Wie in dem Beitrag zu den Anfängen der deutschen Literatur ausgeführt wurde, entstanden die ersten schriftlichen Überlieferungen der deutschen Literatur im 8. Jahrhundert, und jede wirklich begeisterte Leseratte möchte nun gerne wissen, welche Erkenntnisse genau denn dem ersten Buch der deutschen Literatur zu entnehmen sind.
Doch musste in diesem Beitrag leider ebenfalls dargestellt werden, dass all das, was den Freizeitleser interessiert, also die Liebesgeschichten, Horrorgeschichten, Märchen und überhaupt spannende Geschichten jeder Art aus den Frühzeiten der deutschen Sprachentstehung nicht schriftlich übermittelt, sondern nur mündlich weitergegebenen wurden.
Als dann im 8. Jahrhundert die ersten Aufzeichnungen in einem Idiom anfingen, das man als deutsche Sprache bezeichnen kann, dachte man erst einmal an Wichtigeres als an Liebe und an Phantasie. Das erste Buch, das uns in einer Sprache vorliegt, die dem Begriff Deutsch unterfällt, verzückt deshalb nicht unbedingt mit dem spannendsten Inhalt der Welt. Aber dafür ist das ganze Drumherum spannend genug:
Das erste deutsche Buch ist ein lateinisch-althochdeutsches Glossar, das üblicherweise mit dem Namen “Abrogans” bezeichnet wird. Manchmal ist auch vom Keronischen Wörterbuch die Rede, weil der Benediktinermönch Kero als Verfasser gilt. Das ist aber schon wieder nicht ganz sicher, auch der Südtiroler Geistliche Arbeo von Freising könnte der Verfasser sein.
Fast einig ist man sich auf jeden Fall darüber, dass der Abrogans im altbairischen Bistum Freising entstand, das eben diesem Arbeo unterstand, der dort von 764 bis 783 Bischof war.
Einig ist man sich darüber, dass dieses Wörterbuch in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt wurde, indem lateinische Stichwörter und deren lateinische Wiedergaben mit althochdeutschen Entsprechungen glossiert wurden, nur die genauen Zeitangaben schwanken ziemlich, zwischen 750 und 790.
Auf jeden Fall ist der Abrogans, oder der Codex Abrogans, erstaunlich umfangreich, er enthält etwa 3.670 althochdeutsche Wörter und über 14.600 Belege für diese Wörter. Wenn der Abrogans mit seinen vielen Einträgen als wertvolle Quelle gelobt wird, um die älteste oberdeutsche Sprache zu erforschen, hat dieses Lob jedoch durchaus seine Tücken: Dieses lateinisch-althochdeutsche Synonymenwörterbuch war nämlich offensichtlich eines der ersten seiner Art, es baut nach Meinung der Wissenschaftler auf einem rein lateinischen Synonymenwörterbuch auf.
Dieser lateinische Abrogans, die Vorlage, war also ein lateinisch-lateinisches Glossar, das wahrscheinlich in Italien aus vielen älteren, spätantiken bis frühmittelalterlichen Glossaren zusammengestellt worden war.
Auf diese Art entstand also ein Wörterbuch, in dem seltene Ausdrücke, teilweise aus dem biblischen Latein, durch gängigere Wörter des volkstümlich verwendeten Lateins erläutert wurden.
Eine gewaltige Fehlerquelle, was sofort klar wird, wenn Sie sich einmal überlegen, welche Wörter heute bei wem als “gängig” gelten, auch in der Mitte des 8. Jahrhunderts führte dieses Vorgehen höchstwahrscheinlich zu sehr vielen fehlerhaften Übersetzungen, schon der Gebrauch einer anderen Wortart verursacht hier schnell eine Inkorrektheit.
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass der Abrogans bis heute von den Sprachwissenschaftlern nicht vollständig ausgewertet werden konnte, es gibt rund 700 Wörter, die in keinem anderen althochdeutschen Text auftauchen und deshalb bis heute rätselhaft blieben.
Von dem wirklich echten “ersten deutschen Buch” ist leider kein einziges Exemplar erhalten geblieben, die Wissenschaftler können sich nur an drei jüngere alemannische Abschriften der bairischen Vorlage halten. Die besterhaltene dieser Handschriften ist eine leicht verstümmelte Abschrift des Archetypus, die heute in der Stiftsbibliothek des ehemaligen Benediktinerstifts St. Gallen zu besichtigen ist.
Der “Name des Ganzen” lässt manchen lächeln und “typisch deutsch” murmeln : Das Werk wurde nach dem ersten Eintrag benannt, und dieser erste Eintrag “abrogans” (althochdeutsch “dheomodi”) heißt nichts anderes als bescheiden bzw. demütig.
Sind Ihnen die Umstände rund um unser erstes deutsches Buch nicht spannend genug, um Sie mit dem prosaischen Inhalt zu versöhnen?
Wenn es Ihnen um Wissen rund um die Entstehung von Büchern überhaupt geht, reicht Ihnen dieser Einblick in die Anfänge der Literatur wahrscheinlich, in Bezug auf die Entstehung von Büchern könnte Sie z. B. das “Buch vom Buch” von Marion Janzin und Joachim Güntner interessieren, in diesem Werk könnten Sie sich über 5000 Jahre Buchgeschichte informieren, wenn Sie ein Exemplar dieses 1995 erschienen Buches z. B. auf Kunstplaza ergattern können.
Vielleicht haben Sie aber auch mehr Freude daran, sich mit spannenderen Beweisen unserer literarischen Anfänge zu beschäftigen? Dann interessieren Sie sich vielleicht für die ebenfalls um 750 entstandenen Merseburger Zaubersprüche, von denen Sie jedoch sicher keine Original-Abschrift in die Hand bekommen werden.Bleibt nur die Literatur drum herum, wobei Sie sich zur Gewinnung neuer Erkenntnisse nicht unbedingt an rein sprachwissenschaftliche Werke halten müssen.
Sie könnten z. B. nach einem Exemplar des Buches “Heilen mit Seelencodes” von Roswitha Stark suchen und dort nicht nur den Inhalt der Merseburger Zaubersprüche finden, sondern auch alles über die geheimnisvolle Bedeutung der jedem Kind bekannten Zauberwörter Abrakadabra und Hokuspokus und Simsalabim.
Vielleicht können Sie aus einer solchen Annäherung an die älteste Literatur wertvollen therapeutischen Gewinn ziehen, vielleicht haben Sie bei der Erkundung alter Symbole und Schlüsselwörter einfach nur eine Menge Freude.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse