Gleich am Anfang: Literatur in der Krise
Wir befinden uns so etwa im Jahr 1000, und die Deutschen waren gerade einmal so ein zwei Generationen Deutsche (aus dem Jahr 920 ist zum ersten Mal der Name „Regnum teutonicum“ überliefert) als sie sich schon aufmachten, die eher unkünstlerischen Anfänge der deutschen Schriftsprache (Übersetzungen aus dem Lateinischen, meist Gesetze oder Verhaltensregeln, erste Geschichtsschreibung) mit etwas mehr Esprit zu garnieren, die ersten Sprachkunstwerke entstanden.
Ein paar Ritter waren vorher schon innovativ und vor allem betucht genug, um sich die Geheimnisse des schriftlichen Ausdrucks anzueignen, und sie hatten dieses Wissen auch sofort auch dazu eingesetzt, um die eigenen Heldentaten schriftlich niederzulegen oder ihren Holden von ihrer Liebe zu schreiben, aber das waren wirklich noch sehr zögerliche und rare Anfänge.
Außerdem gab es in der Mitte des 9. Jahrhunderts dann gleich einmal die erste deutsche Literaturkrise, weil das Frankenreich unter den Nachkommen Karls des Großen zerbrach und eine neue Dynastie (die Ottonen) sich die Regierung erstreiten musste. In diesen Wirren ging erst einmal alles unter, was sich bisher als zartes Pflänzchen erster deutscher Literatur in Klöstern und an Herrscherhöfen geregt hatte, die Werke eines einsamen Literatur-Stars, Mönch Notker Labeo von St. Gallen, verblassten neben einer Flut frommer Erbauungsliteratur.
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Aber immerhin: Wir wurden jetzt die Deutschen, der letzte im „Regnum teutonicum“ herrschende Ottone Heinrich II (973 – 978) wurde 1014 auch erster Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation, dieser Zusatz wurde aber erst im späten 15. Jahrhundert gebräuchlich), das deutsche Herrschaftsgebiet war umrissen.
Heinrich hatte ein gut geordnetes Reich hinterlassen, weil seine Ehe mit Kaiserin Kunigunde jedoch kinderlos blieb, endete mit seinem Tod die Herrschaftszeit der Ottonen. Ein neuer Herrscher musste her, und der wurde in einem solchen Fall durch Verhandlungen der Großen des Reiches bestimmt, der Salier Konrad II. konnte sich durchsetzen.
Er blieb bis 1039 römisch-deutscher Kaiser und hatte nicht viel zu bieten, was das damalige literarische Leben nachdrücklich vorangebracht hätte. Denn Konrad II. musste erst einmal begründen, warum die Salier die eigentlich „geborenen Könige“ seien, die „literarische Energie“ des Herrschers ging vor allem in Schriften, die sein Hofhistoriograph Wipo verfasste, um Konrads Königtum ganz als anders als das seines Vorgänger zu rechtfertigen, Konrads hatte eine karolingische Frau geheiratet und wollte sich überhaupt mehr mit Karl dem Großen identifizieren, der im Mittelalter als ideale Herrschergestalt galt.
Viel literarische Energie scheint Konrad aber ohnehin nicht gehabt zu haben, sein Vater war früh verstorben, seine Mutter hat sich kaum um ihn gekümmert, als er er mit etwa 10 Jahren einem Bischof zur Erziehung übergeben wurde, war es wohl zu spät, die Grundlagen der Bildung nachzuholen.
So konnte Konrad laut Wipo nicht einmal lesen, der (unbekannte) zeitgenössische Verfasser der Chronik von Novalese beschrieb Konrad als unwissenden, stümperhaften Menschen, der unerfahren in allen Wissenschaften sei – wenn der Herrscher so ungebildet ist, fühlt sich das Volk meist auch nicht zu literarischen Ergüssen ermutigt.
Das kulturelle Klima wird besser
Nachfolger Konrad II. wurde 1039 Heinrich III., und der wurde ganz anders erzogen als sein Vater: Konrad hat seinem Sohn eine ausgezeichnete Erziehung angedeihen lassen, zwei führende Bischöfe des Reiches und Historiograph Wipo sind als Erzieher überliefert. Bildung, Wissenschaft und Weisheit formen in dieser Erziehung die Grundzüge der Königsethik, Heinrich III. wird demgemäß in Lob- und Preisdichtungen als friedliebender Herrscher eines neuen Zeitalters der Eintracht und des Friedens gerühmt.
Die unruhigen Zeiten wurden ein wenig ruhiger, der Geruch von Bildung durchzog das Land, und dieses Klima blieb auch unter Heinrich IV. (trotz dessen Streit mit den Päpsten, der 1077 zum Gang nach Canossa und danach zu einer Zeit der Gegenkönige führte) und dessen Nachfolger Heinrich V. (1106 römisch-deutscher König und von 1111 bis 1125 römisch-deutscher Kaiser) im Grunde erhalten.
So tat sich schon ab etwa 1050 eine Menge in der „deutschen Literatur“, die ersten frühmittelhochdeutschen Reimpaarverse wurden von Geistlichen vorgelegt, die ersten Heilsgeschichten wie das Ezzolied (1065) und Legendendichtungen wie das Annolied (1077) entstehen, erzählende Literatur erklärte das Alte und das Neue Testament in der Volkssprache, in zahlreichen Mariendichtungen sollte der Dienst an der Hl. Jungfrau und Gottesmutter auch deutschsprachigen Lesern dabei helfen, die ewige Seligkeit zu erlangen.
Etwa um die Mitte des 12. Jahrhunderts begann ein entscheidender Wandel: Die Literatur wurde vielfältiger, es wurden Themen aufgegriffen, die zuvor niemals einer schriftlichen Behandlung oder Aufzeichnung für würdig befunden worden wären – und damit Schriften verfasst, die nicht nur von Geistlichen und Herrschern in der Volkssprache verordnet wurden, sondern das Volk auch wirklich interessierten.
Zugleich wurden dadurch auch die Formen dieser frühen Literatur erheblich vielfältiger: Höfische Lyrik und unterhaltende Erzählungen in deutscher Sprache entstanden, Geschichtsschreibung in deutsch und weltlich orientierte Dichtung.
Schon in den Legendendichtungen hatten die Autoren der damaligen Zeit ein bisher undenkbares Interesse am Individuum entdeckt, Lebensgeschichten wurden erstmals nicht nur symbolisch, sondern mit einer konkreten Persönlichkeit im Mittelpunkt erzählt – der deutsche Roman bekam also seinen Protagonisten (der Begriff selbst ist jedoch schon etwas älter, er stammt aus der klassischen griechischen Tragödie und bezeichnet den Darsteller der ersten Rolle).
Kaum gibt es deutsche Literatur, gibt es auch die ersten Renner
Geschichten, die sich um wirkliche Menschen und einzelne Schicksale drehten, fanden auch die Menschen im Mittelalter schon interessanter als Gesetzestexte oder erbauliche Schriften über das vorbildliche Verhalten einer Symbolfigur, die „ersten deutschen Romane“ wurden begeistert aufgenommen:
Im Alexanderlied beschrieb Pfaffe Lamprecht ca. 1150 in einprägsamen Versen das Leben und die Taten des antiken Superstars Alexander der Große. Heinrich von Veldeke übertrug um 1170 die Legende des (heiligen) Servatius in die Volkssprache, der die Bürger von Tongern vor dem Angriff der Hunnen warnen und sie so retten konnte, weil Petrus ihm in einer Erscheinung eben diesen Hunneneinfall vorhergesagt hatte.
Bei besonders spannenden Stoffen traten gleich mehrere Literaten an, um eine Fassung fürs Volk zu kreieren: Als besonders spannend galt damals z. B. die Visio Tnugdali, in der über die Visionen des lasterhaften Ritters Tnugdali berichtet wird, und darüber, wie er durch das Leben bzw. einen Engel geläutert wird.
Diese allererste „religiöse Science-Fiction-Erzählung“ wurde in (mindestens) zwei Fassungen in die Volkssprache übertragen: Irgendwann zwischen 1160 und 1190 erschuf ein unbekannter Verfasser den Niederrheinischen Tundalus, von dem heute nur Fragmente erhalten sind, wahrscheinlich 1190 brachte Priester Alber vom Kloster Windberg seinen „Tundalus“ in stattliche 2.200 mittelhochdeutsche Verse.
Die ersten deutschen Bestseller folgten auf dem Fuße: Am Regensburger Hof schrieben einige Geistlich um 1150 die erste deutsche Kaiserchronik – in unglaublichen 17.283 Versen wird hier die Geschichte des Kaisertums von Caesar bis zum gerade regierenden Konrad III. erzählt.
Dieses Werk war der Mega-Seller der damaligen Zeit und hat in rund 40 verschiedenen Fassungen bis heute überlebt, die Kaiserchronik ist damit die umfangreichste und vollständigste Schrift der frühmittelhochdeutschen Literatur, die uns heute zur Verfügung steht.
Ebenfalls ein Hit wird das Rolandslied (1170), in dem Pfaffe Konrad den Kampf Karls des Großen und seiner Anhänger gegen die spanischen Sarazenen beschreibt. Der Held Roland kommt hier zwar nicht gut weg, er stirbt den Märtyrertod, kann aber immerhin Karls dem Großen (unterstützt durch einen göttlichen Eingriff) retten.
Die erste literarische Blüte der deutschen Sprache
Diese neuen Stoffe brachten eine erste Blütezeit der deutschsprachigen Literatur hervor, in den Jahrzehnten nach 1150 entwickelten sich an einzelnen Adelshöfen wichtige literarische Zentren, die eine lebendige literarische Kultur und Praxis lebten, hier entstand die sogenannte „Höfische Literatur“.
Als noch etwas uneleganter „frühhöfischer“ Vorläufer dieser höfischen Dichtung gilt Eilhard von Oberges „Tristant und Isalde“ (um 1170), eine überaus bunt verwickelte, reich ausgeschmückte und in der Sprache eher wie mündlich erzählt klingende Geschichte, die ihre leicht unbeholfene Unmittelbarkeit vielleicht daher hat, dass sie wahrscheinlich als eine Art „Teenager-Abenteuerroman“ für den 17-jährigen Sohn Heinrichs des Löwen geschrieben wurde.
Neu und ungewohnt makellos in Reimstil und Metrik gibt sich Heinrich von Veldekes zwischen 1170 und 1188 gedichteter „Eneasroman“ – und er ist zugleich das erste Werk, das nicht nur den ritterlichen Kampf und seine Dramatik und Wertvorgaben für beschreibenswert hält, sondern den bisher im ständigen Kampfesgetümmel eher unterschätzten Wert der Minne (die in der höfischen Kultur sowohl für Feinheit im gesellschaftlichen Umgang als auch für die emotional-erotische Beziehung zwischen Mann und Frau steht) betont …
Das literarische Hochmittelalter entwickelte nach diesem wegweisenden Übergangswerk eine überaus reiche höfische Erzählkunst, oft nach französischsprachigen Vorlagen (Chrétien de Troyes) wurden viele herausragende höfische Epen in mittelhochdeutscher Sprache verfasst.
Man folgte formal eher französischsprachigen Vorlagen (Chrétien de Troyes) Man folgt in der Regel westlichen Vorbildern, orientierte sich inhaltlich jedoch eher an der angelsächsische Kultur mit dem Sagenkreis um König Artus (dem Chrétien de Troyes altfranzösischer Perceval ebenfalls entstammt).
Die klassische mittelhochdeutsche Literatur glänzt hier z. B. mit dem „Erec“ Hartmanns von Aue (zwischen 1180 und 1190 entstanden), dem ersten deutschen Artusroman, der in mittelhochdeutschen Versen erzählt wird, der gleiche Autor legt um das Jahr 1200 den „Iwein“ vor, ebenfalls ein in Versen verfasster mittelhochdeutscher Artusroman, der das Schicksal eines Ritters der Tafelrunde am Hof König Artus‘ erzählt.
Ebenfalls um 1200 griff Gottfried von Straßburg einen ebenfalls damals äußerst beliebten Stoff auf: Die Sage um Tristan und Isolde, die wirklich fast alles bietet, was eine fesselnde Erzählung enthalten kann – Abenteuer und Intrigen, Täuschungen und Wundertaten, ewige unendliche Liebe und das Scheitern derselben, wirklich ganz großes Kino.
Bis heute aktuell – Parzival und Nibelungenlied
Den Höhepunkt der mittelhochdeutschen Literatur bildet fast unumstritten der gegen 1210 vollendete Parzival des Wolfram von Eschenbach, ein Werk mit mächtigen 25.000 paarweise gereimten Versen, das in den modernen Ausgaben in 16 Bücher gegliedert wird. Der hier von Wolfram von Eschenbach in kunstvoll verzahnten Handlungssträngen erzählte Weg des Titelhelden vom Unwissenden zum Gralskönig begleitet die Deutschen sehr lange, in vielen literarischen, künstlerischen und musikalischen Bearbeitungen.
Ein anderer unserer „ewigen Bestseller“ entstand auch jetzt gerade zu Beginn des 13. Jahrhunderts, das Nibelungenlied. Diese Erzählung geht im Kern in ihren Ursprüngen bis auf die Völkerwanderung zurück, ein sogenanntes „heroisches Zeitalter“ unserer Geschichte, in dem die Vorfahren besonders „viel auf die Fresse“ bekamen und deshalb besonders viel Heroen (Helden) brauchten. Historischer Kern der Nibelungensage sind verschiedene Gemetzel während der Völkerwanderungszeit, die im späteren Werk immer bunter gemischt wurden.
Dieses Heldenepos wurde bisher mündlich weitergetragen, die bisher allein schriftgelehrten Römer hatten naturgemäß nicht ganz so viel Interesse daran, Heldentaten der Germanen aufzuschreiben, es wurde nun zum ersten Mal in der noch jungen deutschen Schriftsprache Mittelhochdeutsch niedergeschrieben.
Es unterscheidet sich daher in der Qualität etwas vom Parzifal, mit dem die Verfasser erstmals eine Art „moderne“ Erzählkultur etablieren, die Ursprünge liegen dort in fremden Kulturkreisen. Das Nibelungenlied überliefert dagegen „urdeutsche Heldentaten und erlangte wohl deshalb auch später den Status eines wichtigen Nationalepos der Deutschen.
Herausragende Werke dieser Zeit sind dann noch der Wigalois, ein zwischen 1210 und 1220 von Wirnt von Grafenberg verfasster Artusroman, und der um 1240 beendete Versroman Willehalm von Orlens von Rudolf von Ems, einem bedeutenden und gelehrten Epiker, der diese Geschichte der Kinderminne zwischen Willehalm und Amelie (einem der berühmtesten Liebespaare des Mittelalters) mit Anmut und Innigkeit zu erzählen weiß.
Endlich – Das „Zwischenmenschliche“ wird entdeckt
In dieser Zeit liegt auch die Geburtsstunde der deutschen Lyrik, mit der „Hohen Minne“, der Stilisierung der Minne zu einer idealen und platonischen Liebe, ausgedrückt durch die ritterliche Werbung um die Gunst einer Dame, entwickelte sich der Minnesang mit der Dichtung von Sangsprüchen.
Die ersten Werke dieser Spielart legte ein nicht näher ergründeter Autor (oder Autorenverband) „Der von Kürenberg“ in der Mitte des 12. Jahrhunderts vor, auch Reinmar der Alte oder Reinmar von Hagenau hat dem Minnesang bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erste Werke geschenkt.
Meister dieser Liebeslyrik des hohen Mittelalters waren Heinrich von Morungen, geboren um 1220 in Leipzig, von dem 35 Minnelieder mit 115 Strophen überliefert sind, und vor allem Walther von der Vogelweide (ca. 1170 bis 1230), der als bedeutendster deutschsprachiger Lyriker des Mittelalters angesehen wird.
Er hat 90 Minnelieder und 150 Sangsprüche hinterlassen, in denen er in kunstvoller Weise das Ideal der „ebenen Minne“ beschwört, das über die anbetende, unerfüllt bleibende Minne bereits hinausgeht: Hier wird (ganz modern) schon von einer nicht standesbezogenen, wechselseitigen und erfüllten Liebe ausgegangen, und Walther von der Vogelweide ergeht sich durchaus auch einmal in der Schilderung von Liebeserlebnissen, die in der freien Natur stattfinden.
Walther von der Vogelweide war jedoch nicht auf die „erotische Literatur“ der damaligen Zeit beschränkt, er hat auch in politischen Schriften die Reichspolitik kritisiert, die mitunter eine scharfe Sprache führten, wie der Unmutston aus dem Jahr 1213. Walther von der Vogelweide ist wohl der erste Starschreiber, der schon zu seiner Zeit als literarisches Vorbild verehrt wurde, den spätmittelalterlichen Literaten galt er bereits als Legende.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse