Die ersten „Literatur-Legenden“ der Deutschen – Rolandslied, Tristan und Isolde, Parzival, Nibelungenlied – fast nur Schilderungen von Gemetzeln
Die deutsche Literatur begann ihre Entwicklung mit Übersetzungen lateinischer Prosatexte wie Gesetzen und Vertragstexten und religiösen Verhaltensanweisungen, dieser Anfang auf dem Weg im Ausdruck in der deutschen Schriftsprache ist vielleicht der Grund dafür, warum wir heute noch die Meister im Verfassen bürokratischer Texte sind (wir Deutschen können uns der stolzen Zahl von 200 Steuergesetzen und fast 100.000 Steuerverordnungen rühmen, einsame Weltspitze).
Die Texte, die in diesen Anfängen entstanden, sind auf keinen Fall sonderlich inspirierend und wenig geeignet, Menschen zum Lesen zu bewegen, die diese Texte nicht lesen müssen – obwohl auch der normale, wissbegierige Bürger an der gerade neu im Entstehen begriffenen Schriftsprache teilhaben wollte.
Und so entstanden im hohen Mittelalter, etwa in seiner Mitte, also um die Mitte des 12. Jahrhunderts, die ersten im Volk als Legenden verehrten literarischen Texte der damaligen Welt, darunter einige „ewige Bestseller“, deren Erwähnung zumindest jedem Deutschlehrer mit Sinn für Tradition auch heute noch einen verräterischen Glanz in die Augen treibt.
Die aus heutiger Sicht aber wiederum zweifeln lassen. Wenn man sich die Themen der damaligen Star-Publikationen näher ansieht, ist man froh über jede zukünftige Fiktionswelten erfindende Erzählung, jede schwärmerische Novelle über den Alltag in einer modernen Metropole, jede satirische Kurzgeschichte über die Unbillen des Alltags und jeden Roman, der keine Kriegshändel zum Gegenstand hat, egal ob es sich um die langwierig erzählte Geschichte einer Familiendynastie oder um die kitschige Schilderung einer komplizierten Beziehung handelt.
Denn diese ersten, das Volk verzückenden „Romane“ drehten sich hauptsächlich darum, welcher Herrscher wann und wo einen anderen Herrscher so richtig niedergemacht hat, natürlich unterstützt von Horden von testosteronsprühenden jungen Männern aus dem Volk, die in diesen Händeln in Scharen ihr Leben ließen.
Immerhin führten die damaligen Herrscher die Schlachten noch selbst und höchstpersönlich und meistens auch ganz vorne an (wenn auch nicht immer), im Gegensatz zu neuzeitlichen Kriegs-Kommandeuren und Kriegs-Treibern, die gut geschützt von ihren Kommandozentralen aus das tödliche Geschehen steuern.
Lesen Sie nachfolgend eine kurze Betrachtung der ersten bis heute verklärten, aber kriegstrunkenen literarischen Hauptwerke der Deutschen, mitsamt der wohltuenden Ausnahme:
Um 1170 entsteht das berühmte Rolandslied, die erste der so dramatischen deutschen Heldensagen, die bis vor kurzer Zeit noch für viele ein Fundament der deutschen Kultur war. Der Verfasser soll ein Mann namens Pfaffe Konrad sein, sicher ist das jedoch keinesfalls, diese Autorschaft ist nur durch eine Selbstanzeige des angeblichen Verfassers belegt, und über sein Leben weiß man überhaupt nichts.
Dieser „Heldenverehrer“ beschreibt den Kampf Karls des Großen und seiner Anhänger gegen die spanischen Sarazenen. Der titelgebende, bedauernswerte Roland gehört zu diesen Anhängern, einer der ersten Sündenböcke in der Literatur, der die Missetaten seines Stiefvaters büßen muss, als das christliche Heer Karls des Großen die Muslime in Spanien angreift.
Stiefvater Genelun hat nämlich mit Muslimenkönig Marsilie einen Komplott geschmiedet, die Spanier sollten so tun, als wenn sie sich dem fremden Glauben beugen. So sollte das fränkische Reich am Ende in den Untergang gezwungen werden, Rolands Tod war mit eingeplant.
Dieser Komplott bewirkt durch Täuschung den Abzug von Karls Heer nach Aachen, nur der arme Roland bleibt als Lehnsherr in Spanien zurück.
Die Spanier denken aber in Wirklichkeit überhaupt nicht daran, den fremden Glauben zu übernehmen, das haben sie nur vorgetäuscht, um Karl loszuwerden. Nun schlagen sie zurück, Roland und seine paar Gefolgsmänner haben wenig Chancen, sie sterben allesamt den Märtyrertod.
Karl wollte helfen, kommt aber zu spät, und es gibt noch mehr Völker, die sich keinen fremden Glauben aufzwingen lassen wollen, so wird Karl vom persischen König Paligan in eine weitere Schlacht verstrickt, der dem spanischen König zu Hilfe eilt.
Karl und seine Mannen kämpfen, können durch göttlichen Eingriff sogar siegen, König Marsilie stirbt aus Trauer über das Leid seines Volks, seine Gattin Brechmunda lässt sich taufen und bewegt auch die restlichen Überlebenden Muslime zum Übertritt zum Christentum.
Rolands Frau Alda fällt tot um, als sie vom Tod ihres Mannes erfährt, Genelun wird der Prozess gemacht und anschließend gevierteilt, seine Anhänger werden enthauptet.
Der erste Krimi, könnte man sagen, und aufgeklärte Literatur-Liebhaber von heute können auch gleich einmal kräftig erschaudern bei dem Gedanken daran, dass auch fast 900 Jahre später Konflikte zwischen Muslimen und Christen das Drehbuch eines „Tatorts“ hergeben können.
Der nächste „Stoff, aus dem Legenden sind“, war nicht besser.
Um 1200 griff Gottfried von Straßburg, wahrscheinlich ein intellektueller Kleriker mit universitärer Ausbildung, einen damals äußerst beliebten Stoff auf:
Die Sage um Tristan und Isolde, die wirklich fast alles bietet, was eine fesselnde Erzählung enthalten kann. Tristan wächst als Waise auf, was wohl damals noch mehr als heute eine abenteuerliche Jugend verspricht, die sich zum Spannungsaufbau vortrefflich schildern lässt.
Endlich erreicht er den Hof seines Onkels König Marke von Cornwall, wo er diesen erst einmal im Zweikampf retten darf. Leider wird er dabei mit einem vergifteten Schwert verletzt und muss nach Irland zur Königin Isolde reisen, die das Schwert vergiftet hat und alleine in der Lage ist, die Wunde zu heilen.
Ihr stellt sich Tristan als Spielmann Tantris vor (im Zweikampf hat er nämlich ihren Bruder Morold getötet), wird geheilt und muss als Gegenleistung Isoldes Tochter Isolde erziehen.
Kaum in Cornwall zurück, darf Tristan wieder los nach Irland, denn Marke will heiraten und Tristan hat natürlich seinen Zögling Isolde empfohlen, er wird als Brautwerber losgeschickt. Brautwerben allein reicht nicht, Tristan muss als Preisgeld für Isolde einen Drachen erlegen und darf Isolde als Braut für König Marke mitnehmen.
Mutter Isolde gibt auch noch einen Minnetrank mit, damit die Tochter dem nach Hörensagen mit Pferdeohren ausgestatteten König in unauflöslicher Liebe verfällt, den trinken aber Tristan und Isolde aus Versehen – die unwandelbare Liebe erwischt die Falschen, die sich schon auf der Überfahrt heftig in der Praxis dieser Liebe üben.
Isolde geht also nicht mehr als Jungfrau in die Ehe, um das zu vertuschen, wird dem König in der Hochzeitsnacht eine unberührte Hofdame ins Bett gelegt, der merkt natürlich nichts und wird eine Zeitlang von Tristan und Isolde meisterhaft betrogen.
Irgendwann gibt es Gerüchte, König Marke fängt an zu zweifeln und entlarvt schließlich die Liebenden. Tristan wird in die Normandie verbannt, lernt dort die nächste Isolde kennen, die sich auch gleich in ihn verliebt. Tristan, der durch den Namen an seine Liebe erinnert wird, gerät in einen Gefühlskonflikt …
Gottfried von Straßburg soll gestorben sein, als er hier angelangt war, einer Erzählung ein offenes Ende zu lassen, war auch bei Star-Schriftstellern der damaligen Zeit noch nicht en vogue.
Insgesamt ein abenteuerliches Sammelsurium von Kindesvernachlässigung, Hochstapelei, Zügellosigkeit und Betrug, und eigentlich völlig unklar, warum irgend ein Mensch diesen Stoff lesen sollte.
Es folgt eine angenehme Ausnahme
Der Gedanken der Aufklärung vorwegnehmende „Parzival“ vom „liebsten Minnesänger der Deutschen“ Wolfram von Eschenbach ist literarisch absolut herausragend für das erste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts: 25.000 Paarreime in (heute) 16 Büchern, Doppelromanstruktur mit kunstvoll verzahnten Handlungssträngen, und inhaltlich von einer meisterhaften Phantasie durchdrungen.
Aber nicht nur, der „Parzival“ ist kein leichter Stoff, der zunächst alle vordergründig interessanten Probleme der damaligen literarischen Epoche angehet, Minne-Problematik, Forderungen nach Aventiure (Abenteuer), die Frage, ob ein Mensch zum Herrscher geeignet ist, durch religiöse Überzeugung verursachter Zwang zu bestimmten Handlungen – alles in einem Rahmen präsentiert, der es an teils wirklich phantastischen Verwicklungen nicht im Mindesten fehlen lässt.
Von Wolframs literarischem Gegner Gottfried von Straßburg wird der Versromanen so auch gleich einmal polemisch abwertend als „wilde maere“ (wildes Märchen) betitelt, offensichtlich gingen literarische Konkurrenten schon damals nicht unbedingt fein miteinander um.
Aber der Parzival geht viel weiter, er ist auch kritisch ironisierend, er spitzt viele Probleme für seine Zeit ganz neuartig zu, wagt neue Gedanken und ist manchmal frech bis zynisch – das ist schon ein außergewöhnliches Stück deutscher Literatur.
So beginnt Wolfram den Parzival gleich einmal mit einem Bekenntnis gegen engstirnige Intoleranz: Im Elsterngleichnis verwendet er das zweifarbige Federkleid der Elster als Analogie, um Wankelmut und treue Ergebenheit gegenüberzustellen und kommt – für damalige Verhältnisse hochgradig abgeklärt – zu dem Schluss, dass es nicht nur schwarz und weiß und gut und böse gäbe, sondern diese Werte wie das Gefieder einer Elster ineinander übergingen und je nach Einzelfall abgewogen werden müssten.
Wer alle im Parzival behandelten Themen genauer betrachtet, sieht eine Vielfalt von grundlegenden Konflikten behandelt: Leben in der Gesellschaft im Gegensatz zu gelehrter Zurückgezogenheit, wie unterschiedlich Männer und Frauen die Welt erleben, die Konflikte zwischen der höfischen Gesellschaft und der spirituellen Gemeinschaft der Gralshüter, es geht um Schuld und Sexualität, Erlösung und Heilung. Wer genau hinsieht und nachdenkt, findet all diese Probleme in der Welt von heute wieder …
Parzival ist der Held, weil er es schafft, sich von absoluter Selbstbezogenheit hin zu Empathiefähigkeit zu entwickeln, ein solcher Held ist für Wolfram von Eschenbach die eigentliche Erlösergestalt. Die ganze Figur des als Unwissenden startenden Parzivals unterscheidet sich wohltuend von den hirnbeengten, aber nicht kritisierbaren Schlag-drauf-Helden der Zeit, und dem durchaus fehlbaren Parzival wird von Wolfram (vermutlich mit spöttischem Lächeln) ganz bewusst ein nahezu vollkommener Streber an die Seite gestellt.
Parzival erlebt viel während seiner Erziehung zum Ritter und seiner Suche nach dem Gral, etliche Abenteuer und persönliche Konflikte, und er lädt immer wieder Schuld auf sich, manchmal aus Unwissen und manchmal, weil er nicht genau genug hinsieht. Der ebenfalls zur Ritterfahrt (Kreuzzug, Gralssuche) angetretene Gawan ist der untadelige Streber unter den Rittern, der seine Abenteuer immer erfolgreich besteht und nebenbei noch schnell die Schuldigen an Missständen in der Weltordnung zur Raison bringt.
Trotzdem ist es der suchende und irrende Parzival, der am Schluss die Gralsherrschaft erlangt, Wolfram gibt dem Leser hier eine Hoffnung auf den Weg, die eine Vielzahl von Schriftstellern uns heute immer noch mitgibt.
Ein anderer unserer „ewigen Bestseller“ ist weniger humanitär und feinsinnig, obwohl er zur gleichen Zeit zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstand:
Das Nibelungenlied
Diese Erzählung (Lied wurde dem mittelhochdeutschen „liet“ entnommen, das aber eher als „Strophenwerk“ oder „Epos“ zu übersetzen ist) geht im Kern in ihren Ursprüngen bis auf die Völkerwanderung zurück, ein sogenanntes „heroisches Zeitalter“ unserer Geschichte, in dem die Vorfahren besonders „viel auf die Fresse“ bekamen und deshalb besonders viel Heroen (Helden) brauchten.
Als entscheidender historischer Kern der Nibelungensage wird ein Gemetzel ums Burgunderreich im Jahr 436 angesehen, gegen die weströmische Armee unter Aetius, die Tausende Hunnen anheuerte und den arglosen Burgunden-Führer Gunthahar mitsamt dem größten Teil seines Volkes abschlachtete.
Noch viele weitere für die Germanen epochale historische Ereignisse steuerten Namen und Elemente bei, wie die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (451, läutete den Untergang des Weströmischen Reiches ein), der Tod Attilas (453, eigentlich weniger schlimm, weil in der Hochzeitsnacht) und der Tod Brunichildis (613, die Gegner der Frankenkönigin ließen sie durch ein Pferd zu Tode schleifen) und wurden im späteren Werk immer bunter gemischt.
Dieses Heldenepos wurde bisher mündlich weitergetragen, die damals alleine der Schriftsprache mächtigen Römer hatten naturgemäß nicht ganz so viel Interesse daran, Heldentaten der Germanen aufzuschreiben.
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird das Nibelungenlied nun endlich in der deutschen Schriftsprache aufgeschrieben, die blutrünstige Story wurde begeistert aufgenommen und erlangte im 19. Jahrhundert den Status eines Nationalepos der Deutschen.
Die Folgen dieses hauptsächlich in Heldenverehrungs-Epen bestehenden Anfangs der deutschen Literatur sind heute noch zu spüren, und sie machen uns heute immer mehr Kopfzerbrechen.
So ist das Rolandslied immer noch Unterrichtsgegenstand in den Schulen, inzwischen aber als Teil des Ethik-Unterrichts, in dem es als negatives Beispiel für den Aufbau eines Feindbildes zwischen Islam und Christentum seit dem Mittelalter herhält.
Auch im germanistischen Studium ist das Rolandslied noch ein Gegenstand, der allerdings unter Titeln wie „Die Satanisierung des Fremden im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad“ (Yvonne Holländer, 2002) behandelt wird – es gibt wohl doch noch Hoffnung …?
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse