Marcel Odenbach ist ein deutscher Videokünstler. Einer DER deutschen Videokünstler, zusammen mit Medienkünstler Klaus vom Bruch und der Bildhauerin, Video- und Performancekünstlerin Ulrike Rosenbach bildet Marcel Odenbach das Trio der international bekanntesten deutschen Videokünstler (das bereits seit den 1970er Jahren auch gemeinsam arbeitet).
Marcel Odenbach ist international bekannt, aber in Leben und Schaffen eng seinem Geburtsort verhaftet: Er wurde am 7. Juli 1953 in Köln geboren, lebt seitdem hauptsächlich in Köln, war lange in lehrender Professur und als Prorektor an der Kunsthochschule für Medien Köln tätig und ist gerade in illustrierter Gesellschaft von Ai Weiwei, Candida Höfer, Claes Oldenburg, Gerhard Richter, Rosemarie Trockel und vielen weiteren Künstlern mit besonderem Bezug zu Köln und zum gefeierten Museum in der Ausstellung „Wir nennen es Ludwig. Das Museum wird 40!“ des Museum Ludwig in Köln zu sehen (mehr zu den beteiligten Künstlern und zur Jubiläums-Ausstellung erfahren Sie im Kunstplaza-Artikel: „Jubiläums-Ausstellung 2016: Museum Ludwig zeigt Museum Ludwig“ und in Künstler-Einzelporträts).
Marcel Odenbach belegt in der Weltbestenliste der Kunst aktuell Platz Nr. 474. Er wird seit Jahrzehnten unter den 500 bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern geführt und hat um das Jahr 2008 ganz kräftig an Rang 300 gekratzt.
Ein vielseitig ausgebildeter Künstler und seine vielschichtige Kunst
Marcel Odenbach hat Kunst studiert, unter anderem, von 1974 bis 1979 an der Technischen Hochschule Aachen. Keine praktische Kunst, sondern Kunstgeschichte, und nicht nur Kunst, sondern auch Architektur und Semiotik.
Semiotik ist die Zeichentheorie, die Wissenschaft, die sich mit Zeichensystemen beschäftigt. Sie formt und untersucht die Wirkung von Zeichen aller Art, Bildschrift, Gestik, Formelzeichen, sprachbildende Zeichen wie Buchstaben, regelnde Zeichen wie Verkehrszeichen.
Die zahlreichen Verschwörungstheoretiker, die zur Zeit unterwegs sind, können jetzt beginnen, in Marcel Odenbachs Kunst nach versteckten Zeichen zu suchen. Aber Vorsicht, Marcel Odenbachs Kunst ist voll von Zeichen, die nicht für jeden Dödel sofort zu erkennen sind. Die weisen allerdings auf reale politische Schieflagen hin, deren anstrengender und notwendiger Bekämpfung sich die Verschwörungstheoretiker durch ihre kreative Verdrängungspraxis ja gerade entziehen wollen.
1976 gründete Marcel Odenbach mit Kommilitonen (noch im Studium) die „Produzentengruppe ATV“, von der weiter unten noch die Rede sein wird.
1978, vielleicht als kreative Pause vor dem stressreichen Studien-Abschlussjahr, hatte Odenbach ein außerordentlich produktives Jahr:
„Sich selbst bei Laune halten!“ von 1978 behandelt in 13 Sequenzen abwechselnd das Thema Spiel (Spielregeln und deren Einhaltung, Veränderung, Umstoß), dem ungeschnittene Aufnahmen von Szenen entgegengesetzt werden, in denen das politisch aufgeheizte Klima der Terroristen-Jagd im „heißen Herbst“ des Deutschlands von 1977 eingefangen wird.
Mit dem im gleichen Jahr geschaffenen „großen Mißverständnis“ erreicht Odenbach erstmals eine größere Öffentlichkeit. „Das große Mißverständnis“ ist eine ironische Performance, eine Persiflage auf die kurz vorher in Mode gekommene Kunstform der Performance, in der Odenbach als „Narr des Herrschers“ oder (kunstschaffender) Varietékünstler seine Zauberstückchen vorführt, um den an der Kunst Verdienenden und den (gleichzeitig und ebenso zur Gewinnerzielung benutzten) Kunst-Rezipienten – der eigentlichen Attraktion, das ist das „große Missverständnis“ – die Gelegenheit zu geben, sich beim Betrachten und Bewerten des Dargebotenen zu produzieren.
Das Kunstwerk wurde in Basel vorgestellt, dem neben Köln wohl wichtigsten internationalen Kunstmarkt, und es störte Odenbach damals wenig, dass er seine Kritik an „Kunst und Kunstrezeption in modernen Zeiten“ ausgerechnet durch Unterstützung einer für Förderung von Medienkunst bedeutsamen Schweizer Galerie formulieren konnte.
Woran wir uns heute wohl immer noch ein Vorbild nehmen müssen, das Geld sitzt immer bei den Protagonisten der ausbeuterischen, menschenverachtenden, umweltzerstörenden Systeme, die „zum Wohl der Welt“ bekämpft werden müssen.
Ebenfalls von 1978: „Ich glaube, ich bin mir selbst verlorengegangen“, eine auf Video festgehaltene Performance, die am Szenario „der Künstler und seine Einsamkeit im Ausstellungsbetrieb“ in ziemlich klarer Symbolik die Gefühle beschreibt, die introvertierte Künstler bei öffentlicher Vorstellung ihrer Werke durchleiden und „Wenn der Elefant zum Elfenbeinhändler wird“, eine Fotoarbeit zum „Deutschen Herbst“ des RAF-Terrorismus, in der zugleich die Bedeutung der Technik als modernes Herrschaftsinstrument kritisiert wird.
Aktuell ist das Werk „Ein Bild von einem Bild machen“ von 2016 auf der Jubiläumsausstellung des Museums Ludwig zu sehen, von dem auch nur so viel verraten werden soll, dass ein perfides Suchspiel enthalten ist, im dem nach typischer Nazi-Kunst zu fahnden ist.
In der Zeit von 1978 bis heute sind viele weitere Videos entstanden, die Ihnen zur Entdeckung überlassen bleiben. Zur Anregung der Neugier folgt eine kleine Abfolge von Titeln (die selbst schon eine Art „Titelstory“ schreibt):
Als könnten mich Erinnerungen täuschen, Das Schweigen deutscher Räume erschreckt mich, Der Konsum meiner eigenen Kritik, Die Distanz zwischen mir und meinen Verlusten, Die Unwahrheit der Vernunft oder: Habe versucht, die Problemstellung zu verschlafen, Dreihändiges Klavierkonzert für entsetzlich verstimmte Instrumente, Ein Tag am Meer, Gespräch zwischen Ost und West, Im Kreise drehen, In stillen Teichen lauern Krokodile, Männergeschichten 1, Mir hat es den Kopf verdreht, So lange der Ball rollt, Stehen, nicht Fallen, Stille Bewegungen, Traumatische Tropen, Verstörte Orte, Wein nicht, Kind, Wenn die Wand an den Tisch rückt, Zu schön um wahr zu sein …
Marcel Odenbach hat öfter erklärt, warum er (so gerne) mit dem Medium Video arbeitet:
- „Da Video drei verschiedene Elemente in sich vereinigt, a) das Bild, b) Handlungsabläufe, c) den Ton, um die Macht der Technik und des Fortschritts in der Gesellschaft aufzuzeigen.
- Da das Fernseh-Bild der heutigen Sehgewohnheit eher entspricht als das Tafelbild.
- Da das Fernsehen als Zeitvertreib mit seinem hohen Unterhaltungscharakter gesellschaftliche, also politische Veränderungen „in großem Maße“ ausgelöst hat.
- Da die Medienanalyse und -kritik ein zentrales Thema unserer Gesellschaft geworden ist.
- Da ich theoretisch einen größeren Rezipientenkreis als die Museumsbesucher ansprechen kann.
- Da meine visuelle Darstellung nicht mehr als dekorativer und repräsentativer Wandschmuck verwertet werden kann.
- Da die Kunst einen Teil ihres Charakters der Ware verliert.
- Da ich umfassendere Alternativen setzen kann!“
(zitiert aus www.medienkunstnetz.de/kuenstler/odenbach/biografie)
Nichtsdestotrotz hat er immer schon auch die von ihm in dieser Aussage disqualifizierten Tafelbilder angefertigt (womit einfach zweidimensionale Bilder gemeint sind), neben und/oder in Vorbereitung seiner Video-Arbeit.
In den USA sind es sogar vor allem diese „Tafelbilder“, die man mit dem Künstler Marcel Odenbach verbindet und die ihn bekannt gemacht haben. Bei uns ist die Tafelkunst von Marcel Odenbach noch eher so etwas wie ein Geheimtipp, der auf Entdeckung wartet, hier einige Einblicke in diesen Teil von Odenbachs künstlerischem Werk:
- 1975: „Wenn das so weiter geht“ …aus: Spruch des Monats, Bleistift und Buntstift auf Papier, dreiteilig
- 1977: „Sich selbst bei Laune halten“, Collage und Konzept für die Videoarbeit gleichen Titels, Bleistift, Farbstift, Tinte auf Papier, dreiteilig
- 2004: „Zugezogen“, Collage, Tinte auf Papier
- 2005: Marcel Odenbach, „20. März 2003“, Collage, Fotokopie und Pappe auf Papier, Tinte, Bleistift
- 2006: Marcel Odenbach, „Tageslicht“, Collage, Foto und Gouache auf Papier
- 2010: Marcel Odenbach, „Probeliegen“, Collage, Tinte und Bleistift auf Papier
- 2012: Marcel Odenbach, „Sitzfleisch“, Collage, Fotokopie und Pappe auf Papier, Tinte, Bleistift
- 2013: „Abgelegt und Aufgehangen“, Collage, Tinte auf Papier
Marcel Odenbach: Öffentliches Leben, Ausstellungen, Auszeichnungen
Seit 1992 hat Odenbach als Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und der Kunsthochschule für Medien Köln gelehrt, in Köln war er außerdem eine Zeit lang Prorektor der Kunsthochschule.
Zum Sommersemester 2010 wurde Odenbach zum ordentlichen Professor an die Kunstakademie Düsseldorf berufen, seitdem lehrt er dort Film und Video.
Ebenfalls 2010 wurde er in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste gewählt.
Marcel Odenbach Kunst war in der Vergangenheit in rund 300 Ausstellungen zu sehen, 50 Einzelausstellungen und 250 Gruppenausstellungen in allen bedeutenden Ausstellungsorten und -stätten der zeitgenössischen Kunst.
Mit MoMA New York und Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart Berlin, Kunst- und Ausstellungshalle der BRD Bonn und Kunstraum Düsseldorf, De Appel Centre for Contemporary Art Amsterdam und Badischer Kunstverein Karlsruhe, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía Madrid und Musée d´art contemporain Montréal, Centre Pompidou Paris und Folkwang-Museum Essen, Akademie der Künste Berlin und Latvian National Museum of Arts Riga, Museum of Contemporary Art Kraków und Moscow museum of modern art, Sharjah Art Foundation und South African National Gallery Cape Town, Para/Site Art Space Hong Kong und Museum of Contemporary Art Sydney und dem Taipei Fine Arts Museum. Ob schon einmal ein Mensch nur deshalb Künstler geworden ist, weil er so gerne durch die Welt reist?
Mit der 41. Biennale von Venedig 1984, der 18° Bienal de Sao Paulo 1985, der 19° Bienal de Sao Paulo und documenta 8 Kassel 1987, der 25° Bienal de São Paulo 2002, 8th International İstanbul Biennial 2003 und International Biennial Göteborg 2005. Ob irgendwann jeder Ort mit mehr als 10.000 Einwohnern seine eigene Biennale (Triennale, Quadriennale, Quintessenziale) hat?
Kunst von Marcel Odenbach ist in folgenden öffentlichen Sammlungen zu besichtigen:
- Deutschland: Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart Berlin, Kunstmuseum Bonn, Kolumba und Museum Ludwig Köln, Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, Museum für Moderne Kunst Frankfurt/Main, Hamburger Kunsthalle, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Kunsthalle zu Kiel, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, Pinakothek der Moderne München
- Frankreich: FRAC des Pays de la Loire Carquefou, Centre Pompidou Paris
- Italien: Collezione Maramotti, Reggio Emilia
- Kanada: Musée des beaux-arts du Canada, Ottawa, ON
- Liechtenstein: Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz
- Ungarn: Ludwig Museum Museum of Contemporary Art, Budapest
Die Collage „Zugezogen“ von 2004 wurde in die offizielle Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen.
Legendäre Geschichten um Marcel Odenbach
Keine Skandale zu holen, Marcel Odenbach lebt und arbeitet einfach. Bezeichnend für seine angenehm lakonische Art ist folgende kleine Sentenz aus dem Kunst-Talk „sieben Jahre später“ zur Ausstellung „Politischer Populismus“ in der Kunsthalle Wien:
Interviewerin: „Die Arbeiten ähm in der Ausstellung Politischer Populismus ähm hast du ja mehr oder weniger selber ausgesucht, also sozusagen zu diesem Thema zusammengetragen. Ich find hochspannend ähm, es gibt eine Serie mit dem prägnanten Titel ähm ‚Deutsches Symbol‘ und zwei der deutschen Symbole sind Volkswagen und die Deutsche Bank, die ja gerade in diesem Jahr wieder zu unrühmlicher internationaler Bekanntheit erlangt sind über eben Skandale sozusagen auch so das das das Wesen ähm des sozusagen deutschen Erfolgs- äh äh Industrieunternehmens oder auch des deutschen Bankkonzerns ähm nachhaltig in Frage gestellt worden ist, aber eigentlich ähm sind diese Arbeiten ähm ja doch auch so aus ’nem andern Kontext entstanden – warum hast du gerade das deutsche Symbol für den politischen Populismus ausgewählt?“
Marcel Odenbach: „Das ist überinterpretiert, ich hab‘ natürlich das genommen, was es gab …“ (verkürzt rein inhaltlich wiedergegeben, tatsächlich hat sich Odenbach dem Sprachstil der Interviewerin angepasst und noch mehr geantwortet, anzuhören/-sehen in nachfolgendem Video).
Marcel Odenbachs Werk und die Zukunft
Marcel Odenbach hat noch vor Vollendung seines vierten Lebensjahrzehnts begonnen, sein Wissen weiterzugeben, als Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, der Kunsthochschule für Medien Köln und der Kunstakademie Düsseldorf.
Als ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste ist er seit 2010 außerdem Teil einer Gelehrtengesellschaft, die die Landesregierung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Bereich Wissenschaft und Kunst berät, wobei die Akademie-Mitglieder vor allem im Bereich Anregung und Förderung neuer Forschungsvorhaben gehört werden.
Weiter pflegen die Mitglieder der sieben deutschen Länder-Akademien einen regen wissenschaftlichen Gedankenaustausch untereinander und mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen im Inland oder Ausland, unterstützen den wissenschaftlichen Nachwuchs und gestalten die regelmäßigen öffentlichen Veranstaltungen der Akademien mit.
Wie Marcel Odenbach es immer geliebt hat, brisante gesellschaftspolitische Fragen mit einer scheinbar banalen Thematik zu verbinden, nutzt er heute den Rahmen „schöne Kunst“ zu politischem Engagement.
So 2008 im Künstlergespräch mit Werner Gephart und Stephan Berg im Kunstmuseum Bonn (es geht um das „Recht im Bild“, siehe folgendes Video Nr. 1, Vertiefung vor den Werken Odenbachs -> Video Nr. 2) oder im Kunst-Talk „sieben Jahre später“ von 2015 zur Ausstellung Politischer Populismus in der Kunsthalle Wien (06.11.2015 bis 07.02.2016, Kunst-Talk auf Youtube: siehe Video weiter oben).
Video Nr. 1 – „Recht im Bild“
Seine Kunst ist nie laut und grob, sondern beleuchtet ganz fein gewoben den Nachklang des Nationalsozialismus in die Gegenwart und andere unhaltbare Zustände. Wache Kunst-Fans werden die von Odenbach und (momentan zu wenigen) weiteren zeitgenössischen Künstlern repräsentierte politische Seite der modernen Kunst auch zukünftig mit Interesse verfolgen; Anlässe zu politischem Engagement hat unsere Zeit wirklich genug zu bieten.
Spannend könnte eine sehr frühe Odenbach-Idee im Zusammenhang mit der gerade zur Entscheidung anstehenden Frage nach der Zukunft unseres Fernsehens werden: Bereits während seiner mehrere Studiengänge umfassenden Ausbildung zum Künstler gründete Marcel Odenbach mit den Kommilitonen Klaus vom Bruch und Ulrike Rosenbach 1976 die „Produzentengruppe ATV“.
ATV steht für Alternativ TV, es handelt sich um den ersten TV-Piratensender mit Sitz in Köln.
Odenbach, Rosenbach und vom Bruch starteten damit vor vier Jahrzehnten genau die private Form der Publikation, die gerade die gesamte Medienlandschaft durcheinander bringt. Die damals noch kaum vorstellbare Utopie des Künstler-Trios war darauf gerichtet, dass nicht zur Ausstrahlung von Information besonders berufene Angehörige der Medienbranche das Programm machen und aussenden, sondern dass der ganz normale Bürger (ihn interessierende) Informationen aussendet, während er zugleich die potenziellen Empfänger dieser Informationen repräsentiert.
„Wir machen unser eigenes Fernsehen“, war der Slogan, zur damaligen Zeit eine Provokation: In gesellschaftsrelevanter Zahl in Haushalten verbreitete Fernsehapparate gab es erst seit rund einem Jahrzehnten, die Farbe war erst vor einigen Jahren über den Bildschirm gehuscht; für „Otto Normalbürger“ waren die Fernsehmacher Autoritätspersonen, die ausgewählte und didaktisch aufbereitete Teilstücke ihres Herrschaftswissens an die Bevölkerung weitergaben. Unerhört, dass ein paar junge Künstler glaubten, Fernsehen selbst machen zu können.
Heute ist fast nichts mehr unerhört und visuelle Botschaften von Bürgern an Bürger sind an der Tagesordnung. Aus dem „Herrschaftswissen“ ist über Internet verfügbares „Wissen für alle Bürger“ geworden, ohne dass die wissenden Herrschaften allen Bürgern verraten hätten, wie man überprüft, ob eine Quelle Wissen oder Lügen enthält. Dazu nachfolgend ein Ausschnitt aus der TV-Talkshow „Maischberger“ zum Thema „Lügenpresse“, in der sich Pegida-Anhänger und AfD-Mitglied Joachim Radke äußert:
„Wir haben aus meiner Sicht diese Gleichschaltung damals erlebt, bei aktuelle Kamera, 1+2. Programm Ost-Fernsehen, Radioprogramme, sämtliche Printmedien – alles gleichgeschaltet. Nicht so krass wie es heute ist, muss ich natürlich sagen, man muss immer differenzieren, und man hat dankbar aufgenommen, dass man die Möglichkeit hatte, die Fernbedienung umzuschalten und auf ARD und ZDF sich die Gegenmeinung zu holen – Herr Lobo, Moment – ich habe mir aus beiden eine neutrale Meinung gebildet.
Ich habe nicht unvoreingenommen den West-Medien geglaubt und schon gar nicht den Ost-Medien. Und genauso, Herr Lobo, mache ich das heute auch, das heißt: Ich werde nach wie vor ARD und ZDF und auch private Sender, die auch mal sehr gute Sachen bringen, was politische Dinge angeht, werde ich mir anhören, ansehen, für mich werten, werde aber auch gleichzeitig ins Netz gehen, ob es Tichys Einblick ist, ob es achgut ist, ob es junge Freiheit ist, ob es jung und naiv ist, es gibt da viele Beispiele, wo man sich praktisch alternativ informieren kann.
Das Wichtige ist, dass man weder den einen noch den anderen unhinterfragt alles glaubt, sondern für sich selber persönlich aus den Erlebnissen die man hat und die man praktisch …“
der Rest des Satzes geht in allgemeinem Gemurmel unter.
Sandra Maischberger greift moderierend ein: „… es hängt eben noch, und das muss ich jetzt schon noch mal aufgreifen, dieses „Gleichgeschaltete“, das ist ein großer Vorwurf auch von Ihrer Seite und das zweite ist eben“ … schneidet weiteres Themen an, Journalist Ulrich Wickert äußert sich zu einem dieser Themen.
Sobald er zu Wort kommt, fragt Blogger und Social-Media-Experte Sascha Lobo: „Haben Sie hier ernsthaft gerade im deutschen Fernsehen behauptet, die Gleichschaltung heute sei krasser gewesen als in der DDR?“
Radke: „Da haben sie nicht zugehört, ich habe gesagt, es ist nicht so schlimm wie es damals in der DDR war.“
Lobo: „Dann habe ich das ja als Frage richtig formuliert, aber trotzdem würde ich sie wirklich bitten, nochmal einfach auf Wikipedia – Sie sind ja ein großer Fan des Internet – nachzulesen, was Gleichschaltung wirklich bedeutet, und dieses Wort, das im Nationalsozialismus geprägt worden ist, eine Idee bedächtiger zu verwenden und vielleicht nicht so mit dem Salzstreuer; ebenso wie Lügenpresse, das kann man genauso sagen.
Fangen sie doch mal an zu begreifen, dass sie hier vor einem Millionenpublikum sitzen und ernsthaft die Geschichte erzählen, dass diese Gleichschaltung Ihre Meinung unterdrückt. Fangen sie doch mal an zu merken, was das für eine Widersinnigkeit in sich darstellt – kann doch nicht sein, dass Sie das nicht begreifen …“
Radke: „Vielleicht sollten Sie mal merken, dass sie sich permanent versuchen, intellektuell zu überhöhen.“
Mit dem Rest der zitierten Sendung anzusehen auf Youtube (Video wurde mittlerweile leider entfernt), in den Kommentaren bekam Joachim Radke viel Beifall, während Sascha Lobo mit Beleidigungen überschüttet wurde.
Tschuldigung, aber Radke hat gesagt, dass die Gleichschaltung im DDR-Fernsehen „nicht so krass“ war, „wie es heute ist“, wie der obigen wörtlichen Sprachabschrift zu entnehmen ist und neben Lobo auch von Maischberger genau so verstanden wurde.
Das Wort Gleichschaltung bezeichnet die erste Phase der Machtergreifung der Nationalsozialisten, den 1933 eingeleiteten Prozess der Vereinheitlichung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Lebens, die erste Phase der Abschaffung der Demokratie.
Wer öffentlich behauptet, die in einer Demokratie arbeitenden Medien seien gleichgeschaltet, behauptet damit bei korrekter Interpretation nach historisch verbürgtem Begriffsinhalt, dass die Arbeit dieser Medien nicht im Einklang mit der demokratischen Grundordnung stehe, dass sie zum Ziel habe, die Demokratie abzuschaffen.
Das wiederum ist ein direkter Angriff auf diese Demokratie, in der eben diese Medien im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung demokratische Aufgaben wahrnehmen; demokratisch gesinnte Bürger haben vollkommen zu Recht größte Schwierigkeiten mit solchen Äußerungen.
Als „Lügenpresse“ wurden im deutschen Sprachraum schon immer gerne Medien angegriffen, die eine andere Meinung als die eigene vertraten.
Die Nazis diffamierten erst alle als „Lügenpresse“, die noch den Mut hatten, gegen antisemitische Verschwörungstheorien anzuschreiben; als die Gegner des Unrechts-Regimes dann erfolgreich „gleichgeschaltet“ (ermordet, aus dem Land gejagt, durch Haft und andere Pressalien mundtotgemacht) waren, wurden die Medien der späteren Kriegsgegner als „Lügenpresse“ geschmäht – dieses Wort wollen demokratisch verhaftete Bürger heute auch nicht mehr hören.
Tichys Einblick ist ein (Online-)Monatsmagazin des ehemaligen Helmut-Kohl-Mitarbeiters Roland Tichy, der nach Meinung von Fachleuten (die Politik studiert haben und sich nach dem Studium ein paar Jahrzehnte lang an jedem ihrer Arbeitstage mindestens 8 Stunden mit Politik beschäftigt haben) seit dieser Zeit ziemlich weit nach rechts (ab-)gedriftet ist.
Diese Einschätzung lässt die Eignung dieser Publikation zur Bildung einer neutralen Meinung fraglich erscheinen. Außerdem wird der als Busfahrer bei den Berliner Verkehrsbetrieben beschäftigte Radke dieses Magazin bald ohnehin nicht mehr lesen: Bis zur Sendung Maischberger war ihm entgangen, dass der „Einblick“ als Meinungs- und Monatsmagazin für die liberal-konservative Elite antritt, also die von Radke bekämpften Subjekte adressiert.
Die überregionale Wochenzeitung „Junge Freiheit“ wurde von Politikwissenschaftlern untersucht und als „Sprachrohr der Neuen Rechten“ dem „Grenzbereich zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus“ zugeordnet; „neutrale Meinung“ gibt es hier auch nicht.
achgut.com führt zur „Achse des Guten“, ebenfalls eine Meinungsplattform für politische Außenseiter, die mit ihrer Nähe zur Schweizer Weltwoche sicher mehr rechts als links von der Mitte einzuordnen ist.
Jung und Naiv heißt mit vollem Titel „Jung & Naiv – Politik für Desinteressierte“ und ist eine regelmäßig ausgestrahlte politische Interview-Sendung. Journalist und Betreiber Tilo Jung wünscht sich von Politikern Antworten, die auch 14-Jährige verstehen würden (www.selbstdarstellungssucht.de/2013/10/09/tilo-jung), Fremdwörter dürfen nicht benutzt werden, Fachbegriffe müssen von Grund auf erklärt werden.
Das klingt danach, als wenn die Interviews hervorragende Informationsquellen für Bürger wären, die aufgrund ihrer Erziehung in einer Diktatur noch heute Schwierigkeiten haben, die Grundpfeiler der demokratischen Ordnung zu begreifen. Tatsächlich sind sie das nicht, weil das experimentelle Konzept auf jegliche politische Orientierung verzichtet und damit genau jenes in langen Schuljahren erworbene gesicherte Demokratiewissen und -verständnis voraussetzt, das Herr Radke sich durch seine Informationsarbeit offensichtlich erst noch aneignen muss.
Dass es sich so verhält, beweist Radke selbst durch Angabe seiner Quellen: ARD und ZDF, drei Quellen vom rechten Rand des Spektrums und eine „experimentelle Erklärbär-Seite“ sind keine geeignete Grundlage, um sich eine „neutrale Meinung“ zu bilden.
Bei allem Respekt vor der abweichenden Meinung von Mitbürgern (und aller Sympathie des typischen Berliners für „seine“ Berliner Busfahrer) obliegt jedem demokratisch denkenden Bürger in einer Demokratie die Aufgabe, Menschen wie Herrn Radke unintellektuell und überhöht auf diese Tatsache hinzuweisen.
Zurück zum gesamten inhaltlichen Angebot des Mediums Fernsehen und zum Fernsehkonsum (abgesehen von Talkshows zu gesellschaftspolitischen Themen, abseits vom eigenen Piratensender), zu denen sich Marcel Odenbach bereits in der Arbeit „Der Konsum meiner eigenen Kritik“, 1976 – 1979 geäußert hat.
Zu dieser Arbeit und seiner Kritik am Konsum erläuterte Odenbach: „[In meiner Arbeit] geht es mir um die Konservierung der passiven Konsumentenhaltung beim Fernsehen … Fernsehen … bedingt passives Konsumieren, da die Einschaltquote entscheidend für die Programmgestaltung ist. Zeit und Möglichkeiten, eine Alternative dagegenzusetzen, werden vertan durch kommerzielle Unterhaltungssendungen … Dem Konsumenten ist es nur sehr schwer möglich, auf Grund der narkotisierenden Wirkung der Medien, seinen Konsum zu erkennen“ (verkürzt zitiert aus: www.medienkunstnetz.de/werke/der-konsum-meiner-eigenen-kritik).
Das war 1976, seitdem hat das passive Konsumieren vor dem Fernseher das Durchschnittsgewicht in der Bevölkerung nach oben getrieben; in den USA entstand ein spezieller Handel für überdimensionierte recliner (Fernsehsessel), in die Extremfälle wie dieser: kurzelinks.de/qmsq aber auch nicht mehr reinpassen.
Das zu konsumierende Programm hat für kritische Beobachter seit damals eher Qualitätsrückschritte gemacht, einen kleinen Höhepunkt der Entwicklung hin zum immer blöderen Fernsehen war der 30.09.2016, an dem Eins Plus und ZDF Kultur abgeschaltet wurden.
Eins Plus war der „Jugendsender“, der neben eher peinlichen Magazinen und Serien Konzerte, Shows, Comedy, Filme, Ratgeber, Wissen und Informationen auf den Schirm brachte und damit auch für jeden älteren Menschen mit Interesse an der Entwicklung unserer Welt interessant war.
ZDFkultur deckte die Bereiche Musik, Darstellende Künste, Filmkultur, Netzkultur und Gaming ab; beide Sender nahmen zusammen mit den dritten Programmen einen guten Prozentteil dessen ein, was einem noch nicht frühverblödeten Konsumenten unter die Fernbedienung kam.
Eins Plus wird ersetzt durch „One“, laut one.ard.de/wir_sind_one.jsp „Eins für Euch, Das Schönste, was Fernsehen zu bieten hat“.
Das Schönste wird einzeln vorgestellt: Eine amerikanische Late-Night-Show, eine Krimiserie mit einer 1920er-Jahre-Privatdetektivin, „Doctor Who“ (von 1963), Tatort-Wiederholungen, die britische Sketch-Show „Little Britain“ und die durchgeknallte Krankenhausserie „Nurse Jackie“ (die von den mit am meisten auf Fernsehen angewiesenen Krankenhauspatienten weggeschaltet wird, weil sie zu sehr daran erinnert, wie durchgeknallt es in vielen deutschen Krankenhäusern zur Zeit tatsächlich abgeht).
Da sind heiße Sendungen dabei, aber wenn das das Schönste ist, was die bisher berufenen Fernsehenmacher zustande bringen, wird es Zeit für deren Abgang.
Auch der Genuss von „funk“ könnte eine solche Diagnose nahelegen. Das Programmangebot des „nicht-linearen digitalen Inhaltenetzwerks“ (Zitat Produzent), das ZDFkultur ersetzt, wird als A-Z-Liste von Sendetiteln wiedergegeben: Auf einen Kaffee mit Moritz Neumeier (muss man den kennen?), Auf Klo (gehe ich alleine), B.A. (aka Barış, falls das weiterhilft), Bohemian Browser Ballett, Bongo Boulevard, Datteltäter, Die Frage, Fang an zu leben, Fickt euch! (Ihr euch auch!), Finalclash, frei.willig.weg (sofort), funk life, Game Two, Germania, Gute Arbeit Originals, Guten Morgen, Internet! (flötet sie jeden Morgen), Headlinez, hochkant (unbrauchbar die Sendung?), iam.serafina, Jäger & Sammler (jetzt wirds helle: Wir sind wieder soweit), Janas Diary, Junggesellen, Kliemannsland, Kostas Kind, LiDiRo, Living the healthy Choice (‚Ernährungsberatung hätt‘ auch echt ungeil geklungen‘), Offen un‘ ehrlich (Na klar), Pop Date, Schönschlau, StarStarSpace, Superpolypsycholum, Tatort – Die Show (hat sich als Gähner erwiesen), Team Playground, Tourettikette, Was mit Fabian (und wen interessiert das), Wishlist, World of Wolfram (trockne oder feuchte?), Wumms!, Y-Kollektiv, 1080 Nerd Scope.
Marcel Odenbach hat schon mit seinem Piratensender „anderes Fernsehen gemacht“ und 1989 beim ersten wirklichen Versuch alternativer Programmentwicklung mitgemischt: Dem Kunstkanal/Art Channel von RTL plus, das erste Mal „machten Künstler Fernsehen“ mit erwähnenswerter Reichweite, um 50 Künstler bestückten eine Woche Sendezeit, während der eine Zuschauerzahl von 2 Millionen erreicht wurde.
Was sich nach nichts anhört, wird schnell zum sensationellen Erfolg: Man braucht sich nur vor Augen zu führen, dass es sich bei allen 2 Millionen Zuschauern um Menschen gehandelt haben muss, die Fernsehen bei missfallendem Programmangebot nicht ausschalten, sondern zappen, und die beim Zappen rein zufällig auf diesen Kunstkanal gestoßen sind; beim Stammpublikum von RTL plus dürfte davon auszugehen sein, dass es Kunst als „intellektuelle Überhöhung“ ablehnt (man kann auch noch etliche Prozent Kunstfreunde dazurechnen, die bei Anblick der berückenden grafischen Kunst der „Klinke“ sofort weggeschaltet haben).
Weil das Kunstprogramm bei diesem Sender nichts werden konnte, blieb es bis jetzt dabei, dass Bildende Künstler den „öffentlichen Raum“ Fernsehen nur in den raren Minuten mitgestalten, in denen ihre Kunst vorgestellt wird.
Momentan ist im Fernsehen bis auf Ausnahmen ein eher geringes Niveau zu verzeichnen, welches sich logisch aus der Erfolgsmessung über die Einschaltquote ergibt – was bei niemandem mehr aneckt, ist eben meist „gleichgeschalteter Mist“. Es gibt Mord, Mord und nochmal Mord in fast allen Programmen zur besten Sendezeit, tausendfache Wiederholungen der immer gleichen Filmklassiker und Serien und neuerdings zunehmende Belästigung durch gefakte „Dokus“, die in ihrer Blödheit menschenverachtende Regionen erreichen …
Wahrscheinlich wäre es die Chance des Fernsehens, in Erfüllung seines Grundversorgungsauftrags „im Interesse von Informationsfreiheit und Demokratie ein vielfältiges, umfassendes und ausgewogenes mediales Angebot zu sichern“ (Programmauftrag, § 11 Abs. 2 und 3 Rundfunkstaatsvertrag) zu einem wirklichen Abbild der Gesellschaft zu werden: Bildende Künstler – und andere Künstler, und ganz viele andere gesellschaftliche Gruppierungen – werden befähigt, innerhalb eines Katalogs demokratischer, menschenrechtlicher usw. (demokratisch zu erstellenden) Vorgaben selbstverantwortlich Fernsehsendungen zu gestalten, die sich sich lediglich an einer Art fernsehrechtlicher 5-Prozent-Hürde (natürlich mit viel weniger Prozenten, weil es viel mehr gesellschaftlich relevante Einzelthemen als Parteien gibt) messen lassen müssen.
Marcel Odenbach, kurze Kurzbiografie
- 7. Juli 1953 Marcel Odenbach wird in Köln geboren
- 1974 bis 1979 Studium, Architektur, Kunstgeschichte und Semiotik, Technische Hochschule Aachen, Abschluss Dipl.-Ing.
- 1976 Gründung der Produzentengruppe ATV mit Ulrike Rosenbach und Klaus vom Bruch
- 1976 bis heute Kunstschaffen, Videos in Performances, Installationen und Tapes und zweidimensionale Bilder
- 1992 Beginn der Lehrtätigkeit als Professor, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe + Kunsthochschule für Medien Köln (auch Prorektor)
- 2010 Ordentliche Professur für Film und Video an der Kunstakademie Düsseldorf
- 2010 Wahl in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste
- Marcel Odenbach lebt hauptsächlich in Köln Ostheim und Ghana und hat außerdem eine Wohnung in Berlin.
Passionierte Autorin mit regem Kunstinteresse