen Menschen, der andere Menschen ernst nimmt, klappt eine solche Gedankenbewegung dann, und die Therapeutin hat auch noch Ideen zu ganz anderen Schritten. Christine plant schon länger, endlich wieder zu malen, richtig konzentriert entspannen an der Staffelei, bisher ist es aber bei kleinen Farbstudien geblieben, normaler Ringblock und Wachsmalstifte, schwarz-rote Kritzeleien bauen auch einiges ab. Als die Therapeutin das hört, macht sie Christine einen „an Munch-Ehrfurcht mangelnden“ Vorschlag:
Sie solle sich den vermaledeiten „Schrei“ von Edvard Munch vornehmen und am Nachmalen dieses Bildes selbst nachvollziehen, wie positives Denken das Gehirn ganz allmählich umformt, neue Nervenstränge, nach und nach „freundlichere Seilschaften“, raus aus der Trauer.
Dass sich das menschliche Gehirn durch solche Übungen verändern lasse, sei heute wissenschaftlich bewiesen, und den „Schrei“ von duster bedrohlich bis hin zu sanfter Landschaft mit wie auch immer gut gestimmten Menschen mehrfach malend zu verändern, sei sicher eine unheimlich spannende Aufgabe.
Christine hat sich bereits recht viel mit Munch beschäftigt und erwidert, dass sie mit Vergnügen daran gehen werde, diesem armen Menschen sozusagen posthum mehr Lebensglück zu schenken.
Während sie dem Vorschlag der Therapeutin folgt und bereits nach einigen Bildern in einer Fülle freundlicher Farben schwelgt, liest sie nebenbei noch mehr über Munch, sie sucht (und findet, ein wenig) das Positive:
Der erste deutsche Titel, den Munch seinem Werk selbst gab, war „Schrei der Natur“, auf eine graphische Fassung schrieb er sogar auf Deutsch: „Ich fühlte das große Geschrei, wie es durch die Natur geht.“
Daraus lässt sich viel machen, natürlich ist die Natur ein einziges Geschrei, aber eben auch ein vielfältiges und herrliches Geschrei – Christine fängt an, für die nächste Version Blumenranken oder -töpfe auf der Brücke zu planen.
Außerdem findet sie noch zwei wirklich fröhliche Munch-Bilder: „Die Seine bei Saint-Cloud“ von 1890, heute Munch-Museum Oslo, und „Frühling auf der Karl Johans gate“ von 1890, heute Bildergalerie Bergen – na also, es geht doch!
Das Referat
Annika hat Kunst-Leistungskurs genommen, weil sie lange begriffen hat, dass sie mit den Feinheiten der Biologie (zweiter Leistungskurs) momentan genug zu tun hat, und der NC für ihr Zielfach Bionik zur Zeit ihres Abis einen weit über 2,0 liegenden Abi-Quotienten erfordern könnte.
Physik (mit technischen Projekten) und Chemie als drittes und viertes Prüfungsfach laufen locker, Bio immer besser, seit sie in Wartezeiten nicht mehr doofe Statusmeldungen postet, sondern Mnemotechniken übt.
Aber ausgerechnet der Kunst-Leistungskurs schiebt sich gerade als echter Blocker ins Bild, mit dem Referat-Thema ‚Edvard Munchs „Schrei“ – eine Bildbeschreibung mit Hintergrund‘. Als sie nach Hause kommt, ist sie wütend: „Ich soll ausgerechnet das Bild beschreiben, das wohl das Schrecklichste der Welt ist, und das Hässlichste noch dazu!“ „Du wolltest mit Kunst-Leistungskurs abkürzen“, erwidert ihre Mutter und wendet sich ungerührt ab.
Annika setzt sich ran, sie beschäftigt sich zuerst mit dem Bild, Bildbeschreibung: Im Zentrum wird frontal eine Person mit weit geöffnetem Mund gezeigt, die die Arme an den Kopf gelegt hat, mit leeren Augen in die Gegend starrt – und schreit. Und so weiter und so weiter, steht auf Brücke, weiter hinten zwei Gestalten, ein paar Schiffe, Wasser und Himmel in wild bewegten Formen und Farben … Ausdruck, Gestaltungsmittel, Linienführung, Wertung: grotesk, visualisierte innere Hölle.
Annika beschäftigt sich auch mit Edvard Munchs Leben: 12.12.1863 in Norwegen geboren und am 23.1.1944 81-jährig gestorben. In Oslo aufgewachsen, bei religiös fanatischem Vater, der trotzdem eine zwanzig Jahre Jüngere heiratete, die dann auch noch bald an Tuberkulose starb.
Munch war fünf und hatte fünf Geschwister, die ältere Schwester starb an Schwindsucht, die jüngere Schwester hatte Depressionen, der einzige Bruder, der heiratete, starb kurz nach der Hochzeit, Munch selbst war manisch-depressiv (kein Wunder bei der Familiengeschichte) und hatte zu allem Überfluss von seiner jung verstorbenen Mutter auch noch die Neigung zur Schwindsucht geerbt.
Munch lernt an der königlichen Schule für Kunst und Gestaltung in Kristiania Malerei, beginnt 1885 (mit 22 Jahren) seine erste Liebesbeziehung, 1886 wird sein erstes Bild seiner selbst erfundenen seiner „Kunst der Erinnerung“, „Das kranke Kind“, auf der Herbstausstellung in Kristiania ein absoluter Misserfolg, 1887 trennt sich seine Freundin wegen eines anderen Mannes von ihm. Folge Todesgedanken, Halluzinationen und Melancholie und eine Reihe von Bildern mit der absurden Ausstrahlung des „Schreis“. Wäre die Dame bloß bei ihm geblieben!
Annika beschäftigt sich nun mit der Entstehung des „Schreis“ und seiner Geschichte: Es gibt viele Legenden zur Entstehung des Schreis, die im Laufe der Entstehungsjahre der vier Gemälde von Hell-Orange zu Dunkel-Rot-Orange wechselnde Hintergrundfarbe gehe auf den Ausbruch des Krakatau (Vulkan in Indonesien) 1883 zurück, das Schrei-Motiv wurde durch Inka-Mumien einer von Munch 1889 besuchten Ausstellung in Paris angeregt, oder durch den Selbstmord des norwegischen Malers Kalle Løchen.
Die ersten drei Versionen soll Munch während seines Berlin-Aufenthaltes von 1892 bis 1896 vollendet haben, aber so schrecklich findet Annika Berlin nicht, daran wird es kaum liegen; Genaues weiß sowieso niemand, Munch äußerte sich wohl nur wenig zu seinen Schrei-Motiven.
Zumindest sind die Schreie schon ziemlich lange ziemlich begehrt, 1994 geschah der erste Diebstahl, am 12. Februar verschwand die Temperaversion von 1893 aus der norwegischen Nationalgalerie, drei Monate später fand (leider, nach Annikas Ansicht) die Polizei das Bild, die Täter wurden (anstatt Belobigung) mehrere Jahre eingesperrt.
Der zweite Diebstahl folgte am 22. August 2004, ein bewaffneter Raubüberfall maskierter Täter auf das Munch-Museum in Oslo, die Temperaversion von 1910 und eine an Christiane F. im bedauerlichsten Zustand erinnernde „Madonna“ von Munch gingen mit. Leider wurden sechs der sieben Täter 2006 wegen eines Überfalls auf ein Gelddepot in Stavanger gefasst, Schreie und kaputte Madonnen ließen sich damals offensichtlich noch nicht so gut zu Geld machen wie nur ein paar Jahre später über Sotheby’s.
Aber immerhin konnte einer der Kriminellen die Bilder vermutlich im Tausch gegen Straferlass nutzbar machen, sie wurden am 31. August 2006 von der norwegischen Polizei sichergestellt und ab dem 27. September 2006 noch in ramponiertem Zustand ein paar Tage der wartenden Öffentlichkeit präsentiert, erstaunlicherweise hatten 5500 Besucher ihre Munch-Bilder vermisst.
Als Annika ungefähr soweit gekommen und mit ganz, ganz wenig Freude auf die vor ihr liegende Arbeit des Ausformulierens und Ergänzens denkt, stößt sie in Munchs Tagebuch auf einen Eintrag „Nizza, 22. Januar 1892“, mit dem Prosagedicht „Schrei“:
„Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinab. Die Sonne ging unter – der Himmel wurde blutrot, und ich empfand einen Hauch von Wehmut. Ich stand still, todmüde – über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lagen Blut und Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter – ich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte den großen Schrei in der Natur … Ich malte dieses Bild – malte die Wolken wie wirkliches Blut – die Farben schrien.“
Annika lacht und überlegt: Ob sie die Chuzpe hat, das ganze Referat zu drehen und zu behaupten, dass nur die Farben des Himmels im schönen Nizza schrien? Sie lässt das erst einmal offen, die Beschäftigung mit Person und Bildern des Malers Edvard Munchs haben ihr zunächst einmal schon ziemlich nachhaltig die Laune versemmelt.
So schließt sie die Vorarbeiten zum Referat vorläufig, mit dem Hinweis darauf, dass gut verständlich sei, warum die Maske des Killers „Ghostface“ im Film Scream und die Silences aus der Fernsehserie „Doctor Who“ Munchs schreiender Person nachempfunden wurden.
Und abschließend noch ein Beitrag der Klugscheisserin zum 150. Geburtstag des Künstlers:
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse